Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Fürsorge: Die erfundene Cousine
> Nicht jeder hat "Angehörige", die sich kümmern können. Wir brauchen eine
> neue Kultur der Pflege auch zwischen Menschen, die nicht verwandt sind.
Bild: Es muss keine verwandte Hand sein, die hier tröstet.
Marlene K. war 55 Jahre alt, als sie einen leichten Schlaganfall erlitt.
Danach wäre es für die geschiedene Lehrerin kaum möglich gewesen, allein zu
leben. Sie zog für eine Weile bei einem Freundespaar ein, dessen erwachsene
Kinder schon aus dem Haus waren.
K. hatte Glück. Verbindliche Hilfen in Krankheitsfällen sind unter
Nichtverwandten nicht die Regel. Wie man Bindungen aber so gestalten kann,
dass sie auch in Notfällen tragen, entwickelt sich zur wichtigen sozialen
Frage. Erst recht in einer alternden Gesellschaft mit vielen
Alleinstehenden.
Ein Beispiel ist das Problem mit den Krankenhausentlassungen. Allein
lebende PatientInnen werden heute nach kurzer Aufenthaltsdauer mit
geschientem Bein und Wechselverbänden nach Hause geschickt, auch wenn nicht
klar ist, wer in der nächsten Zeit im Haushalt hilft.
Ein Änderungsantrag zum Versorgungsstrukturgesetz fordert, dass
Krankenkassen künftig angehalten werden, Alleinstehenden im Bedarfsfall
Haushaltshilfen zu finanzieren. Doch ob und wie genau das umgesetzt wird,
ist noch völlig unklar.
## Nach dem "Lustprinzip"
Das "Careprinzip" spielt auch in Langzeitbeziehungen eine wichtige Rolle.
Es wird in einer alternden Gesellschaft vielleicht sogar wichtiger als das
"Lustprinzip" einer Lebensabschnittspartnerschaft. Viele LebenspartnerInnen
heiraten jenseits der 50 doch noch ihre langjährigen Gefährten, um im
Zweifelsfall ein Auskunftsrecht im Krankheitsfall oder Hinterbliebenenrente
zu bekommen.
Der Trend geht zur Fürsorge, aber auch zur Abgrenzung: 45 Prozent der
Pflegebedürftigen in Privathaushalten werden heute durch die Kinder,
Schwiegertöchter oder -söhne mitversorgt, Tendenz steigend. Der Anteil
nimmt auch bei den Söhnen zu, allerdings von niedrigem Niveau aus. Das
zeigen neue Zahlen aus dem Bundesgesundheitsministerium. Dabei leben die
betreuenden erwachsenen Kinder seltener als früher im selben Haushalt und
sind häufiger erwerbstätig. Man kann sich um den alten Vater kümmern, wenn
man es nicht den ganzen Tag tun muss und ein ambulanter Pflegedienst
vielleicht morgens oder abends die Grundpflege übernimmt.
"Angehörige" sind eine Ressource, die begrenzt ist. Das verabschiedete
Gesetz zur "Familienpflegezeit", in der die berufstätigen Kinder ihre
Auszeit und damit die Pflege von Mutter oder Vater selbst finanzieren
sollen, dürfte daher für viele eine Überforderung sein. Die Ressourcen an
"Angehörigen" sind überdies ungleich verteilt. Eine Scheidung,
Kinderlosigkeit, der Wegzug des Nachwuchses können dazu führen, dass keine
direkten Verwandten vor Ort zur Verfügung stehen.
Die Hälfte der allein lebenden Senioren über 65 Jahre hat keine Verwandten
in unmittelbarer Nähe. Nur sechs Prozent der Pflegebedürftigen in
Privathaushalten werden hauptsächlich von Nachbarn und Freunden
mitversorgt. Sieben Prozent haben außer den professionellen Diensten
niemanden, der sie unterstützt. Dieser Trend weist bedauerlicherweise nach
oben.
## Freundschaften neu codieren
Welche Systeme gibt es also jenseits der Normen familiärer Bindung, die bei
Krankheit und Gebrechlichkeit helfen? Hierbei muss man die Codes
betrachten, die Freundschaften festigen und belastbar machen. Dazu gehört
die Langjährigkeit der Beziehung. Die Tatsache, dass man die andere bei
Krankheit unterstützt oder in einer Klinik besucht, ist ein "Marker" für
jede Freundschaft. Es sind sensible Tauschsysteme, in denen Zeit die
Währung ist: Man gibt soziale Zeit, gibt Zuwendung - und erwartet, dass im
Bedarfsfall etwas zurückkommt.
