# taz.de -- Wahlkampf in Russland: Pfiffe gegen Putin | |
> Die Stimmung vor der Wahl in Russland ist schlecht, eine | |
> Zweidrittelmehrheit für die Kreml-Partei unwahrscheinlich. Aber: | |
> "Entscheidend ist nicht, wer wählt, sondern wer zählt." | |
Bild: Umgibt sich gerne mit den ganz harten Jungs: Putin im Wahlkampf. | |
MOSKAU taz | Damit hatte der Premierminister nicht gerechnet: Im | |
Sportpalast Olympiski bei den Fans des Vollkontaktsports "Mixed Martial | |
Arts" wähnte sich Wladimir Putin unter Gleichgesinnten. Einer derben | |
Männerriege, die es gern etwas brutaler hat. | |
Doch als Putin dem russischen Sieger gratulieren wollte, erhob sich ein | |
schrilles Pfeifkonzert, in dem die Worte des Mannes, der bei der | |
Parlamentswahl am Sonntag den ersten Schritt zu seiner Rückkehr ins | |
Präsidentenamt unternehmen will, untergingen. | |
Das staatliche Fernsehen versuchte noch, die Misslaute herauszufiltern. | |
Auch Putins persönlicher Adjutant bemühte sich im Anschluss um | |
Klarstellung: Die Pfiffe hätten dem amerikanischen Verlierer gegolten, der | |
gerade mit gebrochenem Bein davongetragen wurde, behauptete er. Das war | |
selbst für hartgesottene Fans zu viel. Auf der Website des Amerikaners | |
entschuldigten sich Tausende für die eigenwillige Interpretation aus dem | |
Büro Putins. | |
Zwei Tage später sollte der "nationale Lider" im Rahmen des Wahlkampfs | |
wieder in derselben Arena auftreten. Riesige Plakate warben für das | |
Großereignis: "Wladimir Putin und die russischen Stars aus Pop, Sport und | |
Kino gegen Drogen - echte Kerle brauchen so was nicht". Der echte Kerl kam | |
dann gar nicht. Am Mittwoch dann eine weitere Respektlosigkeit: Abgeordnete | |
der handzahmen Opposition erhoben sich nicht von den Plätzen, als Putin der | |
Duma für gute Zusammenarbeit danken wollte. | |
In Russland wächst die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen. | |
Auch wenn der Unmut auf den ersten Blick kaum zu erkennen ist: Die | |
politische Führung ist sichtbar nervös. Zwar dürfte aus der Duma-Wahl die | |
Kreml-Partei Geeintes Russland (GR) als stärkste Kraft hervorgehen, doch | |
die für eine Verfassungsänderung und damit für Putins Kandidatur bei der | |
Präsidentenwahl im März erforderliche Zweidrittelmehrheit rückt in weite | |
Ferne. | |
## Gewaltiger Vertrauensverlust | |
Prognosen gehen von rund 50 Prozent aus. In demokratischen Staaten wäre das | |
ein formidabler Sieg. In einem halb autokratischen System, das auf die | |
Führungsfigur zugeschnitten ist und ernst zu nehmende Konkurrenz getilgt | |
hat, bedeutet solch ein Ergebnis jedoch einen gewaltigen Vertrauensverlust. | |
Amtsträger in den Regionen sind angehalten, dennoch 65 Prozent Zustimmung | |
zu organisieren. | |
"Die Wahlen sind eine Mischung aus Amtsmissbrauch und Vorbereitung von | |
massivem Betrug", sagte der Abgeordnete Gennadi Gudkow unter Protesten der | |
Staatspartei (siehe Interview). Gudkow, Exgeheimdienstler wie Putin, ist | |
Mitglied der Partei Gerechtes Russland. | |
In der systemkonformen Opposition hat er sich zu einem Widersacher | |
entwickelt. Nun sorgt man sich im Kreml, dass die Massen nach der Wahl | |
seinem Aufruf zu Protesten folgen könnten. 30.000 kremltreue Jugendliche | |
sollen bereit seien, Moskaus zentrale Plätze zu besetzen. | |
Dass es Manipulationen gibt, ist längst kein Geheimnis mehr. Die | |
Bevölkerung nimmt es seit Jahren als quasi gottgegeben hin. Doch die | |
