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# taz.de -- Essay zu Christian Wulff: Der theoretische Bundespräsident
> Christian Wulff will im Amt bleiben. Doch seine Leidenschaft richtet sich
> auf die eigene Person, nicht auf das Amt. Denn das nutzt er nur als
> Karriereplattform.
Bild: Unter dunklen Wolken: Schloss Bellevue.
Seit Tagen kursiert im Netz ein Video des Komikers Oliver Kalkofe, in dem
er die "wahre Presseerklärung" des Bundespräsidenten abgibt. Das kleine
vorweihnachtliche Kabarettstückchen greift typische Formulierungen
Christian Wulffs auf und macht aus ihnen mit kleinen Veränderungen eine
Lachnummer. Doch ein Satz ist programmatisch. Er lautet: "Ich respektiere
die Pressefreiheit. Sie ist ein hohes und - theoretisch - wichtiges Gut."
Mit diesem einen Satz erfasst Kalkofe das Grundproblem des
Bundespräsidenten Christian Wulff. Wulff weiß - theoretisch - um die
Anforderungen an sein Amt und seine Amtsführung. Wulff hätte - theoretisch
- zu Beginn der Kreditaffäre aufklären und damit den ganzen Zauber beenden
können. Wulff hätte - theoretisch - ein guter Bundespräsident werden
können.
Angela Merkel wollte einen Berufspolitiker im Bundespräsidialamt. Nach dem
Rücktritt Horst Köhlers schien das die Alternative, um eine Wiederholung zu
vermeiden. So kam Christian Wulff ins Amt. Er hat einiges an politischer
Erfahrung vorzuweisen. CDU-Mitglied seit seinem 16. Lebensjahr, 16 Jahre
Landtagsabgeordneter, 14 Jahre CDU-Vorsitzender in Niedersachsen, 7 Jahre
Ministerpräsident des Bundeslandes. Das sollte reichen. Sogar fürs
Bundespräsidialamt.
Vielleicht reicht es nicht. Vielleicht reicht die Idee des heutigen
Berufspolitikers von seinen Aufgaben und Pflichten nicht mehr aus, um ein
Amt auszufüllen, wie das des Bundespräsidenten einmal gedacht war.
Vielleicht hat SPD-Chef Sigmar Gabriel das Problem auf den Punkt gebracht,
als er stichelte, Wulff bringe nur "eine politische Laufbahn" mit, sein
Gegenkandidat Gauck hingegen habe "ein Leben" vorzuweisen.
## Der Berufspolitiker
Max Weber spricht in seinem berühmten Vortrag zu "Politik als Beruf" aus
dem Jahr 1919 von zwei Arten, Politik zu machen: "Entweder man lebt ,für'
die Politik - oder aber: ,von' der Politik." Christian Wulff hat lange von
der Politik gelebt. Ob er für sie lebt, steht derzeit wieder einmal in
Frage.
Es mag für die Bundeskanzlerin bequem sein, einen Berufspolitiker ins Amt
zu heben. Nur ist das Amt des Bundespräsidenten ja eben keines der
Berufspolitik, sondern eines, das nahezu über den drei Staatsgewalten
schwebend betrachtet wird. Als gänzlich freischwebend ist es allerdings
nicht gedacht. Die Anforderungen an moralische Integrität, politische
Autorität und Unabhängigkeit sind beim Bundespräsidenten hoch. Wären sie es
nicht, bräuchten wir dieses Amt nicht mehr.
Christian Wulff weiß das. Theoretisch. Er spricht es bei vielen seiner
Auftritte und öffentlichen Reden an. Und es wirkt immer, als habe da jemand
etwas eingeübt, das er aufgenommen, aber doch nicht in seinem Wesenskern
begriffen hat. Bei Christian Wulff geht es im gesamten vermeintlichen
Aufklärungsprozess der Kreditaffäre theoretisch um die Sache. Praktisch
geht es um ihn selbst.