Doch wenn zu viel verlangt und zu wenig gegeben wird, ist die Beziehung
überfordert. Im Unterschied zur Familie ist der Bindungscode in
Freundschaften oder Nachbarschaften sehr viel weniger auf Moral und
Verpflichtung aufgebaut - die Beziehungen sind weniger belastbar. Wir
brauchen also eine Kulturdebatte über Verbindlichkeitsnormen auch in nicht
verwandtschaftlichen Beziehungen.
Im selbstverwalteten Wohnprojekt der Genossenschaft Wagnis eG in München
gibt es Erfahrungen zu Nachbarschaften. Dort hat sich unter den
EndsechzigerInnen ein "Cousinenkreis" gegründet. Die Scheinverwandten
begleiten sich zum Arzt oder ins Krankenhaus und geben sich als Angehörige
aus, um Beistand zu leisten. In Vorsorgevollmachten kann man auch
Nichtverwandte als Auskunftsberechtigte einsetzen, das ist juristisch
möglich.
## Am Ende geht es ums Geld
Die wechselseitige Hilfe etwa nach Krankenhausentlassungen funktioniere gut
unter den 60- bis 70-jährigen Nachbarn, sagt Günter Hörlein, ein Sprecher
von Wagnis eG. Bei Hochbetagten, die mehrmals wöchentlich Hilfe brauchen,
müssen jedoch professionelle Dienste ran.
Die unbezahlte Hilfe hat Grenzen, wenn sie kein wechselseitiger Austausch
mehr sein kann. Wer hoch gebrechlich ist, kann nur noch wenig zurückgeben
für die Unterstützung - außer eben Geld. Eine stärkere Monetarisierung der
Fürsorge im Alter ist daher auch ein demokratischer Akt gegenüber jenen,
die nicht über Angehörige verfügen, die im Alltag helfen können und wollen,
und die sehr bedürftig sind. Höhere Beiträge in die Pflegeversicherung sind
daher unumgänglich.
Nur mal als Vergleich: In die Arbeitslosenversicherung zahlen Beschäftigte
heute inklusive des Arbeitgeberanteils drei Prozent ihres Bruttoeinkommens
ein. In die Pflegeversicherung fließen hingegen nicht mal zwei Prozent des
Bruttoeinkommens. Die Pflegequote bei den über 75-Jährigen liegt aber bei
zehn Prozent und klettert bei den über 90-Jährigen sogar auf 62 Prozent.
Wir brauchen also einen neuen Fürsorgemix in einer Gesellschaft der
Langlebigen: eine Kulturdebatte über neue Möglichkeiten und Grenzen der
Hilfe unter Freunden, Verwandten und die Förderung einschlägiger
Nachbarschaftsprojekte. Zum Zweiten benötigen wir eine höhere Bereitschaft,
mehr Geld in Solidarversicherungen zu investieren. Jeder kann davon
betroffen sein, im Bedarfsfall keine Angehörigen vor Ort zu haben, die eine
Unterstützung leisten können und wollen. Das ist keine Frage des
Selbstverschuldens, sondern eine des Schicksals.
6 Nov 2011
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kompromiss der Koalition: Das Pflegereförmchen
Verbindliche Zusagen für eine Neuausrichtung der Pflege gibt es nicht. Die
FDP kann sich mit einer kapitalgedeckten Zusatzversicherung nicht
durchsetzen.
Soziale Ungleichheit in Deutschland: Alte und Behinderte werden ärmer
Die Zahl der Menschen, deren Renten durch den Staat aufgestockt werden,
steigt. Insbesondere sind Westfrauen betroffen, auch wegen gescheiterter
Hausfrauenehen.
Betreuung von Angehörigen: Auszeit für pflegende Kinder
Der Paritätische Wohlfahrtsverband schlägt ein "Familienpflegegeld" vor –
ähnlich wie das Elterngeld, samt Rechtsanspruch. Es würde rund 2,4
Milliarden Euro kosten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.