# taz.de -- Telekom-Vorstand über Bildungspolitik: "Wir brauchen eine neue Off… | |
> Thomas Sattelberger, Personalvorstand der Telekom, warnt vor einer | |
> "verlorenen Generation". Er fordert Studienzugänge für Berufstätige und | |
> mehr Möglichkeiten für Bildungsverlierer. | |
Bild: "Wir begehen gerade schwere Fehler an den Hochschulen", meint Thomas Satt… | |
taz: Herr Sattelberger, können Sie noch ruhig schlafen? | |
Thomas Sattelberger: Meistens ja. | |
Sie sind bei der Telekom dafür zuständig, gute Leute einzustellen. | |
Gleichzeitig bekommen hierzulande Tausende Studierwillige keinen | |
Studienplatz. | |
Die Bildungssituation im Land besorgt mich. In diesem Jahr fehlt die | |
Finanzierung für 50.000 Studieninteressierte. | |
Wie kann es sein, dass ein Land erst einen doppelten Abi-Jahrgang schafft, | |
aber nicht ausreichend Studienplätze zur Verfügung stellen kann. | |
Ich finde das schlimm. Jeder, der vom Studium abgeschreckt wird, ist einer | |
zu viel. Unternehmen und Arbeitgeberverbände haben schon lange darauf | |
hingewiesen, dass die beiden Abiturjahrgänge, die steigende Studierneigung | |
und die gleichzeitige Abschaffung der Wehrpflicht die Hochschulen | |
überfordern werden. | |
Was meinen Sie damit? | |
Die malade Infrastruktur der Hochschulen, insbesondere die schlechte | |
Betreuungssituation. Wie viel Pädagogik ohne Vermassung kann heute ein | |
Student oder eine Studentin eigentlich noch erleben? Das persönliche | |
Gespräch und das interaktive Lernen fehlen. Da begehen wir gerade schwere | |
Fehler an den Hochschulen. | |
Kann sich das ein Exportland leisten? | |
Nein. Das ist viel zu wenig für die Wohlstandsmaschine Europas. Dass wir im | |
OECD-Schnitt der Studienanfänger und -absolventen immer noch viel zu weit | |
unter Durchschnitt liegen, wissen wir ja. Immerhin hat die Kanzlerin Geld | |
bereitgestellt. Aber es kommt oft gar nicht bei den Hochschulen an. Manche | |
Länder stecken das Unigeld des Bundes in ihre Haushaltsdefizite. | |
Was ist da falsch gelaufen? | |
In den 1960er Jahren hat Georg Picht die Bildungskatastrophe ausgerufen. | |
Das hat das Land aufgerüttelt, die Bildungsausgaben verdoppelten sich | |
zwischen 1970 und 1975, Dutzende Hochschulen wurden neu gegründet, der | |
erste große Akademikerschub begann und erstmals gehörten auch in | |
nennenswertem Umfang Arbeiterkinder dazu. Aber das reicht nicht mehr für | |
das 21. Jahrhundert. Wir brauchen eine zweite Bildungsoffensive dieser Art | |
- diesmal für das gesamte Bildungssystem. | |
Damals gab es eine Picht-Krise - und einen Kanzler Brandt, der sagte: | |
"Öffnet die Hochschulen!" Heute haben wir die Pisakrise und eine Kanzlerin | |
Merkel, die die Bildungsrepublik ausruft. Nur sagen die Länder: "Nein, wir | |
sind zuständig!" | |
Die Länder in der deutschen Bildungspolitik, das kommt mir manchmal vor, | |
als wollte man streunende Katzen zähmen. Der Bund darf seine Hände nicht | |
aus der Bildung herauslassen! | |
Was muss passieren? | |
Ich glaube, dass wir mit der Föderalismusreform bei der Bildungspolitik | |
eine große Sünde begangen haben. Das sogenannte Kooperationsverbot muss | |