Christian Wulff fordert Respekt vor dem Amt ein und lässt diesen doch
selbst vermissen. Er will nicht das Amt vor Beschädigung schützen, sondern
das, was dieses Amt ihm und seiner Familie ermöglicht. Er ist der
engagierteste Personenschützer in eigener Sache, den ein Bundespräsident
jemals hatte. In dieser Hinsicht war das Fernsehinterview am Mittwochabend
eine Selbstoffenbarung.
## Leidenschaft, Verantwortung und Distanz
Max Weber sieht drei Voraussetzungen für einen guten Politiker. Die
leidenschaftliche Hingabe an die Sache, die Verantwortlichkeit gegenüber
der Sache sowie Augenmaß und Distanz zu den Dingen. Das passt noch heute
gut, insbesondere zu den Vorstellungen, die mit dem Amtsträger im
Bundespräsidialamt verbunden sind. So weit die Theorie. Aber was ist mit
der Praxis?
Christian Wulffs Umgang mit der Wahrheit ist ein taktischer. Das hat sich
selbst mit dem Fernsehinterview nicht geändert, nachdem die BW-Bank bereits
wieder der Darstellung des Bundespräsidenten widersprochen hat. Wahrheit
ist kein Selbstwert in diesem vermeintlichen Aufklärungsprozess. Wahrheit
ist ein Instrument, das portioniert zum Einsatz kommt, wenn es nicht mehr
anders geht.
Selbst die notwendige faktische Aufklärung versucht der Bundespräsident zu
seinen Gunsten zu instrumentalisieren und macht daraus eine
Transparenz-Offensive, die "unsere Republik offenkundig auch zu mehr
Transparenz positiv verändern" soll. So wird die verspätete Reaktion in
Verteidigung zum proaktiven Impuls für unsere politische Kultur umgedeutet.
Es setzt schon eine gewisse Portion Dreistigkeit voraus zu glauben, so
einfach könne man sich zum politischen Erneuerer stilisieren. Die
leidenschaftliche Hingabe an Transparenz (eigentlich nur: das
selbstverständliche Maß) hätte Wulff in der Landtagssitzung, in der es um
seine geschäftlichen Beziehungen zu Egon Geerkens ging, und auch bei den
ersten Recherchen diverser Medien zu seinem Haus in Hannover beweisen
können. Aber das hat er nicht getan.
## "Ein bisschen demütiger und lebensklüger"
Christian Wulff denkt das Amt als seine Errungenschaft, die er so schnell
nicht aufgeben will. Er will im Amt bleiben und sich darin schützen. Seine
Leidenschaft richtet sich auf die eigene Person, nicht auf das Amt. Damit
das nicht noch offenkundiger wird, kann er nicht ,ich' sagen, wo es nötig
wäre. "Man wird ein bisschen demütiger, man wird lebensklüger", mit solchen
Sätzen spricht Wulff von sich in der dritten Person, so als ginge es gar
nicht um ihn, sondern um irgendeinen bedauernswerten Menschen. Er hätte es
auch passivisch sagen können, wie Karl-Theodor zu Guttenberg im Februar
2011: "Es wurde zu keinem Zeitpunkt bewusst getäuscht."
Welche Verantwortlichkeit gegenüber der Sache mögen wir einem
Bundespräsidenten zugestehen, der es bei Kritik an seinem Finanz- und
Informationsgebaren nicht unterhalb der Kategorie der Menschenrechte macht?
Wulff hat Recht mit dem Satz "Es gibt auch Menschenrechte selbst für
Bundespräsidenten". Offenbar reicht diese allgemeine Annahme aus seiner
Sicht aus, missliebige Berichterstattung unterbinden zu können. Wie
schwierig aber die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und dem
Grundrecht der Pressefreiheit ist, könnte der Bundespräsident, der auch
Jurist ist, wissen.
