# taz.de -- Soziologe über Duma-Wahl in Russland: "Die Nervosität wächst" | |
> Ein kleiner, aber aktiver Teil der russischen Gesellschaft will sich | |
> nicht mehr unterwerfen, sagt Alexej Lewinson. Wladimir Putin könne es | |
> sich nicht länger erlauben, das zu ignorieren. | |
Bild: Noch steht Putin über den Dingen. Vielleicht ändert sich das demnächst. | |
taz: Herr Lewinson, Russland wählt eine neue Duma. Hat sich der Wähler seit | |
den letzten Wahlen 2007 verändert? | |
Alexej Lewinson: Früher stand alles vorher fest, heute auch noch. Aber es | |
sind doch neue und wesentliche Nuancen hinzugekommen. Wähler, denen es | |
nicht mehr gefällt, dass sie keine Wahl haben. Die sich nicht mehr damit | |
abspeisen lassen, womit sie früher noch zufrieden waren. | |
Wer sind die? | |
Die Autofahrer mit den blauen Eimern auf den Dächern etwa. Sie wehren sich | |
gegen die freie Fahrt der politischen Klasse, die mit Blaulicht den Bürger | |
rücksichtslos an den Rand drängt. Das ist ein Kampf gegen Status- und | |
Herrschaftssymbole und noch keine Revolution. Er durchbricht aber eine | |
jahrhundertelange Tradition, in der es undenkbar war, die Sonderrolle und | |
Unantastbarkeit der Herrschenden zu hinterfragen. Die Mehrheit übt sich | |
noch immer in legendärer russischer Demut. Ein kleiner, aber sehr | |
sichtbarer und aktiver Teil der Gesellschaft will sich nicht mehr | |
unterwerfen. Dabei spielen auch Internet und Medien eine große Rolle. | |
Die Proteste werden oft mit den Bewegungen in arabischen Ländern | |
verglichen, hinkt dieser Vergleich nicht? | |
Diese Gruppierungen stellen noch keine mächtige millionenstarke politische | |
Kraft dar. Ihre Bedeutung liegt im Sozialen: Sie protestieren, weil sie | |
sich in ihren Rechten verletzt fühlen und entdecken die persönliche Würde | |
für sich wieder. Nach dem Motto: lass dir das nicht gefallen und mach | |
deinen Protest sichtbar - sei kein Feigling und setz deinen Namen unter den | |
Aufruf. | |
Wie reagiert der Kreml auf die Entwicklung, nimmt Putin so was wahr? | |
Er kann es sich eigentlich nicht erlauben, das zu ignorieren. Sich | |
selbstzufrieden auf die Brust zu schlagen, dafür gibt es keinen Grund. Die | |
Wirtschaft ist nicht im besten Zustand. Er schmückt sich zwar mit dem | |
internationalen Prestigegewinn Russlands. Das hören die Bürger im | |
Fernsehen, überprüfen können sie es nicht. Schauen sie auf dem Weg zur | |
Arbeit aus dem Fenster, entdecken sie keine großartigen Leistungen. | |
Außerdem frisst die Inflation Pensions- und Lohnerhöhungen und der | |
Terrorismus bedroht weiter das Land. | |
Was ist Putins Rolle als nächster Präsident? | |
Bislang wird Putin nicht für das Geschehen im Land verantwortlich gemacht. | |
Er steht über den Dingen. Ob sich das in der nächsten Amtszeit ändert, ist | |
unklar. Seine Popularität ist nach wie vor hoch. Das sagt aber nicht viel | |
über die Stimmung aus. Die Hälfte der Bevölkerung glaubt, dass Russland | |
sich nicht in die richtige Richtung bewege. Das ist ein neuer Trend. | |
Außerdem beobachten wir vor den Wahlen eine wachsende Nervosität in der | |
Gesellschaft. | |
Hat das mit dem abgekarteten Rollentausch Medwedjew-Putin zu tun? | |
Medwedjews gehorsamer Abtritt rief ziemlich scharfe Reaktionen hervor. | |
Viele der politisch interessierten Bürger waren dagegen. Sie fühlten sich | |
persönlich verletzt. Als Putin vor vier Jahren Medwedjew die Macht übergab, | |
begrüßten viele das Manöver als Notlösung. Putin konnte laut Verfassung | |
kein drittes Mal kandidieren. Dieselbe Klientel wünscht sich jetzt, dass | |
Medwedjew aus Putins Schatten herausgetreten wäre. Im Verborgenen ist der | |
Wunsch nach einer Alternative zu Putins einseitiger und brutalen Linie | |
vorhanden. Sie sehnen sich ein wenig nach zivilerem Umgang und liberaleren | |
Werten. Vorstellungen, die Putin als Kremlchef nun auch befriedigen müsste. | |
In der Öffentlichkeit gibt es keine kontroversen Diskussionen. Wie in der | |
Sowjetzeit findet die Auseinandersetzung wieder in der Küche statt. Im | |
engen Kreis äußert man sich anders als draußen. Ist der Orwellsche double- | |
think zurück, trifft der Vergleich mit dem Stillstand der Breschnew Ära zu? | |
Damals sagte man Zuhause das eine und draußen was anderes. Heute ist das | |
nicht mehr so. Der double-think charakterisiert jetzt vor allem das Denken | |
der politischen Führung. Spricht sie mit dem Westen oder Menschenrechtlern, | |
bedient sie sich deren diskursiver Rhetorik. Gegenüber der eigenen Klientel | |
schlägt sie eine andere Tonalität an. Putin ist darin ein Virtuose. Er | |
versteht es, in ein und demselbem Satz einen Doppelsinn zu verpacken. | |
Alle Parteien wollen im Wahlkampf von nationalistischen Stimmungen | |
profitieren? Ist das nicht eine Gefahr für den Vielvölkerstaat? | |
Nationalismus hat als einzige Ideologie Kommunismus und Demokratie | |
überstanden. Es ist ein Konglomerat aus heidnischen, christlichen und | |
fundamentalistischen Vorstellungen. Er grenzt aus und beansprucht | |
Exklusivität als Gegengewicht zu universalistischen Werten. Was ihn bei uns | |
so lebendig macht, ist, dass er von allein entstanden und keiner | |
politischen Kraft zuzuschreiben ist. | |
Hat nicht Putin durch die Georgier-Hatz den Nationalismus erst hoffähig | |
gemacht? | |
Er hat die antigeorgische Kampagne damals losgetreten. Der Kreml spielt mit | |
den Ressentiments. Putins Haltung ist widersprüchlich. Er solidarisierte | |
sich spontan mit russischen Fußballfans, nachdem einer im Streit mit | |
Kaukasiern getötet wurde. Hinterher versuchte er die Geste abzuschwächen. | |
Die Menschen sind empfindlicher geworden, sobald ihre Würde verletzt wird. | |
Sie sind aber auch gleichgültiger oder nachsichtiger gegenüber Rassismus | |
und Nationalismus. Niemand muss mehr ein Blatt vor den Mund nehmen. In den | |
90er Jahren wäre das undenkbar gewesen. 60 Prozent unterstützen heute die | |
Forderung "Russland den Russen". | |
4 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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