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# taz.de -- Südsudan in der Unabhängigkeit: Wenn Richter Clanälteste ersetzen
> Der Südsudan ist unabhängig. Aber bei den Nomaden des Nuer-Volks herrscht
> Ratlosigkeit. Sie befürchten den Verlust der eigenen Traditionen.
Bild: Ein Angehöriger der Nuer bei einem Tanzritual.
LEER (SÜDSUDAN) taz | Die alten weisen Männer sitzen auf Plastikstühlen
unter einem riesigen Neembaum. Sie sprechen über Regen, Viehdiebe und die
Unabhängigkeit. Dann schweigen sie. Nur das Vogelgezwitscher im Baum ist
noch zu hören. Ein Esel brüllt in der Ferne. Char Duol seufzt und sagt:
"Wir sind verwirrt. Was geschieht mit unserer traditionellen Macht nach der
Unabhängigkeit? Keiner erklärt uns etwas. Wir haben keine Ahnung."
Bei den halbnomadischen Nuer, einer der größten Volksgruppen Südsudans,
spielen Traditionen und Kühe eine sehr wichtige Rolle. Die traditionelle
Strafe für Mord ist fünfzig Kühe, für Vergewaltigung zehn. Bei jedem Urteil
bekommen die Clanältesten von dem Vieh einen Anteil. Mord als Rache für
Mord ist üblich und kostet dann wieder fünfzig Kühe. "Wenn es hier
irgendwann Richter und Polizisten gibt, was wird dann noch von uns
erwartet?", fragt sich Koang Ruon und spuckt neben seinen Stuhl.
Leer war einst ein winziges Dorf, aber seit im Südsudan Frieden herrscht,
ist der Ort stark gewachsen. Wohl 14.000 Menschen wohnen hier, es gibt
Grundschulen, ein Gymnasium, eine Flugpiste, eine Straße in die
Provinzhauptstadt Bentiu in den Ölfeldern und einen Radiosender. Aber kaum
wirtschaftliche Aktivität. "Die Straße nach Bentiu eignet sich gut für
Handelsverkehr. Aber wir Nuer sind zu viel mit Kühen beschäftigt", meint
Koang Ruon. Die neue Gewalt im Grenzgebiet zum Norden hat den Handel weiter
verringert.
Südsudan wird jetzt zwar frei, aber es ist ein völlig kaputtes Land. Von
Entwicklung ist keine Rede, Jahrzehnte des Krieges haben fast alles
vernichtet. Die Bevölkerung hofft auf Wunder, aber selbst mit viel Hilfe
wird die Regierung wenig zaubern können.
## Regionale Bevorzugung befürchtet
"Sobald die Unabhängigkeitsfeier vorbei ist, müssen wir die Regierung
bitten, eine Schule für Händler hier zu bauen", sagt Koang Ruon. Aber Char
Duol zuckt mit den Schultern. "Es gibt bestimmt noch mehr Regionen, die
etwas wollen von der Regierung. Wir können nur hoffen, dass unser Riek
Machar sich für uns einsetzt und nicht nur die Dinka-Gebiete Entwicklung
bekommen."
Riek Machar ist der mächtigste Nuer-Politiker Sudans. Er kommt ursprünglich
selbst aus Leer und ist Vizepräsident in der südsudanesischen Regierung,
die ansonsten von Dinka dominiert wird, der größten Volksgruppe des Landes
und historischer Kern der regierenden ehemaligen Rebellenarmee SPLA
(Sudanesische Volksbefreiungsarmee).
Dinka und Nuer mögen sich nicht besonders. Riek Machar war Mitgründer der
SPLA unter ihrem damaligen Führer John Garang, einem Dinka. Beide Männer
hatten sehr verschiedene Vorstellungen über die Rebellion und die Zukunft.
In den 1990er Jahren verließ Machar mit seinen Nuer-Kämpfern die SPLA und
schloss ein Separatabkommen mit der Regierung im Norden. Aber nach einigen
Jahren kehrte er, von Khartum enttäuscht, zur SPLA zurück. Südsudans
heutiger Präsident Salva Kiir, Nachfolger des verstorbenen Garang, hat zu
Riek Machar ein besseres Verhältnis, aber zwischen Dinka und Nuer sind die
Spannungen geblieben.
## Jahrhundertealte Clankonflikte
In Leer fürchtet Stephen Taker, der junge energische Direktor des
humanitären Arms der südsudanesischen Regierung (SSRRC), die Spaltung
innerhalb der Bevölkerung. "Nicht nur zwischen Völkern, sondern selbst
zwischen Clans von einem Volk gibt es Konflikte, die oft jahrhundertealt
sind", sagt er. Dann muss er schweigen, weil nah an seinem Büro ein kleines
Flugzeug mit großem Lärm landet.
Die Konflikte zeigen sich nicht nur durch die ständigen Kämpfe zwischen
lokalen Milizen und der SPLA, bei denen laut UNO dieses Jahr bereits über
2.000 Menschen umkamen. Sie äußern sich auch in Viehdiebstahl, einer alten
Nomadentradition, die wieder zunimmt. "Dabei kommen viele Menschen um. Und
nach der Tradition müssen die Toten wieder gerächt werden. So entsteht ein
Teufelskreis", erklärt Taker.
Traditionell sorgen dann die Clanältesten für Frieden. Aber jetzt wird kaum
noch auf die alten Weisen gehört. Die Jungen haben Schusswaffen und fühlen
sich mächtig. Und der Einfluss der Regierung im weit entfernten Juba ist
kaum spürbar. "Wenn wir nicht aufpassen, werden wir wie Somalia", warnt
Taker. Von der Regierung erwartet er wenig. "Die Minister sitzen dort nur
für sich selber. Diejenigen, die stehlen, haben von Kiir und Machar ihre
Posten bekommen - nicht weil sie qualifiziert sind, sondern weil sie
Freunde, Bekannte oder Familie sind. Die Regierung hat keine Ideen. Wir
müssen selbst welche finden."
9 Jul 2011
## AUTOREN
Ilona Eveleens
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