# taz.de -- Zivilgesellschaft in Russland: Mit der Angelrute auf die Straße | |
> Angeln ist Nationalsport in Russland. Die Hobbyfischer sind verärgert, | |
> weil die Seen privatisiert werden sollten. Nicht nur in Moskau rumort es, | |
> auch in Tatarstan. | |
Bild: Minus 20 Grad? Na und? Angeln muss man trotzdem in Russland. | |
KASAN taz | "Wenn die Arbeit vom Angeln abhält, lass das Arbeiten sein", | |
sagt Wiktor Stepanzow mit einem Schmunzeln. Das sei ein traditioneller | |
Wahlspruch russischer Anglerfreunde. Der Endvierziger ist einer der Gründer | |
des neuen Anglerbundes in Kasan, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik | |
Tatarstan, 700 Kilometer östlich von Moskau. | |
Stepanzow ist hochgewachsen wie ein Basketballer und hat die Schultern | |
eines Eishockeyspielers in voller Montur. Angeln ist nicht nur sein Hobby, | |
es ist auch so etwas wie eine Lebensphilosophie, meint er. Für viele seiner | |
Landsleute sei das Fischen die wichtigste Quelle der Erholung. Nur Pilze | |
sammeln ist in Russland noch beliebter als angeln. | |
Der neue Anglerbund kann sich vor Zulauf gar nicht retten. In vielen | |
kleineren Städten der Republik am Fuße des Urals hat sich die | |
Anglergemeinde inzwischen in Vereinen zusammengeschlossen. Angeln war | |
bisher ein individuelles Vergnügen, zu dem man noch einen guten Freund | |
einlud und die ein oder andere Flasche Wodka mitnahm. Um das Warten zu | |
überbrücken. | |
Im letzten Jahr war es mit der Angelbeschaulichkeit an den Ufern der Wolga | |
plötzlich vorbei, erzählt Stepanzow, der ein Tourismusunternehmen in Kasan | |
leitet. Die Republik verabschiedete still und leise ein Gesetz, das die | |
Privatisierung von Seen, Flüssen und Ufergrundstücken vorsah. Die am Wasser | |
gelegenen Immobilien wurden öffentlich ausgeschrieben. Schon nach einer | |
Woche waren mehr als 90 Prozent verkauft. Die Strände an der Kasanka, einem | |
Nebenfluss der Wolga, der die alte Gouvernementsstadt Kasan in zwei Teile | |
trennt, waren über Nacht in Privatbesitz übergegangen. Wer vor der Tür | |
baden oder angeln wollte, sollte dafür fortan einen Obolus errichten. | |
Doch damit nicht genug: Es stellte sich heraus, dass sich die Bürokratie | |
den Löwenanteil der Immobilien für einen geringen Preis unter den Nagel | |
gerissen hatte. "Die einzige Ressource, die die Beamten noch nicht zu Geld | |
gemacht haben, ist die Luft", lacht Stepanzow. | |
## Spontane Demonstration | |
Die Fischerfreunde gingen auf die Straße. Slogans wie "Die Wolga ist nicht | |
nur ein Fluss, sie ist unsere Heimat" und: "Jedes Gesetz hat auch einen | |
Autor" montierten die Demonstranten an ihre Angelruten. 5.000 Hobbyfischer | |
kamen spontan im Zentrum Kasans zusammen. Die Polizei sei aus allen Wolken | |
gefallen, meint Stepanzows Kollege Oleg Masanow, sie wollte die Versammlung | |
auflösen. Als die Menge drohte, noch Freunde und Familienmitglieder | |
anzurufen, sei der Polizeikommandant blass geworden und habe sich | |
zähneknirschend zurückgezogen. | |
"40.000 Demonstranten hätten wir ohne Weiteres zusammenbekommen", sagt | |
Masanow. Er ist der Stratege des Anglerbundes. "15 bis 20 Millionen Angler | |
gibt es in Russland, soll das keine ernst zu nehmende Kraft sein?", fragt | |
er. Mit Familienangehörigen und Freunden seien das 100 Millionen, ein | |
politischer Faktor, ergänzt Stepanzow. | |
