| # taz.de -- Schriften zu Zeitschriften: Die Flucht ins Private | |
| > Die aktuelle Ausgabe der Kulturzeitschrift "Transit" wirft vor der | |
| > Präsidentenwahl ein analytisches Licht auf den Wandel in Russland: Die | |
| > Aussichten sind deprimierend. | |
| Bild: Ballons gegen Putin: Protestaktion am Sonntag in Moskau. | |
| Seit Ende 2011 geschieht in Russland etwas, was viele Beobachter lange Zeit | |
| für unmöglich hielten: Hunderttausende demonstrieren seither gegen die | |
| Macht Wladimir Putins, der seiner dritten Präsidentschaft entgegenstrebt. | |
| Ist das der Anfang vom Ende des "Putinismus"? Folgt dem Arabischen Frühling | |
| des Vorjahres alsbald eine neue Russische Revolution? | |
| Herausgeber und Autoren der gerade erschienen Ausgabe der Zeitschrift | |
| Transit – Europäische Revue (Heft 42) geben sich skeptisch: Das System sei | |
| zwar "angeschlagen", heißt es im Vorwort des Themenhefts über Russland. | |
| Aber Putin werde seine Macht "wohl nicht so rasch verlieren". | |
| Was die Demonstranten in Russland derzeit antreibt, ist ihr Unmut über die | |
| bestehenden Verhältnisse. Aber sie teilen keine gemeinsame Zukunftsvision, | |
| und offenkundig mangelt es ihnen an einem sie einenden Oppositionsführer. | |
| Der schillernde Milliardär Michail Prochorow beispielsweise, der gegen | |
| Putin antritt und ihn in der Öffentlichkeit scharf attackiert, gilt vielen | |
| als Zählkandidat des Kremls, als liberaler Köder für die unzufriedene | |
| Mittelschicht. | |
| ## Dokument der Dynamik | |
| Transit, die in Wien vom Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) | |
| herausgegeben wird, beleuchtet Hintergründe, Ausgangsbedingungen und | |
| Entwicklungspotenziale in Russland. Die Ausgabe ist dabei auch ein Dokument | |
| jener überraschenden Dynamiken geworden, die bei der Konzeption kaum | |
| erwartbar waren. | |
| Dies gilt zumal für das sehr aufschlussreiche Interview mit Gleb Pawlowski, | |
| der als Zeitzeuge Auskunft über die späte Sowjetunion sowie | |
| postsozialistische Machtmetamorphosen gibt. Der ehemalige Dissident war | |
| Berater Putins und Medwedjews, wurde aber im vergangenen April überraschend | |
| entlassen. Das Interview mit ihm datiert jedoch bereits auf März 2011. Hier | |
| wäre es ratsam gewesen, den Beitrag noch um einen Nachtrag zu ergänzen, | |
| denn zum Zeitpunkt des Interviews erwartete Pawlowski eine zweite Amtszeit | |
| Medwedjews. | |
| Mitherausgeber Iwan Krastew, der als Fellow am IWM den Schwerpunkt "Die | |
| Zukunft der Demokratie" leitet, beschreibt in seinem Eröffnungsbeitrag | |
| Russlands "gelenkte Demokratie" als einen neuen Typus von Autokratie unter | |
| den Bedingungen der Globalisierung: "gemäßigt repressiv, kapitalistisch und | |
| in die Weltwirtschaft integriert, auf den Ruinen der traditionellen | |
| Gesellschaft errichtet, nicht ideologisch". | |
| Krastew verweist, wie auch der New Yorker Staatswissenschaftler Stephen | |
| Holmes, zu Recht darauf, dass sich eine Demokratie nicht gleichsam | |
| "naturwüchsig" nach dem Zusammenbruch eines autokratischen Systems ergibt. | |
| Während Kritiker wie Apologeten Putins (aus unterschiedlichen Motiven) | |
| gleichermaßen dazu neigen, die 1990er Jahre und das Jahrzehnt danach zu | |
| kontrastieren, betont Holmes zudem die „unterschwelligen Kontinuitäten“ | |
| zwischen der Jelzin- und der Putin-Ära. | |
| Wenig Anlass zu Hoffnung auf einen kurzfristigen Wandel gibt auch Wladislaw | |
| Inosemzew, Direktor des Zentrums zur Erforschung der postindustriellen | |
| Gesellschaft. Aufgrund der Flucht der Bevölkerung ins Private hält er das | |
| gesellschaftliche Protestpotenzial für weitgehend verloren gegangen. | |
| Eine "wirkliche Modernisierung" werde erst beginnen, wenn Russland "am | |
| Rande des Zusammenbruchs steht und die Ära Putin als eine Zeit angesehen | |
| wird, in der das Land eine schlimmere Ausplünderung über sich ergehen | |
| lassen musste als in jeder anderen Epoche der letzten Jahrhunderte". Dass | |
| dies innerhalb der nächsten Dekade geschieht, erscheint ihm jedoch völlig | |
| undenkbar. | |
| ## Russischer Trend zur Nostalgie | |
| Dies mag auch am russischen Trend zur Nostalgie liegen, für den die enorme | |
| Popularität Stalins als vermeintlich effektiver Manager symptomatisch ist | |
| und den Rossen Djagalov als "eine Form der Kritik an der Gegenwart" | |
| interpretiert. Zugleich kritisiert er die russische Intelligenzija dafür, | |
| ein stark ausgeprägtes Ressentiment gegen das Volk zu hegen, anstatt diesem | |
| "zu helfen, eine Sprache zu finden". | |
| Vor knapp zwei Jahrzehnten führte die Schwäche des Systems zum Untergang | |
| der Sowjetunion, nicht etwa die demokratische Mobilisierung. Die Analogie | |
| drängt sich geradezu auf: Stephen Holmes jedenfalls ist davon überzeugt, | |
| dass das bestehende System nur zusammenbrechen werde, wenn "ein | |
| ineffizienter Kreml" es geschehen lasse, "dass Rivalitäten unter | |
| raubgierigen Insidern außer Kontrolle" geraten. Diese Aussicht ist in einem | |
| gewissen Maße deprimierend, aber auch nicht hoffnungslos. | |
| 27 Feb 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Boris Spernol | |
| ## TAGS | |
| Zeitschriften | |
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