weg. | |
Sie meinen, dass der Bund kein Geld in Schulen geben darf. | |
Ja, aber selbst wenn der Bund wieder mit Mitteln initiieren und stimulieren | |
darf, reicht das nicht aus. Wir brauchen viel weiter gehende Standards. | |
Wofür? | |
Zum Beispiel beim Öffnen der Hochschulen für beruflich Qualifizierte. In | |
diesem Talentsegment steckt so viel Wissen und Aufstiegswille, dass es eine | |
Sünde ist, dies von den Unis fernzuhalten. Aber genau das geschieht, weil | |
es 16 unterschiedliche Regelungen gibt. Selbst die Hochschulzulassung von | |
Meistern und Technikern ist völlig zersplittert geregelt. Deswegen haben | |
wir gerade knappe 1,9 Prozent beruflich Qualifizierte ohne Abitur unter den | |
Studenten. Wären es mehr, könnten wir die akademische Fachkräftelücke | |
besser schließen. | |
Ist diese Lücke eine Gefahr für die Deutsche Telekom? | |
Wir in der Telekom haben schon vor Jahren die Weichen gestellt - bevor uns | |
das Wasser bis zum Hals stehen konnte. Wir gewinnen über unseren | |
Ausbildungspakt jährlich Tausende junge Leute fürs Unternehmen. Zudem haben | |
wir die Zahl unserer dualen Studienplätze von 300 auf 1.200 erhöht. | |
Das sind Leute, denen Sie die Studienkosten zur Hälfte bezahlen. | |
Ja, eine akademische Talentquelle ohnegleichen, auf den Feldern | |
Wirtschaftsinformatik, Telekommunikationsinformatik und Betriebswirtschaft. | |
Warum ist das so wichtig für Sie? | |
Wir haben als Telekommunikationsunternehmen einen gewaltigen Skillshift zu | |
organisieren. | |
Was bedeutet denn Skillshift? | |
Qualifikationen, die früher notwendig waren, werden jetzt technologisch | |
überflüssig. | |
Das Fräulein vom Amt ist umgezogen. | |
Längst. Und der Kupfermonteur zum Beispiel ist eine aussterbende Spezies. | |
Die Zukunft gehört dem System-Monteur mit Beratungs- und | |
Vertriebskompetenz. Aber es gibt auch Fähigkeiten, die kann man nicht | |
herbeiqualifizieren. Sie sind so andersartig, dass ich sie mir von außen | |
einkaufen muss. | |
Wo liegt das Durchschnittsalter in Ihrem Unternehmen? | |
Bei 43,8 Jahren, damit sind wir 1,5 Jahre über dem Durchschnitt der | |
erwerbstätigen Bevölkerung. | |
Wie alt sind die Apple-Informatiker? | |
Wahrscheinlich zehn bis fünfzehn Jahre jünger, ich weiß es nicht genau. | |
Aber in ausgewählten Innovationsbereichen liegen auch wir auf diesem | |
Niveau. Sie können sich ein Unternehmen nicht schnitzen. | |
In Deggendorf werden bulgarische Azubis importiert - weil es nicht genug | |
ausbildungsfähige Hauptschüler gibt. Wer trägt dafür die Verantwortung? | |
Wenn wir von Versagen sprechen, dann dem der Schule, die die | |
Ausbildungsbefähigung nicht schafft, aber auch dem der Wirtschaft. Es | |
gelingt uns noch nicht, kluge Brücken zu bauen für Menschen, die zwar nicht | |
formal ausbildungsbefähigt sind, die aber trotzdem ausgeprägte Stärken und | |
Talente besitzen. Wir haben in Deutschland fast 300.000 Jugendarbeitslose | |
und 350.000 in der Warteschleife des Übergangssystems. Ich bin überzeugt, | |
dass wir die Hälfte von ihnen in eine qualifizierende Ausbildung kriegen | |
können. | |
Was macht Sie so hoffnungsvoll? | |
