| # taz.de -- König der Organ-Akquise: Keiner, der die Klappe hält | |
| > Claus Wesslau verficht die Organspende leidenschaftlich. Wenn sich etwas | |
| > ändern soll, müsse der Bruch mit dem gesellschaftlichen Konsens gewagt | |
| > werden, sagt der Mediziner. | |
| Bild: Hat sich an die Arbeit gemacht: Claus Wesslau. | |
| BERLIN taz | Vielleicht sollte er schweigen. Sich sagen, dass er 67 Jahre | |
| alt ist und raus. Raus aus dieser Organisation, der Deutschen Stiftung | |
| Organtransplantation (DSO), die ihn zeit seines Arbeitslebens gegängelt | |
| hat. Raus aus diesem System, das immer nur Schuldige sucht, Schuldige für | |
| die sinkende Zahl an Organspendern, Schuldige in den Krankenhäusern, die | |
| potenzielle Spender angeblich nicht erkennen, wenn es ans Sterben geht auf | |
| den Intensivstationen. | |
| Raus aus dieser liturgischen Überhöhung der Organspende, die jetzt auch die | |
| Politik erfasst hat und die verkennt, dass es Grenzen gibt. Medizinische. | |
| Juristische. Politische. Persönliche. Grenzen, die Claus Wesslau jahrelang | |
| empirisch erforscht hat und die ihm eine Erkenntnis gebracht haben: Die | |
| Zahl der Organspender wird in nennenswertem Umfang kaum zu steigern sein in | |
| Deutschland. 15 pro eine Million Einwohner sind es derzeit. 18, maximal 20 | |
| könnten es laut Wesslaus Statistik sein. | |
| Nie aber 34 wie etwa in Spanien, dem europäischen Organspendespitzenreiter. | |
| Egal, mit welch gigantischen Zahlen seine Ex-Chefs von der DSO dieser Tage | |
| hausieren gehen, egal, wie wohlmeinend das Parlament in Berlin ab heute | |
| graduelle Änderungen des Transplantationsgesetzes debattiert. Schweigen? | |
| Wesslau ist keiner, der die Klappe hält. "Wenig wird sich ändern", sagt er. | |
| "Es sei denn, wir wagen den Bruch mit dem, was bislang gesellschaftlicher | |
| Konsens war." | |
| ## Organentnahme und würdiges Sterben sind vereinbar | |
| Um die Brisanz dieses Satzes zu verstehen, muss man wissen: Claus Wesslau | |
| ist keiner dieser Zweifler, die etwa der Ansicht sind, Organentnahme und | |
| würdiges Sterben seien unvereinbar. Wesslau kennt das Geschäft, er ist, | |
| wenn man so will, Deutschlands König der Organ-Akquise. Kaum einer war so | |
| erfolgreich wie er, kaum einer verficht die Organspende leidenschaftlicher. | |
| Also fährt man raus zu ihm an einem milden Nachmittag im Advent aufs Land | |
| südöstlich von Berlin. | |
| Der Wein an der Hauswand verliert seine letzten Blätter, und drinnen im | |
| Wohnzimmer greift Claus Wesslau zu Zigaretten und einem mehrseitigen | |
| Papier. Es ist seine "Potenzialanalyse", ach was, es ist das Standardwerk | |
| zur Organspende in Deutschland, dieser Eindruck jedenfalls entsteht, wenn | |
| er darüber spricht, eine akribische Auswertung von Krankenhausdaten rund um | |
| Hirntod und Organspende aus Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern | |
| zwischen 2002 bis 2005. | |
| Erstellt von Claus Wesslau, Jahrgang 1944, Facharzt für Anästhesie in der | |
| Forschungsabteilung Organtransplantation der Charité in Berlin, Hauptstadt | |
| der DDR, und später dann, von 1997 bis zum Ruhestand, Geschäftsführender | |
| Arzt der DSO-Region Nordost. Kein anderer Kollege in den übrigen 6 | |
| DSO-Regionen konnte kontinuierlich so hohe Spenderzahlen vorweisen wie er. | |
| Wieso eigentlich, hat er sich eines Tages gefragt. "Niemand wusste, wie | |
| viele Patienten mit Hirnschädigungen es überhaupt gibt auf den | |
