# taz.de -- Buch eines Protest-Bürgers: Herr Ehrholdt empört sich | |
> Andreas Ehrholdt hat 2004 die Hartz-IV-Demos in Magdeburg ins Leben | |
> gerufen und wurde zur Symbolfigur der politischen Unzufriedenheit. Jetzt | |
> hat er ein Buch geschrieben. | |
Bild: Hartz IV-Demo in Berlin: Dass Demonstranten weggeblieben sind, habe daran… | |
Andreas Ehrholdt ist in der DDR Transportarbeiter bei der Deutschen | |
Reichsbahn, im Sommer 1989 gelangt er über die westdeutsche Botschaft in | |
Budapest in die Bundesrepublik, zwei Monate nach dem Mauerfall treibt ihn | |
die Sehnsucht zurück in sein Heimatdorf Woltersdorf bei Magdeburg. | |
Enttäuschungen gehören zu seinem Leben wie der Dom zu Magdeburg. Für die | |
einen ist er ein Wichtigtuer und Versager. Für die anderen ist er ein | |
Spinner. Wer er wirklich ist, weiß er manchmal selbst nicht so genau. Eine | |
typische Nachwende-Arbeitskarriere beginnt. Er ist arbeitslos, bricht eine | |
Umschulung zum Versicherungskaufmann ab, geht zu einem | |
Sicherheitsunternehmen, ist wieder arbeitslos, reißt bei einer ABM-Stelle | |
überirdische Heiztrassen ab, ein Unfall macht schwere körperliche Arbeit | |
unmöglich, er schult um zum Bürokaufmann, findet keine Arbeit, versucht, | |
sich als Finanzberater und Journalist selbständig zu machen - bis Hartz IV | |
wie ein Damoklesschwert über ihm schwebt. Da hat er die Schnauze voll. | |
Ehrholdt sagt der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe den | |
Kampf an und klebt 200 Plakate in der Magdeburger Innenstadt - "Schluss mit | |
Hartz IV - heute ihr, morgen wir". Dann erfüllt sich ein Traum: 600 | |
Menschen kommen zu seiner ersten Demonstration. Eine Woche später sind es | |
6.000, wiederum sieben Tage später folgen ihm 12.000. Jeden Montag | |
demonstrieren bundesweit bis zu 100.000 Menschen und skandieren "Nieder mit | |
Hartz IV" und "Wir sind das Volk". Aus dem arbeitslosen Ehrholdt wird "der | |
Held von Magdeburg", eine "Symbolfigur der politischen Unzufriedenheit". | |
Fernsehsender, Radiostationen, Zeitungsredaktionen berichten über ihn. Doch | |
so plötzlich wie der Aufruhr da war, so plötzlich ist er wieder | |
verschwunden. Das war im Sommer 2004. Jetzt ist Andreas Ehrholdt zurück - | |
als Autor. | |
"Ihr habt euch selbst verraten", lautet der Titel des Buches, das der | |
49-Jährige geschrieben hat. Erschienen ist es im Novum Verlag aus | |
Österreich. Auf der Buchmesse in Leipzig stand es im Regal inmitten anderer | |
"Neuautoren". Deshalb ist Ehrholdt nach Leipzig gekommen. Es ist einer | |
dieser Verlage, in dem jeder publizieren kann - wenn er nur die Druckkosten | |
bezahlt. Ehrholdt, der unter einer Herzschwäche und Autoimmunkrankheit | |
leidet, lebt von 549 Euro Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er ist froh, | |
dass ihm der Verlag eine Ratenzahlung eingeräumt hat. "Was geht schon ohne | |
Risiko?", fragt er und lacht. Wenn der 1,80 Meter große Mann lacht, geht | |
seine Stimme nach oben und klingt spitz. Obwohl er Schulden hat, ist er | |
überzeugt, dass sich die Sache am Ende rechnet. Als er das erste Exemplar | |
in der Hand hielt, hat er einen Luftsprung gemacht - soweit das geht mit | |
einem Krückstock. Seit einem Schlaganfall braucht er die Gehhilfe. Das zu | |
weite weinrote Sweatshirt unter dem schwarzen Jackett und die spitze Nase | |
zeugen davon, dass er vierzig Kilo abgenommen hat. Selbst krank, hat er | |
seinen Vater bis zu dessen Tod gepflegt. Auch die Mutter ist ein | |
Pflegefall. Alleine hätte es Ehrholdt kaum nach Leipzig geschafft. Sein | |
Freund Michael Gatzke, der als Mitautor auf dem Cover steht, weil er ihn | |
unterstützt und motiviert, hat ihn mit dem Auto gefahren. Er trägt einen | |
Bücherstapel hinter ihm her und wirkt wie ein fürsorglicher Assistent. "Ich | |
kämpfe mich durch", sagt Ehrholdt und zückt eine Visitenkarte. | |
"Antikapitalisti" steht darauf. Das Wort gefällt ihm, es soll ein Gag sein. | |
"Der Ehrholdt macht manchmal was, was nicht verständlich ist", sagt er | |
kokett. Andreas Ehrholdt ist genauso wenig ein Schriftsteller, wie er ein | |
sachsen-anhaltinischer Stéphane Hessel ist, der mit seiner Streitschrift | |
"Empört euch!" zum friedlichen Widerstand gegen die Unzulänglichkeiten | |
unserer Gesellschaft aufruft. Ehrholdt will erklären, warum er wann was | |
getan hat. Er will sich bei denen bedanken, die ihn unterstützt haben. Er | |
will seine Vorstellungen einer gerechteren Welt darlegen. Und: Er will "das | |