Stepanzow ist ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft. Er sitzt in der | |
Volkskammer der Republik. Das war bislang ein vom Staat handverlesenes | |
Organ, das die seit Putin unterdrückte Zivilgesellschaft doubeln sollte. In | |
ihren Reihen wird jetzt Unmut laut. Die Privatisierungen wurden im | |
Eilverfahren annulliert - "ebenso schnell, wie sie durchgezogen wurden", | |
sagt Stepanzow. Für die Beamtenschaft war dies eine Schlappe. Sie trat den | |
Rückzug an, gibt aber noch nicht auf. Jetzt soll nur noch angeln dürfen, | |
wer einen Anglerschein besitzt, fürchten die Aktivsten. | |
Im November kurz vor den Dumawahlen gingen wieder Tausende auf die Straße | |
und forderten ein Anglergesetz, das das Problem endgültig aus der Welt | |
schafft. "Sonst führen sie noch einen Zähler an der Rute ein, der jeden | |
Angelwurf kostenpflichtig macht", sagt Maxim Komarow, Anwalt des Verbands. | |
Das Misstrauen gegen den Staat sitzt tief. | |
Die Hobbyfischer geben nicht auf. Ein russlandweiter Verband wurde | |
gegründet. "Früher hatten wir keinen rechtlichen Status und wurden | |
belächelt. Heute muss der Staat mit uns rechnen", sagt Komarow. Den | |
Aktivisten geht es nicht nur um die Eigentumsrechte, sie wollen sich auch | |
für die Umwelt und den Gewässerschutz einsetzen. | |
## "Korruption, Rechtsnihilismus und Staatsversagen" | |
Als im letzten Sommer der Ausflugsdampfer "Bulgaria" in der Wolga unweit | |
von Kasan mit 125 Menschen an Bord unterging, mussten sich die Taucher erst | |
durch kilometerlange illegal ausgelegte Fangnetze schneiden. Auch hier | |
liegt der Verdacht nahe, dass die korrupte Bürokratie daran mitverdiente. | |
Die "Bulgaria" war ein fahruntüchtiges Schiff, das eigentlich hätte | |
stillgelegt werden müssen. Es lief aus, obwohl es Schlagseite hatte und nur | |
eine Maschine funktionierte. "Die Ermittlungen sind abgeschlossen", sagt | |
Robert. Er ist Anwalt, stand früher in Polizeidiensten und genießt einen | |
ausgezeichneten Ruf. In den Zeiten des kapitalistischen Umbruchs säuberte | |
er Kasan, das damals als Mafiahochburg verschrien war. | |
Robert erhielt den Auftrag, die Hintergründe des Unglücks zu ermitteln. | |
"Korruption, Rechtsnihilismus und Staatsversagen, wohin du schaust", sagt | |
er. Im März wird das Verfahren gegen mehrere Hauptverdächtige eröffnet. Das | |
Unglück schlug so hohe Wellen, dass die Bürokratie die Nachforschungen | |
nicht nur eigenen Ermittlern überlassen wollte. Verdunklung hätte den | |
Volkszorn noch stärker entfacht. | |
Robert teilt sich ein kleines Einraumbüro am Stadtrand mit einem anderen | |
Anwalt. Er ist kein geschniegelter Advokat in Zweireiher und handgenähten | |
Schuhen. Das Schuhwerk ist derb, mit dicken Sohlen, sonst würde er über die | |
gefrorenen Schneeberge auch nicht ins Büro gelangen. Kasans Bürgersteige | |
werden nicht geräumt, sie sind spiegelglatte Reliefs einer | |
Mittelgebirgslandschaft. | |
Einer der Hauptverdächtigen sei schon zu Tode gekommen, sagt Robert. "Es | |
sah wie Selbstmord aus, doch daran glaube ich nicht." Mit einem Wort: | |
Entsorgung von Belastungszeugen. Seit er die Ermittlungen abgeschlossen | |
hat, versucht Robert, Moskau dazu zu bewegen, ein Gesetz darüber zu | |
verabschieden, dass die Überwachung der Fahrtüchtigkeit von Schiffen nicht | |
