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# taz.de -- Debatte Organspende: Der deutsche Patient
> Die Regeln zur Verteilung von Organen sind ein Tumor im Gewebe des
> Rechtsstaats. Über Leben und Tod wird im Hinterzimmer entschieden.
Bild: "Die Todesstrafe ist abgeschafft", heißt es in Artikel 102 Grundgesetz. …
Organe zur Transplantation sind knapp. Die Patienten auf den Wartelisten
leiden und sterben. Die Verteilung dieser knappen Ressource stellt den
Rechtsstaat vor harte Entscheidungen. Nach welchen Prinzipien soll er
Lebenschancen an Bürger zuteilen (lassen), die an Leben oder Gesundheit
bedroht sind, wenn nicht allen von ihnen geholfen werden kann? Wer muss
weiter leiden? Wer soll sterben, wenn nicht alle leben können?
Es sagt viel über eine Gesellschaft aus, wie sie sich diesem Problem
stellt. Dabei ist klar, dass es im demokratischen Rechtsstaat von
Verfassungs wegen nur eine Instanz gibt, die Fragen von solch
existenzieller Bedeutung für die Grundrechte der betroffenen Bürger
entscheiden kann: das Parlament. Der Bundestag freilich wollte dies nicht
tun. Er hat sich weggeduckt und das Problem, bei dem es für Politiker wenig
zu gewinnen gibt, einfach umetikettiert und an die Ärzteschaft und die
Gesundheits-"Selbst"-verwaltung abgeschoben: Nach Paragraf 12 des
Transplantationsgesetzes aus dem Jahr 1997 sollen die Organe nach
"medizinisch" begründeten Regeln ("insbesondere nach Erfolgsaussicht und
Dringlichkeit") zugeteilt werden.
Dies ist aber nicht möglich. "Die These, die Verteilung erfolge nach
medizinischen Kriterien, ist falsch", heißt es etwa in der Begründung des
Schweizer Gesetzes lapidar, "die Zuteilung geschieht nach ethischen
Prinzipien. [Sie] basiert auf Wertentscheidungen." Die Frage etwa, ob der
leberkranke Patient, der unmittelbar vom Tode bedroht, aber bereits zu
krank ist, um noch langfristige Erfolgsaussichten zu haben, dem weniger
dringlichen Patienten mit besserer Prognose vorgezogen werden soll oder
nicht, kann nicht mit den Mitteln der Medizin beantwortet werden. Das
Gesetz basiert deshalb auf einem Kategorienfehler. Es regelt nichts.
Das normative Vakuum, das der Bundestag geschaffen hat, hat die
Bundesärztekammer gefüllt. Diese Organisation, die eigentlich nur den
gesetzlichen Auftrag hatte, medizinische Fakten zu sammeln, die für die
Verteilungsfrage von Bedeutung sind, hat kurzerhand "Richtlinien für die
Organvermittlung" erlassen und sich so zur Herrin über Leben und Gesundheit
der betroffenen Patienten aufgeschwungen. Die normativen
Grundentscheidungen über die Lebenschancen der betroffenen Bürger werden so
nicht von den demokratischen Institutionen getroffen, sondern, als "Fakten"
etikettiert, in den Hinterzimmern einer Einrichtung, die noch nicht einmal
den Status eines eingetragenen Vereins besitzt und die Mitglieder ihrer
"Ständigen Kommission Organtransplantation" nach Gutdünken und Opportunität
rekrutieren kann.
## Keine staatliche Aufsicht
Der Gesetzgeber hat zudem entschieden, dass die Vermittlungsstelle für die
Organe nicht (wie in Frankreich oder in der Schweiz) eine
öffentlich-rechtliche Körperschaft sein soll. Vielmehr wurde durch
privatrechtlichen (!) Vertrag mit Verbänden des deutschen
Gesundheitssystems die niederländische Stiftung Eurotransplant als
Vermittlungsstelle eingesetzt. Sie teilt in einem (immerhin technisch kaum
manipulierbaren) Verfahren die Organe bestimmten Patienten zu. Faktisch übt
sie dabei öffentliche Gewalt aus, was sie mit Blick auf Artikel 24 des
Grundgesetzes nicht darf. Bei alledem gibt es keine staatliche Aufsicht,
die Beteiligten dürfen sich vielmehr selbst kontrollieren. In diesem
intransparenten Regelungsgewirr wird es den Patienten zugleich praktisch
unmöglich gemacht, Rechtsschutz zu suchen - die Probleme beginnen hier
schon damit, dass die operativen Verteilungsregeln Eurotransplants faktisch
geheim, das heißt für die Patienten nicht zugänglich sind.
Dass die Verteilungsnormen auch im Detail genauer unter die Lupe genommen
werden müssten, zeigt die "Richtlinie", der zufolge bei Patienten mit
alkoholbedingter Leberzirrhose die Aufnahme auf die Warteliste erst dann
erfolgen darf, wenn der Patient für mindestens sechs Monate völlige
Alkoholabstinenz eingehalten hat. Nicht nur, dass es keine haltbare
medizinische Begründung hierfür gibt - in jedem Fall verstößt es gegen das
in Artikel 2, 2, 1 des Grundgesetzes garantierte Recht auf Leben und das in
ihm verankerte Prinzip der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens,
einen Patienten sterben zu lassen, nur weil er noch nicht "trocken" ist.
"Die Todesstrafe ist abgeschafft", heißt es in Artikel 102 Grundgesetz. Wir
müssten hinzufügen: Es sei denn, die Bundesärztekammer verhängt sie kraft
eigener Machtvollkommenheit aus pädagogischen Gründen über suchtkranke
Patienten.
Nach alledem kann es nicht verwundern, dass sich in der Rechtswissenschaft
längst die Einsicht durchgesetzt hat, dass das Allokationssystem des
Transplantationsgesetzes gleich mehrfach gegen das Grundgesetz verstößt.
Eine Änderung ist jedoch nicht in Sicht. Der Tumor, den das gegenwärtige
Verteilungsregime für Organe im Körper des Rechtsstaats bildet, ist der
Preis, den das politische System für die Entsorgung der Allokationsfrage
offenbar zu zahlen bereit ist.
## Solidarität der Bürger
Die gegenwärtigen Strukturen verhindern systematisch eine öffentliche
Diskussion der normativen Kriterien für die Zuteilung von Gesundheits- und
Lebenschancen. Mit ihrer Neuregelung würden wir die Möglichkeit gewinnen,
den Patienten auf den Wartelisten wenigstens Gründe für die
Verteilungsentscheidungen geben zu können, die nicht das Licht der
Öffentlichkeit scheuen müssten. Damit wäre allerdings noch kein einziges
zusätzliches Menschenleben gerettet. Um dies zu erreichen, müssten wir die
Entnahme von Organen bei Verstorbenen rechtlich angemessener und
organisatorisch effizienter regeln als die Fraktionen des Bundestags dies
gegenwärtig planen.
Hierfür brauchen wir keine weitere der meist als parlamentarische
"Sternstunden" verkauften Inszenierungen moralischer Betroffenheitsrituale,
zu denen die Diskussionen des Deutschen Bundestags zu biopolitischen Fragen
so oft verkommen. Wir brauchen vielmehr eine ernsthafte Diskussion darüber,
was wir einander als Bürger eines liberalen Rechtsstaats wechselseitig an
Solidarität schulden.
10 Jan 2012
## AUTOREN
Thomas Gutmann
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