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# taz.de -- Debatte um Bundespräsidenten: Wasser, Wein und Wulff
> Würdelos bleibt Christian Wulff im Amt. Doch was bedeutet das nicht bloß
> für das Ansehen der Regierung, sondern für die Zukunft unserer
> Demokratie?
Bild: Übt sein Amt gern aus: Werden Bundespräsident Christian Wulff und sein …
Unser Bundespräsident kritisiert die unredlichen, undurchschaubaren, ja
betrügerischen Machenschaften im Finanzsektor. Zu Recht. Er plädiert in
jeder seiner Reden - was übrigens soll er sonst tun? - für Fairness und
Aufrichtigkeit. Zu Recht. Er lobt die Pressefreiheit als hohes Gut. Zu
Recht.
Sein Job ist es, immer wieder wird es von allen Seiten betont, moralische
Autorität zu demonstrieren. Jeder in diesem Land darf Wasser predigen und
Wein trinken. Er nicht. Exakt deswegen ist es nicht ein Skandal, sondern
ein Debakel, dass er gegen die von ihm - zu Recht - aufs moralische Podest
erhobenen Werte so eklatant verstößt.
Es bezeichnet nicht zuletzt eine Krise unseres republikanischen Consensus.
Die Konstruktion des demokratischen Systems samt der Hierarchie seiner
Autoritäten war beim zweiten deutschen Demokratieanlauf der Versuch, eine
Lehre aus dem Desaster des Nationalsozialismus zu ziehen.
Unsere Verfassung beruht deshalb nicht nur auf einer klaren
Gewaltenteilung, sondern auch auf der wohlkalkulierten Balance zwischen
gesatztem Recht, politischer Autorität und exemplarisch gelebter Moral:
nicht irgendeiner, sondern der des Citoyens.
## Moralisches Gegengewicht zum Regierungschef
Für Letzteres steht das Amt des Bundespräsidenten, vom jeweiligen
Amtsträger wird nicht weniger erwartet, als es zu verkörpern. Seine
politisch schwache Stellung ist die starke Basis seines moralischen
Auftrags - das handlungsentlastete Gegengewicht zum richtlinienkompetenten
und entsprechend dem Rollenmodell ellenbogenrobust agierenden
Regierungschef.
Man mag das kritisieren, aber es ist die Konstruktion, die sich beim
politischen Wiederaufstieg Deutschlands nach 1945 bewährt hat. Alle
Präsidenten haben es bisher vermocht, die Ausnahmestellung des
Staatsoberhaupts mehr oder weniger überzeugend darzustellen.
Das gilt selbst für einen Mann, der - heute würde man ihm wohl einfach
Altersdemenz bescheinigen - durch seine überraschenden Einlassungen für
seltene Momente der Heiterkeit im politischen Geschäft sorgte. Heinrich
Lübke mag eine tragikomische Figur gewesen sein - an seiner bodenständigen
Integrität und moralischen Dignität gab es trotz seiner manchmal grotesken
Auftritte keine Zweifel.
Heute ist die moralische Schlacht um die Stellung des Bundespräsidenten
indes längst geschlagen: So wie Funk, Presse und Fernsehen sich über Wulff
äußern, so wie die berühmten "Männer und Frauen von der Straße" in der
U-Bahn, beim Friseur, im Supermarkt von ihm reden, wie die Schülerinnen,
Azubis und Studierenden ihren verächtlichen Witz am ersten Mann des Staates
üben - all das sagt mit großer Deutlichkeit: Es ist vorbei.
Entweder mit dem Bundespräsidenten Wulff oder mit der Würde und
Glaubwürdigkeit des Amts. Dass Wulff, dieser norddeutsch steife Mann ohne
Ausstrahlung, an dessen rhetorischen Fähigkeiten selbst seine NLP-Trainer
verzweifelten, nicht der Richtige für dieses Amt ist, wussten indes alle
schon vor seiner Wahl.
Es war Kennzeichen des intakten Machterhaltungsinstinkts der Kanzlerin und
ihrer Bereitschaft, taktische Überlegungen jederzeit über inhaltliche
Entscheidungen zu stellen, damals Wulff zu nominieren. Dass sie jetzt an
ihm festhält, ist Ausdruck schieren Überlebenswillens. Mit Wulff wäre ein
weiteres Stück ihres Standings dahin.
