# taz.de -- Debatte 10 Jahre Pisa: Im Land der Pauker und Büffler | |
> Was hat sich zehn Jahre nach der ersten Pisa-Studie verändert? Die | |
> Leistungen der Schüler haben sich etwas verbessert, der Unterricht jedoch | |
> kaum. | |
Bild: 2001: "Pisa" schallte es plötzlich aus allen Lehrer- und Klassenzimmern … | |
Es war einiges los an diesem 4.12.2001. Die israelische Armee umzingelte | |
das Hauptquartier von Yassir Arafat, die Delegierten der ersten | |
Afghanistan-Konferenz einigten sich in Bonn nach tagelangen Verhandlungen | |
auf einen Plan für die politische Neuordnung des Landes und die | |
Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) | |
stellte in Berlin die Ergebnisse des ersten internationalen Vergleichs von | |
Schülerleistungen - PISA - vor. | |
Plötzlich diskutierten die Deutschen über Lesekompetenzen und über | |
Chancengerechtigkeit. Denn PISA zeigte: Die besten deutschen Dichter- und | |
Denkerkinder sind im Lesen nur Durchschnitt, im Mittel schneiden hiesige | |
Schüler sogar unterdurchschnittlich ab. Und in keinem anderen OECD-Land ist | |
der Schulerfolg so stark von der Herkunft abhängig. | |
Nach kurzem PISA-Schock warfen die Bildungspolitiker von Land und Bund die | |
Reformmotoren an. Um es vorweg zu nehmen: Es hat sich viel verändert in den | |
vergangenen zehn Jahren, doch die Revolution steht noch aus: die | |
Veränderung des Lernens. | |
Zehn Jahre nach PISA ist Deutschlands Bildungslandschaft nicht mehr die | |
gleiche wie 2001. Kitas und Krippen sind in, eine Ganztagsschule gibt es in | |
jedem Kaff, Hauptschulen sind politisch nicht mehr opportun, das Gymnasium | |
ist schneller und straffer geworden. | |
Und die Schulen werden nun regelmäßig dahingehend überprüft, ob die Schüler | |
dort auch genügend lernen. Die Kultusminister haben Bildungsstandards | |
entwickeln lassen und jedes Jahr müssen Dritt- und Achtklässler in | |
bundesweiten Vergleichsarbeiten nachweisen, dass sie diesen genügen. In der | |
vierten PISA-Studie 2009 haben die Deutschen Anschluss ans Mittelfeld | |
gefunden, man ist nun Durchschnitt. Im Unternehmenssprech kann man sagen, | |
die Output-Orientierung des Bildungswesens ist größer geworden. Doch wie | |
sieht es mit dem Input aus? | |
## "Das Schlimmste: die Lehrer" | |
Als die OECD-Forscher sich zu Beginn des Jahrtausends daran machten die | |
Leistungen der Schüler zu messen, haben Forscher der Humboldt-Universität | |
"Schule aus der Sicht von Schülern" untersucht. Auf die Frage "Was ist das | |
Schlimmste an der Schule" erhielten sie regelmäßig die Antwort: "Die | |
Lehrer". | |
Sie beklagten, so heißt es in der Studie, autoritäres und extrem | |
dirigistisches Lehrerverhalten, Tadel und Spott, Herabsetzung und | |
Demütigung vor Schülern. Nun gut, Lehrerskepsis gehört zum guten Ton unter | |
Heranwachsenden. Nachdenklich macht jedoch, dass die Hälfte der | |
Siebtklässler und zwei von drei Neuntklässler nicht glaubten, dass "unsere | |
Lehrerinnen und Lehrer interessiert, dass wir wirklich etwas lernen." 2004 | |
schien sich daran kaum etwas geändert zu haben. | |
In einer anderen Studie – Pythagoras – fragten die Forscher Jugendliche ob | |
sie das Gefühl hätten, dass ihre Leistungen im Matheunterricht Anerkennung | |
fänden. Im Mittel hatten die Mädchen und Jungen geantwortet: Manchmal. Nur | |
selten, so hieß es im Durchschnitt, würden sie zu selbständigem Lernen | |
ermuntert oder hätten Gelegenheit sich eingehender mit Aufgaben zu | |
beschäftigen. | |
In vielen Klassenräumen herrscht auch heute noch eine Kultur des | |
Gleichschritts. Die Schüler konsumieren Wissen bis zur anstehenden | |
Klassenarbeit, und dann wird verglichen auf welchem Stand die zwei Dutzend | |
Jungen und Mädchen sind. Die erzielten Zensuren drücken jedoch nicht die | |
Lernfortschritte der einzelnen aus, sondern messen die Leistung im | |
Vergleich zu allen anderen. Weil die „Normalverteilung“ ihrer Klasse nicht | |
stimmte, also ganz wenige Einsen, viele Zweien und Dreien, einige Vieren, | |