Langmut kennt auch Grenzen: Fällt die Korrektur des Wählerwillens noch | |
maßvoll oder schon maßlos aus? Putins Gefolgschaft scheint das Gespür dafür | |
verloren zu haben. | |
Lehrer, Ärzte und Soldaten werden gedrängt, im Kollektiv zur Wahl zu gehen. | |
Mancherorts wird berichtet, dass sie per Handyfoto anschließend die | |
richtige Entscheidung in der Kabine festhalten sollen. Sonst droht ihnen | |
Jobverlust. Unternehmer werden angehalten, auf Angestellte einzuwirken, | |
wollen sie weiterhin Geschäfte machen. | |
## Wahlmanipulation als angewandte Wissenschaft | |
Bürgermeister drohen unbotmäßigen Gemeinden, Subventionen zu streichen oder | |
etwa eine versprochene Gasleitung nicht zu bauen. Die Partei ist | |
erfinderisch, und Wahlmanipulation ist eine angewandte Wissenschaft mit | |
eigenem Dienstleistungsbereich. Erbringt die Vorarbeit nicht das gewünschte | |
Ergebnis, legen die Wahlkommissionen noch mal Hand an nach dem Stalin | |
zugeschriebenen Motto "Entscheidend ist nicht, wer wählt, sondern wer | |
zählt". | |
Hauptgrund der wachsenden Unzufriedenheit ist die Entfremdung zwischen | |
Bevölkerung und Elite, die sich im eigenen Land wie eine Besatzungsmacht | |
aufführt. Der bekannte Blogger und Anwalt Alexej Nawalny taufte das Geeinte | |
Russland "Partei der Diebe und Gauner". In Windeseile ist die Bezeichnung | |
Allgemeingut geworden. Nawalny machte sich einen Namen, indem er der | |
Korruption in den oberen Etagen der Macht nachging. | |
40 Prozent der Bevölkerung sind unzufrieden und bereit, an Protestaktionen | |
teilzunehmen. "In den Städten kocht es, und dort wird das Schicksal des | |
politischen Systems entschieden", sagte jüngst Michail Dmitrijew im | |
Radiosender Echo Moskwy. Dmitrijew ist nicht etwa ein Oppositioneller, | |
sondern Mitarbeiter des dem Kreml nahestehenden Zentrums für Strategische | |
Ausarbeitungen. | |
"Der Druck aus der Gesellschaft wird so lange zunehmen, bis eine reale | |
Vertretung der Interessen eines breiten Spektrums der Bevölkerung gesichert | |
ist", diagnostizierte das Zentrum in seiner letzten Analyse. Die Stabilität | |
des politischen Systems könne man unter diesen Bedingungen vergessen. | |
## Dunkle Kräfte aus dem Westen | |
Der Protest, der sich zunächst im Internet formierte, gelangt allmählich in | |
die Öffentlichkeit, sagt Alexej Lewinson vom | |
Lewada-Meinungsforschungsinstitut. Bislang habe Russlands Tradition | |
Herrschern alles erlaubt. Eine wachsende Minderheit stelle dies jetzt | |
infrage. | |
Zwar ist Putin selbst nach wie vor populär, mehr als 40 Prozent trauen ihm | |
aber nicht mehr. Viele nahmen den Rollentausch mit Präsident Dmitri | |
Medwedjew als ein Signal des Stillstands wahr. Das selbstgefällige | |
Auftreten des Regierungschefs ruft zudem üble Erinnerungen wach. | |
Die aktivere Hälfte der Bevölkerung glaubt, das Land entwickle sich in die | |
falsche Richtung. Das sei ein neuer Trend, der die Stimmung besser | |
widerspiegele als Putins Rating, sagt Lewinson. | |
So war auf dem Parteitag, der Putin am Wochenende zum Kandidaten kürte, von | |
Modernisierung und Innovation denn auch keine Rede - aber umso mehr von | |
"dunklen Kräften aus dem Westen", die sich in Russlands innere | |
Angelegenheiten einmischen. Das Volk nimmt es noch mit Humor: "Putin möchte | |
nicht mehr Präsident sein. Am Mittwoch lässt er sich krönen", erzählt man | |
sich. | |
1 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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