Aus ihren Stellungnahmen spricht die Logik von Durchhalteparolen, die
einfach zu lapidar sind, um wirklich an Sportpalastreden zu erinnern. Wulff
hingegen ist und wird das mit jedem öffentlichen Auftritt in eigener Sache
mehr, was kein erster Mann in gleichgültig welchem Staat je sein darf:
peinlich. Hochnotpeinlich. Was noch etwas mehr ist als nur unglaubwürdig.
## Wer von unten kommt, darf keine dummen Fehler machen
Peinlich ist er nicht zuletzt wegen der mangelnden Professionalität, die er
im Umgang mit Bild-Zeitung & Co gezeigt hat. Ein seltsam gemischtes Bild
übrigens: Wulff trägt die Stigmata des in der Politik immer bestimmender
werdenden Aufsteigerprofils: durch Politik etwas werden - mit anständigen
Gehältern und guten Pensionsansprüchen. Und so viel Highlife dazu, wie es
Bunte und Stern ertragen können und wollen.
Die Voraussetzung dafür ist, keine allzu dummen Fehler zu machen. Der
Charme des Aufsteigers ist eng mit seinem ewigen Trauma verknüpft: Wer von
unten kommt, muss ein stimmiges Bild seines Erfolgs bieten. Wulff, der
heute als Entschuldigung geltend macht, es habe keine Karenz zwischen
seinem Amt als Ministerpräsident und dem des Bundespräsidenten gegeben,
trägt diese ambivalente Mentalität mit seinen Ausflügen in die anders
korrupte Welt der Geschäftsfreunde nicht nur erkennbar in seiner
charakterlichen Physiognomie, er trägt sie auch ins höchste Amt.
Und verletzt dessen staatstragende Aura damit tödlich. Erinnern wir uns:
Wulffs sozialdemokratischer Amtsvorgänger in Niedersachsen, Herr Glogowski,
stolperte über ein paar Kästen Bier, die ihm von einer Brauerei für eine
private Feier zur Verfügung gestellt worden waren und trat zurück.
## Eine Zumutung im Amt
Tatsächlich: Kanzler dürfen Krisen aussitzen, Präsidenten nicht. Minister
dürfen Bauernopfer (sehr beliebt: Pressesprecher) machen, um zu überleben.
Präsidenten nicht. Und nicht zuletzt: Es ist von empfindlicher
Zumutungsqualität, wenn dem ersten Mann des Staates Intelligenzmangel
attestiert werden muss. Den hat Wulff mit seiner Diekmann/Döpfner-Aktion
nachdrücklich unter Beweis gestellt.
Seine Strategie, damit umzugehen, heißt: Sich mit flackernden Augen und
partiellem Stimmversagen im Fernsehen zu entschuldigen und Besserung
zusammen mit der kecken Bekundung zu geloben, das hätte es noch nicht
gegeben. Wulff ist also der erste erste Mann im Staat, der sich
entschuldigt? Und daraus seine Raison dÊtre ableitet? Seltsam.
Wenn Wulff mit dieser Argumentation im Amt bleibt, im Amt bleiben kann,
kommt das einer stillen Abschaffung dieser zentralen Institution der
deutschen Demokratie nahe. Vielleicht nicht ganz unzeitgemäß. Deutschland
hat sich zu einem Staat gemausert, bei dem kaum jemand mehr Angst vor einer
präsidialen Demokratie und damit einem "starken Mann", einem Führer, gleich
welchen Geschlechts, hätte.
Es ist nur die Frage, ob man das will. Zweifellos mehr als nur eine
Stilfrage. Das Verhalten und Zusammenspiel von Kanzlerin und
Bundespräsidenten werden in diesem Vertrauensfall über mehr als den
vorbildlichen verantwortungsethischen Abgang oder das unrühmliche
Amtsverbleiben des Staatsoberhaupts entscheiden.
Es geht auch um mehr als das Überleben einer wackligen Regierung. Es geht,
sagen wir es ruhig so drastisch, um die gelebte und lebbare
Verfassungswirklichkeit unseres Staates als Lebenswirklichkeit. Nur scheint
diese Einsicht noch nicht ins Bewusstsein der politisch Verantwortlichen
gedrungen zu sein. Schade eigentlich.
9 Jan 2012
## AUTOREN
Christian Schneider
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