nur anhand von Dokumenten geprüft wird, sondern sie auch inspiziert werden | |
müssen. Die Eingabe an die Regierung Wladimir Putins blieb bislang | |
unbeantwortet. | |
Die Republik Tatarstan ist ein schwieriges Pflaster. Nach dem Zusammenbruch | |
des Kommunismus gab es starke Unabhängigkeitsbestrebungen der | |
turksprachigen Republik. Sie schlugen fehl, aber Republikchef Mintimer | |
Schamijew ertrotzte sich vom Kreml dennoch mehr Freiheiten, als andere | |
Regionen haben. Das reiche Tatarstan hat nicht nur große Ölvorkommen und | |
intakte Industriebetriebe. Die tatarische Geschichte, die auf den | |
mongolischen Eroberer Dschingis Khan und die Goldene Horde zurückgeht, die | |
das schwache Moskowien zwei Jahrhunderte beherrschte, ist immer noch Anlass | |
für Misstrauen und Animositäten. Im Unterschied zu Moskau investierte Kasan | |
schon in den 1990er Jahren in weiterverarbeitende Industrien und ging bei | |
der Privatisierung umsichtiger vor. Die wirtschaftlichen Krisen Ende der | |
90er und 2008 verkraftete es leichter als das Mutterland. | |
## Revolutionäre Tradition | |
Leonid Toltschinski von der staatlichen Agentur Tatar-Inform preist die | |
Politik in höchsten Tönen. Als Chef der Agentur ist er so etwas wie | |
Informationsminister. Vor ihm auf dem Schreibtisch steht das Motto | |
"Schlechte Nachrichten nicht erwünscht". Toltschinski schaut auf den | |
Bildschirm, um das Ereignis des Tages nicht zu verpassen. Wladimir Putin | |
wird in Tatarstan erwartet, kommt aber wie üblich zu spät. | |
Die Erfolgsgeschichte, die der Chef erzählt, belegt eigentlich, dass | |
Russland vom Föderalismus nur profitieren kann. Seit Wladimir Putin die | |
Amtsgeschäfte übernahm, steht der Föderalismus jedoch nur noch auf dem | |
Papier. Der Nachfrage weicht Toltschinski aus und belegt damit das Dilemma | |
der Republik. Durch Fahnentreue nach außen versucht man im Innern möglichst | |
viel Freiraum zu bewahren. Die Herrschenden vollziehen einen Eiertanz. Das | |
rächt sich nun, da die Herrschaft in Moskau ins Trudeln gerät. Nach den | |
manipulierten Dumawahlen im Dezember gingen auch in Kasan 7.000 Menschen | |
demonstrieren. | |
Oleg Belgorodski von der unabhängigen Organisation der Wahlbeobachter, | |
"Golos", zweifelt an dem offiziellen Wahlergebnis, das der Kremlpartei mehr | |
als 75 Prozent bescheinigte. Seit Jahren überwachen sie mehrere Wahlkreise. | |
"Die sind inzwischen sauber, weil die Wahlleiter nicht mehr betrügen und | |
die Regierung aufgegeben hat." Dort hätten nicht mal 40 Prozent für die | |
Kremlpartei gestimmt. | |
Für den Andrang freiwilliger Beobachter vor den Präsidentschaftswahlen am | |
4. März muss Golos sogar Sonderkurse einrichten. Kasan kann auf | |
revolutionäre Tradition verweisen. Vor der Relegation wegen aufrührerischer | |
Umtriebe studierte einst Revolutionsführer Wladimir Lenin an Kasans Alma | |
Mater. Vor dem Denkmal des Studenten Lenin an der Uni liegen frische rote | |
Nelken. Einen Steinwurf entfernt, im Kulturpalast Unix warnen unterdessen | |
aus Moskau eingeflogene Professoren die Studenten vor den Folgen einer | |
Orange Revolution. Den Protestaufrufen nicht zu folgen und zu Hause zu | |
bleiben sei die einzige vertretbare Haltung, beschwört die Dozentin die | |
Studenten. | |
23 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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