Wir haben in einem ersten Versuch knapp 70 dieser Jugendlichen eingestellt. | |
Ich habe das mit meinen Ausbildern nachdrücklich diskutiert - denn sie | |
hätten diese Leute mit normalen Auswahlverfahren wohl kaum in die Betriebe | |
geholt. Wir hätten die Stärken und Begabungen mit unseren Auswahlverfahren | |
auch gar nicht erst herausgefunden. Die Job-Center und | |
Arbeitsgemeinschaften haben uns dabei geholfen. Diese Jugendlichen sind | |
keine "hoffnungslosen Fälle", bei denen ist irgendwas schiefgelaufen, was | |
ihnen den Schneid abgekauft hat. Und jeder von denen hat eine bestimmte | |
Stärke und einen Willen. | |
70 sind nicht gerade viel für ein Unternehmen mit 250.000 Mitarbeitern. | |
Ja, das ist noch keine kritische Masse. Aber erstens haben wir die Zahl auf | |
150 ausgeweitet. Und zweitens muss auch der Gesetzgeber mithelfen. | |
Wie das? | |
Es ist nicht zielführend, wenn Erfolgsprämien für diese Jugendlichen auf | |
die Sozialleistungen angerechnet werden müssen - also ihnen gar nicht | |
zugute kommen. | |
Sie fördern in der Deutschen Telekom ältere Arbeitnehmer, abgehängte | |
Jugendliche und Schwerbehinderte. Warum machen Sie das? | |
Weil ich überzeugt bin, dass ein Unternehmen die Vielfalt der Gesellschaft | |
widerspiegeln muss. Und weil wir uns der sozialen gesellschaftlichen | |
Verpflichtungen nicht entledigen können. | |
Haben Sie denn selbst Ausgrenzung erlebt? | |
Nein, das nicht. Aber meine Eltern haben alles getan, damit ich aus den | |
gegebenen Begrenzungen herauskam und mir eine Welt erobern konnte, die | |
größer und weiter war. | |
Was waren Ihre Eltern von Beruf? | |
Meine Mutter war Lehrerin für Hauswirtschaft und Hausarbeit, mein Vater | |
begann als einfacher Beamter. Er konnte nicht studieren, das hat ihn ein | |
Leben lang gequält. | |
Hat er mit Ihnen darüber gesprochen? | |
Ja, oft. Ich komme also aus kleinbürgerlichen Verhältnissen - und meine | |
Eltern haben mich mit 16 ein Jahr in die USA geschickt. Als ich zurück kam, | |
sagte meine Mutter: "Thomas, du bist ein anderer als der, der weggefahren | |
ist." | |
Was haben Sie in den USA erlebt? | |
Ich kam aus beengten Verhältnissen direkt in die Flowerpower-Bewegung und | |
die Antivietnamkriegsdemos der frühen US-amerikanischen 68er. Ich bin als | |
16-jähriger mit alternativen Lebensformen und dem Kampf gegen Krieg und | |
Rassendiskriminierung konfrontiert worden. Ich habe diese Eindrücke | |
intensiv aufgesogen. | |
Was ist davon geblieben? | |
Dass Fairness und Gerechtigkeit wichtig sind. Auch und gerade in der | |
Wirtschaft. Ich bin im Kern jemand, der sagt, wir müssen auf Stärken und | |
auf Lebensoptimismus setzen. Egal, woher jemand kommt. | |
Was sagen Sie denen, die heute als Jugendliche oder Abiturienten abgewiesen | |
werden? | |
Gebt nicht auf! Es gibt mehr und mehr Menschen, die mithelfen, dass ihr | |
eine zweite und dritte Chance bekommt. Ich würde es für schädlich und | |
schändlich halten, wenn wir in unserem Land zu verlorenen Generationen | |
kämen. | |
6 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
## TAGS | |
Autobiografie | |
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