| Intensivstationen, bei wie vielen der Hirntod tatsächlich eintritt und | |
| warum anschließend manche Spender werden und andere nicht." | |
| ## Flächendeckende Datenerhebung fehlt | |
| Die Verzweiflung hierüber begleitet ihn bis heute, dieser Treppenwitz, dass | |
| es da eine aus Mitteln der gesetzlichen Krankenkassen finanzierte | |
| Organisation gibt, die DSO, Jahresbudget rund 44,6 Millionen Euro, die | |
| nicht bloß sämtliche Organentnahmen bundesweit verantwortet, sondern | |
| explizit deren Förderung zum Ziel hat. Und deren Vorstände dann aber zu den | |
| elementaren Voraussetzungen, die eine Organentnahme überhaupt erst möglich | |
| machen, weder systematisch noch flächendeckend Daten erheben. Bis heute | |
| nicht. "In anderen Ländern", schimpft Wesslau, "gibt es dafür eigene | |
| epidemiologische Abteilungen". | |
| Also hat er sich selbst an die Arbeit gemacht, damals, in seiner Region und | |
| ohne Budget, hat seine Kollegen für Arbeitszeiten begeistert, von denen die | |
| Gewerkschaft lieber nichts wissen möchte, und die Krankenhäuser für die | |
| Herausgabe von Patientendaten, wozu diese gar nicht verpflichtet gewesen | |
| wären. Laut Gesetz müssen die Kliniken der DSO nur jeden geeigneten Spender | |
| melden, nicht aber die Zahl der Patienten, die möglicherweise Spender | |
| hätten werden können und es dann aber aus welchen Gründen auch immer nicht | |
| wurden. | |
| "Aber genau diese Zahlen brauchen wir", Wesslau ruft es fast, "und diese | |
| Daten kriegen Sie nur, wenn Sie, anders als der DSO-Vorstand, den Kliniken | |
| signalisieren, dass es nicht um Kontrolle geht, sondern um Kooperation und | |
| Transparenz." Organspende setzt zwingend Intensivmedizin voraus. Sobald das | |
| Gehirn im Wortsinn den Geist aufgibt, entfallen sämtliche | |
| Steuerungsfunktionen. Diese übernimmt sodann die Apparatemedizin. | |
| ## Künstliche Beatmung erhält die Organe | |
| Das heißt aber auch: Nur wenn der Körper über den Tod hinaus beatmet wird, | |
| bleiben die Organe erhalten. "Man darf diesen Umstand nicht verschleiern", | |
| sagt Wesslau, auch wenn seine Daten zeigen, dass deswegen eine stetig | |
| wachsende Gruppe ausscheidet als Organspender: diejenige, die die | |
| Intensivstation erst gar nicht erreicht. Weil Patientenverfügungen dies | |
| ausschließen oder Angehörige eine palliativmedizinische Versorgung | |
| bevorzugen. Oder weil Ärzte die Auffassung vertreten, dass Betten auf der | |
| Intensivstation nicht mit Todgeweihten belegt werden sollten, sondern mit | |
| Patienten mit relativen Überlebenschancen. | |
| Dann gibt es Menschen, die zwar mit einer Hirnschädigung auf die | |
| Intensivstation gelangen, aber als Organspender nicht in Frage kommen, weil | |
| sie, Stichwort alternde Gesellschaft, beispielsweise Krebs haben oder | |
| Diabetes. Oder sie sterben an Kreislaufversagen, noch bevor der Hirntod | |
| diagnostiziert werden konnte. | |
| Claus Wesslau in seinem Wohnzimmer lehnt sich zurück. "Natürlich können Sie | |
| den Sterbeprozess lenken", sagt er. "Natürlich können Sie als Arzt das | |
| Kreislaufversagen hinauszögern." Wesslau ist ein Mann mit klaren | |
| Interessen, und für die Organspende würde er persönlich wohl ziemlich weit | |
| gehen. In seiner Zeit als Geschäftsführender Arzt habe er den | |
| Krankenhäusern den größtmöglichen "personellen Support" geboten, wie er | |
| sagt. | |
| ## Wie weit geht die Gesellschaft für ein paar Organe mehr? | |
| Wenn es etwa darum ging, die Klinikkollegen bei den aufwendigen | |
