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# taz.de -- Kompromiss der Koalition: Das Pflegereförmchen
> Verbindliche Zusagen für eine Neuausrichtung der Pflege gibt es nicht.
> Die FDP kann sich mit einer kapitalgedeckten Zusatzversicherung nicht
> durchsetzen.
Bild: Das "Jahr der Pflege" neigt sich dem Ende.
BERLIN taz | Am 311. Tag des "Jahres der Pflege", zu dem sein Ministerium
2011 ausgerufen und das es anschließend tatenlos hatte verstreichen lassen,
trat der Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) am Montag in Berlin
vor die Presse. Er durfte den Beschluss des Koalitionsgipfels zur Pflege
vortragen und erklären, es handele sich um eine Reform.
Die seit Monaten versprochenen, verbindlichen Zusagen für eine inhaltliche
Neuausrichtung der Pflege sowie die Besserstellung insbesondere von
Dementen, pflegenden Angehörigen sowie Pflegekräften bleiben weiterhin im
Vagen. Stattdessen gibt es konkrete Ansagen zur Finanzierung künftiger
Pflegeleistungen.
Diese bestehen erstens aus einer Erhöhung der Beitragssätze in der
Pflegeversicherung um 0,1 Punkte auf 2,05 Prozent zum 1. Januar 2013. Sowie
zweitens aus steuerlichen Anreizen, also staatlichen Förderbeträgen oder
steuerlicher Abzugsfähigkeit, für eine freiwillige Pflegevorsorge nach dem
Muster der Riester-Rente. Diese Versicherungsverträge dürften
ausschließlich private Anbieter anbieten, präzisierte Bahr; zu Höhe und
Umfang der staatlichen Förderung wollte er sich nicht äußern.
Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Verpflichtung, dass jeder Bürger eine
solche individuelle, kapitalgedeckte Zusatzversicherung abschließen müsse,
konnte die FDP gegenüber ihren hierüber heillos zerstrittenen
Koalitionspartnern CDU und CSU nicht durchsetzen. "Unter den
Rahmenbedingungen", mühte sich Bahr um Gesichtswahrung, "ist das jetzt
Erreichte eine vernünftige Lösung".
## Mehreinnahmen von 1,1 Milliarden Euro
Die Beitragssatzerhöhung um 0,1 Prozentpunkte in der bereits existierenden,
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch finanzierten
Pflegeversicherung entspricht Mehreinnahmen von jährlich 1,1 Milliarden
Euro. Sie wäre nach Schätzungen von Sozialexperten zu diesem Zeitpunkt
allerdings ohnehin fällig gewesen, weil das Geld in den Pflegekassen
spätestens ab 2014 allmählich knapp zu werden droht - allein um die bereits
bestehenden Pflegeleistungen zu finanzieren.
Daniel Bahr dagegen beteuerte, das zusätzliche Geld solle vor allem
Menschen zugutekommen, die an Demenz erkrankt seien. Diese hatten bislang
trotz erheblichen Protests von Sozialverbänden nur geringe Leistungen aus
der Pflegeversicherung erhalten, weil bisher nur als bedürftig und damit
leistungsberechtigt galt, wer ein körperliches Gebrechen aufzuweisen hatte.
"Baldmöglichst" würden auch psychisch-kognitive Einschränkungen anerkannt,
versprach Bahr.
Wann genau dieser neue "Pflegebedürftigkeitsbegriff" jedoch
rechtsverbindlich umgesetzt sein werde, konnte der Minister nicht sagen.
"Mein Ziel ist, das noch in dieser Legislaturperiode zu schaffen." Zunächst
müsse hierzu der Regierungsbeirat unter Leitung des parteilosen
Sozialexperten Jürgen Gohde wieder eingesetzt werden, der bereits Bahrs
Vorvorgängerin Ulla Schmidt (SPD) beraten hatte.
## "Konjunkturprogramm für die private Versicherungswirtschaft"
Seine Ergebnisse mit konkreten Umsetzungsszenarien sind übrigens seit
zweieinhalb Jahren barrierefrei zugänglich auf der Homepage des
Gesundheitsministeriums. Danach würde eine Neueinstufung von Dementen je
nach Umfang bis zu 4 Milliarden Euro kosten. Bahr räumte ein, dass
mittelfristig mit weiteren Beitragssatzsteigerungen zu rechnen sei: "Ich
glaube nicht, dass eine Milliarde reichen wird, um den
Pflegebedürftigkeitsbegriff umzusetzen."
Sozialverbände warfen Bahr "Verzögerungstaktik", "Hilflosigkeit" und die
"Kapitulation vor demografischen Herausforderungen" vor. Anstatt die
notwendigen Reformschritte anzugehen, bitte Bahr Menschen privat zur Kasse.
Das sei bloß ein "Konjunkturprogramm für die private
Versicherungswirtschaft", schimpfte die Opposition.
Tatsächlich sollen die angesparten Beträge, so Bahr, lediglich im
Pflegefall ausgezahlt werden sollen. Wird ein Versicherter also nicht
pflegebedürftig, fällt sein Angespartes, Steuerzuschüsse inklusive,
komplett in den Schoß der Privatversicherung.
7 Nov 2011
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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