Wesen Ehrholdt" ergründen, wie er es nennt. Wer ist nun dieser Ehrholdt? | |
Ehrholdt überlegt eine Weile. "Keine leicht zu verstehende Person", sagt er | |
schließlich und lacht sein spitzes Lachen. In seinem Buch heißt es: | |
"Erholdt ist vielleicht ein Unikum, aber eines mit Gewissen." Sein Freund | |
Gatzke sagt: "Wenn man ihn kennt, ist er einer, auf den man sich tausend | |
Prozent verlassen kann." | |
Ehrholdt schreibt in seinem Buch, dass der 26. Juli 2004, die erste | |
Demonstration, einer der wichtigsten Tage in seinem Leben war. "Auf diesen | |
Plakaten stand auch mein Name, der bisher mit Schmach bedeckt war. Ein | |
Spinner, ein Träumer, ein Versager hieß es bei denen, die mich kennen und | |
doch nicht kennen, schließlich brachte ich nie etwas zu Ende." Heute sagt | |
er, dass er damals seine Ziele besser hätte definieren und autoritärer | |
hätte auftreten müssen, als er zwischen die Mühlen linker, rechter und | |
anderer Gruppen geriet, die auf den Hartz-IV-Zug aufspringen wollten. Dass | |
die Demonstranten weggeblieben sind, habe daran gelegen, dass sie "auf | |
Futtersuche gegangen sind", kein Geld für die Zugfahrten zu den Demos | |
gehabt hätten. In seinem Buch lässt er seine Projekte - vor und nach den | |
Hartz-IV-Protesten - Revue passieren. Aus einem ehemals sozialistischen | |
Großbetrieb in Magdeburg wollte er ein Ausbildungsinstitut für Jugendliche | |
machen. Zur Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen wollte er einen | |
Verein gründen. In seiner Heimatgemeinde wollte er ein Klärwerk errichten, | |
um ein preiswertes Abwassersystem hinzukriegen. Auf der Domplatte in | |
Magdeburg hielt er eine Mahnwache ab. Er marschierte mit einem Handwagen | |
nach Berlin. Übermüdet und mit Blasen an den Füßen erreichte er die | |
Hauptstadt. Doch das interessierte kaum noch ein Schwein. | |
Erholdt ist einer, der nur schwer einen Rahmen findet für seine Ideen. Aus | |
der SED ist er geflogen, weil er die Arbeitsbedingungen bei der Bahn | |
kritisiert und mit einem Ausreiseantrag gedroht hatte, den er später auch | |
stellte. Die CDU verließ er, weil er bei Frau Merkel keine | |
Gestaltungsmöglichkeiten sah. Auf der Liste der Deutschen | |
Mittelstandspartei kandidierte er für den Landtag und stieg kurz vor der | |
Wahl aus. Dann wollte er eine eigene Partei gründen, "Freie Bürger für | |
soziale Gerechtigkeit", und in den Bundestag einziehen. Als Einzelkandidat | |
wollte er schließlich zur kürzlich stattgefundenen Landtagswahl antreten. | |
Am Wahlsonntag war der Don Quijote der Magdeburger Börde stattdessen auf | |
der Buchmesse in Leipzig. Per Briefwahl hatte er seine Stimme der | |
Linkspartei gegeben, der er seit einigen Jahren angehört. Es ist auch viel | |
von Neid, Anfeindungen und Verrat die Rede in seinem Buch. Besonders die | |
winzig kleine Marxistisch-Leninistische Partei bekommt ihr Fett weg als | |
"propagandistischer Dreckshaufen". Dieses Klein-Klein hinter den Kulissen | |
von damals mag für Ehrholdt wichtig sein. Für den Leser ist es das nicht. | |
Aber immerhin hat er mit dem Buch etwas zu Ende gebracht. Als Versager | |
sieht er sich ohnehin nicht. "Ich habe aus den Ossis aufrecht gehende | |
Bürger gemacht", sagt der Mann, der im Moment eine Krücke braucht für den | |
aufrechten Gang. Sie hätten eine Stimme bekommen, wenn auch nur für kurze | |
Zeit. | |
Im April soll es zwei Lesungen in Magdeburg geben. Bei einer wird Ehrholdt | |
mit dem Dompfarrer Giselher Quast, der ihn als einer der ganz Wenigen im | |
Krankenhaus besucht hat, als es ihm dreckig ging, über Sozialabbau | |
diskutieren. Quast sagt über Ehrholdt: "Niemand hat seit den | |
Wende-Montagsdemos so viele Massen mobilisiert wie er." Ehrholdt ist für | |
ihn ein Mensch, "der das Empfinden großer Teile der Bevölkerung | |
wiedergegeben und mit großem inneren Engagement und ohne politische | |
Erfahrungen gekämpft hat". Die Lesungen sind wichtig für Ehrholdt. Er will | |
wissen, wer noch hinter ihm steht. "Und ich will eine Resonanz bekommen, ob | |
man sich zum Klops gemacht hat." Vielleicht sei er ein Träumer, sagt er zum | |
Schluss, aber "ein hoffnungsfroher". Er will auf jeden Fall weiter | |
"aufklären". Ein zweites Buch ist in Arbeit. An seinem größten Traum hält | |
Andreas Ehrholdt weiter fest: dass Hartz IV irgendwann abgeschafft wird. | |
Andreas Ehrholdt/Michael Gatzke: Ihr habt euch selbst verraten. Verlag | |
novum pro | |
1 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Barbara Bollwahn | |
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