Fünfen und Sechsen, wurde die bayerische Lehrerin Sabine Czerny 2008 an | |
eine andere Schule versetzt. Ihre Schüler waren zu gut, und damit hatte | |
Czerny den „Schulfrieden“ gestört. | |
Und so kommt es zu dem Kuriosum, dass viele Schüler im Laufe ihrer | |
Schulzeit zwar viel dazulernen, ihre Noten dennoch schlechter werden. Mit | |
individuellem und selbständigem Lernen lässt sich die Notengebung eben nur | |
schwer verbinden. | |
## Gymnasien gerettet | |
Wohl aber mit dem noch immer quicklebendigen Gedanken des deutschen | |
Schulwesens: wer nicht zu uns passt, der wird aussortiert. Am besten lernt | |
es sich doch, wenn die guten Schüler unter sich sind am Gymnasium und die | |
schwächeren Schüler von anderen Schulformen aufgefangen werden, so die | |
Grundüberzeugung. Dass es Kinder aus ärmeren Schichten nach der Grundschule | |
viel schwerer haben auf ein Gymnasium zu wechseln als Mittelschichtskinder | |
nimmt man dabei billigend in Kauf. | |
Die Gymnasien – die aus der möglichst frühen Trennung der Kinder nach | |
Schulnoten ihre Daseinsberechtigung ableiten - sind zu Beginn des zweiten | |
PISA-Jahrzehnts unantastbarer denn je. Sogar Grüne und SPD haben ihren | |
Schulfrieden mit dem gegliederten Schulsystem geschlossen. | |
Das Gymnasium ist gerettet und sonst? In keinem anderen Industrieland war | |
der Zusammenhang zwischen Elternhaus und Leseleistung im Jahre 2001 so groß | |
wie in Deutschland. Bis zu drei Vierteln der Hauptschüler fehlten im Alter | |
von 15 Jahren grundlegende Lesefähigkeiten, die es ihnen ermöglichen sollen | |
aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. | |
Risikoschüler nannten die Bildungsforscher diese Gruppe, und bezogen sich | |
dabei auf ihre Zukunftsaussichten. Der Anteil der Risikoschüler ist leicht | |
zurückgegangen – aber immer noch gelten 18 Prozent der Schulpflichtigen als | |
solche. Und die Autoren der deutschen Pisa-Studie stellen in ihrer Bilanz | |
fest, dass es bis heute an erprobten Förderkonzepten mangele, um die Gruppe | |
der schwachen Leserinnen und Leser zu unterstützen. | |
Am 4.12.2011 ist der Nahost-Konflikt ungelöst, die Zukunft Afghanistans | |
unsicher und zentrale Gerechtigkeitsfragen des deutschen Bildungssystems | |
sind weiterhin offen. | |
4 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
## TAGS | |
Schule | |
Pisa | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Leistungsvergleich unter Schülern: Kluge Ossis | |
Neuntklässler aus den Ost-Flächenländern sind in Mathe und den | |
Naturwissenschaften stärker als ihre West-Kollegen. Nur Bayern kann | |
mithalten. | |
Pisa-Studie für Erwachsene: Wir sind nur Mittelfeld | |
Der Pisa-Test für Erwachsene zeigt: Der Bildungserfolg hängt in Deutschland | |
besonders von der sozialen Herkunft ab. Eine langfristige Strategie fehlt. | |
Telekom-Vorstand über Bildungspolitik: "Wir brauchen eine neue Offensive" | |
Thomas Sattelberger, Personalvorstand der Telekom, warnt vor einer | |
"verlorenen Generation". Er fordert Studienzugänge für Berufstätige und | |
mehr Möglichkeiten für Bildungsverlierer. | |
Leiter der Kultusminister-Konferenz: "Jedem Schüler gerecht werden" | |
Was sind zentrale Aufgaben für die Kultusminister-Konferenz? Die Qualität | |
des Unterrichts und die individuelle Einbeziehung der Lernenden, meint der | |
neue Generalsekretär Udo Michallik. | |
Aktionsrat Bildung will Kernabitur: Diese Löwen wollen nur spielen | |
Eigentlich eine gute Idee. Der Aktionsrat Bildung schlägt ein Abitur für | |
alle in Deutsch, Mathematik und Englisch vor. Aber keine Sorge, das wird | |
nicht kommen. | |
OECD-Bildungsexperte über Deutschland: "Weiterhin großer Nachholbedarf" | |
Seit dem Pisa-Schock hat sich viel getan, aber noch lange nicht genug, sagt | |
Bildungsexperte Andreas Schleicher. Noch immer ist die Chancengerechtigkeit | |
ein Problem. | |
Kommentar OECD-Bildungsstudie: Bildung und Bankrott | |
Erst werden die Abiturienten durchs Turboabi gepeitscht, damit dann | |
festgestellt werden kann, dass nicht genug Studienplätze da sind. | |
Kultusminister: Bitte abtreten! |