| Behandlungen und zeitintensiven Untersuchungen der Hirntoten bis zur | |
| tatsächlichen Organentnahme zu entlasten, dann schickte Wesslau zum Unmut | |
| seiner Vorstände zuweilen gleich mehrere DSO-eigene Ärzte. Wenn man ihm | |
| eine Weile zuhört, dann wird klar: Er hat die Spielräume des Systems | |
| ausgereizt. | |
| Alles Weitere wäre demnach: Grenzverschiebung. Aber wohin? Wie weit geht | |
| diese Gesellschaft für ein paar Organe mehr im Jahr? Wird sie dafür künftig | |
| festlegen: Organspendeausweis sticht Patientenverfügung? Wesslau ist nicht | |
| das Parlament. Wesslau ist Arzt. Er sagt: "Ich kann doch nicht jemanden so | |
| lange behandeln, bis er Spender wird!" | |
| ## Extreme Ablehnungsrate | |
| Zumal die Zahlen dadurch auch kaum besser würden. Es ist ja nicht so, dass | |
| Wesslau gewisse Dinge nicht probiert hätte. In Deutschland ist die | |
| Zustimmung, notfalls durch die Angehörigen, zwingend vorgeschrieben, bevor | |
| Organe entnommen werden dürfen. Zeichnete sich der Tod ab, dann, so fand | |
| Wesslau heraus, fragten die Ärzte in den Krankenhäusern die Angehörigen | |
| häufig bereits zu einem frühen Zeitpunkt, zu dem noch gar nicht klar war, | |
| ob der Sterbende jemals den Hirntod erreichen und damit als Spender in | |
| Frage kommen würde. Die Ablehnungsrate war extrem. | |
| 50, 60 Prozent, in manchen Regionen 80 Prozent. Also empfahl er, die | |
| Befragung später durchzuführen, etwa dann, wenn der Hirntod bereits | |
| eingetreten war, die Organentnahme also nicht nur eine theoretische | |
| Möglichkeit, sondern eine tatsächliche Option war. Allein: Die Ablehnung | |
| war gleich hoch. "Die Leute hatten sich zu Lebzeiten schlicht nicht mit dem | |
| Thema auseinandergesetzt und trauten sich nun nicht zuzustimmen, weil sie | |
| nicht wussten, ob dies im Sinne des Verstorbenen gewesen wäre", sagt | |
| Wesslau. | |
| ## Tabubruch riskieren | |
| Er habe sich daraufhin für mehr Aufklärung an den Schulen eingesetzt, er | |
| fand, das Thema müsse in die Familien hineingetragen werden. Das sei nicht | |
| seine Aufgabe, rügten die DSO-Vorstände. Seine Aufgabe war es nach ihrem | |
| Verständnis offenbar auch nicht, nach Spanien zu reisen und hierüber | |
| anschließend zu berichten: Dass man den Tabubruch riskiere, würde man in | |
| Deutschland die Bedingungen der spanischen Gesetzgebung anpassen. Dort gilt | |
| automatisch als Organspender, wer zu Lebzeiten nicht aktiv widersprochen | |
| hat. "Selbst wenn Sie zusätzlich noch die Angehörigen fragen, fragen Sie | |
| natürlich anders. | |
| Sie müssen dann nicht herausfinden, ob der Mensch sich jemals zustimmend | |
| geäußert hat, sondern nur noch, ob er widersprochen hat." Auch besäßen die | |
| Transplantationsbeauftragten in den spanischen Kliniken mehr Hausmacht als | |
| in Deutschland. Sie hätten fast uneingeschränkten Zugang zu den Stationen | |
| und könnten bei Verdacht auf Hirntod eine Verlegung auf die Intensivstation | |
| anordnen - eine Undenkbarkeit im deutschen Krankenhaussystem, in dem | |
| Professoren ihre Stationen hüten wie einen Gral. | |
| Es ist spät geworden auf dem Land südöstlich von Berlin. Zum Abschied sagt | |
| Claus Wesslau, dass man möglicherweise die Wunschvorstellung aufgeben | |
| müsse, es werde eines Tages in Deutschland genügend Organe für alle | |
| Wartenden geben. Und dass dies auch aus ärztlicher Sicht begründbar sei. | |
| 16 Dec 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
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