Theoretisch weiß der Bundespräsident, dass Pressefreiheit ein hohes Gut
ist. Praktisch kann diese Erkenntnis sich bei ihm nicht durchgesetzt haben.
Unvorstellbar, dass er sonst nach einigen allgemeinen Worten zur
Pressefreiheit als "beste Grundlage für eine erfolgreiche gesellschaftliche
Entwicklung" in Kuwait zum Telefon greift und einige Drohungen auf der
Mailbox des Bild-Chefredakteurs hinterlässt. Ist der Mann schizophren? Lebt
er in zwei Wirklichkeiten?
Nein, er lebt in der Wirklichkeit des Christian Wulff, die Rechte und
Ansprüche vor allem in der Verantwortlichkeit für die eigene Person und die
ihr Nahestehenden kennt. Dieser Wirklichkeit der Wulffs war die
Berichterstattung der Bild-Zeitung über das glamouröse Leben des
Präsidentenpaares lange dienlich. Das ist nun anders. Und dass der
Bundespräsident in dem bizarren Streit um Mailboxwortlaute nun die
Bild-Zeitung als Retter der Pressefreiheit auf den Schild befördert, ist
nur ein weiterer Treppenwitz in seltsamen Zeiten.
## "Auf dem Weg zu mir"
Christian Wulff will jetzt lernen, ein guter Bundespräsident zu sein. Er
kann nicht alle Bundesbürger einzeln anrufen, um ihnen eine Statusnachricht
auf der Mailbox zu hinterlassen. Diesmal nicht "Bin auf dem Weg zum Emir",
sondern: "Bin auf dem Weg zu mir." Aber er will im Umgang mit seinen
Fehlern "Lernfortschritte unter Beweis stellen".
Stellt er sich künftig selbst ein Halbjahreszeugnis über diese Fortschritte
aus? Und wo soll der Lernprozess enden? In der Perfektion eines
Präsidentendarstellers, dem es immer besser gelingt, die Rolle der obersten
politischen Autorität in Deutschland zu spielen? Theoretisch ist Wulff
sicher in der Lage, praktisch dazuzulernen. Ob er dadurch an Augenmaß und
Distanz zu den Dingen, vor allem zu sich selbst gewinnt, weiß keiner.
Ist es spießig, altmodisch oder weltfremd, sich einen Bundespräsidenten zu
wünschen, der die Lernprozesse für das Amt vor Amtsantritt durchlaufen hat?
Der als moralische Autorität gilt und zu wichtigen Fragen der Zeit Stellung
nehmen kann, ohne ständig durch die eigenen Vorbelastungen schon bei
Begriffen wie "rechtens", "Kredit" oder "Pressefreiheit" stumm bleiben zu
müssen? Der das Amt als Gabe und sich selbst als zeitlich begrenzten
Amtsträger sieht? Wenn das spießig, altmodisch oder weltfremd ist, dann
gilt das auch für Amt des Bundespräsidenten. Dann brauchen wir es nicht
mehr.
Ganz unabhängig von diesem speziellen Amt aber gilt: Politiker wie
Christian Wulff, die ein Amt vor allem als Karriereplattform, Wahrheit als
taktisches Instrument und Pressefreiheit als theoretische Herausforderung
ansehen, schaden dem Berufsstand der Politiker, vor allem aber der
politischen Kultur, denn sie lassen das Vertrauen der Bürger in die Politik
weiter degenerieren.
Wenn nicht mal der erste Mann im Staate beispielgebend dafür ist, dass er
nicht nur "von", sondern vor allem "für" die Politik, sprich das politische
Wohlergehen eines Landes lebt, dann dürfen wir uns über die vielen anderen,
die Amts- und persönliche Interessen locker vermischen, nicht wundern. Dann
wird die politische Ich-AG zum Normalfall. Dann schützt uns nichts mehr vor
den politischen Personenschützern in eigener Sache.
6 Jan 2012
## AUTOREN
Miriam Meckel
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