| # taz.de -- Neonazis in Russland: "Russischer Führerkult à la Mussolini" | |
| > Nach offiziellen Angaben wurden 2009 in Russland mindestens 97 Menschen | |
| > von Rechtsradikalen ermordet. Zwei Journalisten aus Moskau diskutieren | |
| > über die heutige Situation. | |
| Bild: Ein Kind wirft einen Schneeball auf ein Mitglied eines historischen Milit… | |
| taz: Frau Prusenkova, Herr Chernykh, werden Neonazis in Russland | |
| gerichtlich verfolgt? | |
| Nadezhda Prusenkova: Die Mörder von Anastasia Baburowa und Stanislaw | |
| Markelow wurden 2011 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Aber bis dahin | |
| war es ein langer Weg. Die zuerst benannte Richterin legte ihr Amt nieder, | |
| weil sie bedroht worden war. Dann gelang es nicht, die nötige Zahl von | |
| Geschworenen zusammenzubekommen. Sehr lange suchte man nach einem Anwalt | |
| für die Angehörigen der Opfer. Zu viele fürchteten um ihr Leben. Und Schutz | |
| vor den Nationalisten konnten sie sich weder vom Gesetz noch von den | |
| Behörden erwarten. | |
| Wenn die Behörden so einen Prozess wollen, warum schützen sie die | |
| Protagonisten nicht? | |
| Prusenkova: Zustande kam der Erfolg hier nur wegen eines außergewöhnlichen, | |
| von seiner Aufgabe begeisterten jungen Untersuchungsrichters bei der | |
| Staatsanwaltschaft. Der wollte die Täter unbedingt zur Strecke bringen. | |
| Funktioniert der russische Rechtsstaat also noch gegenüber den Rechten? | |
| Prusenkova: Die Polizei unterbindet in letzter Zeit offene faschistische | |
| Gewalt auf den Straßen. Einige der Täter sitzen hinter Gittern, andere | |
| verstecken sich. Aber der ganz alltägliche Faschismus, die Diskriminierung | |
| von Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe, wird von oben weder | |
| durch Bildung und Aufklärung noch mit juristischen Mitteln bekämpft. | |
| Aber die russische Regierung hat doch etwas unternommen. Die populäre | |
| außerparlamentarische Bewegung gegen illegale Immigration (DPNI) wurde im | |
| vergangenen Jahr verboten. Ihre Mitglieder hatten in Russland zahlreiche | |
| Anschläge auf Markthändler und Arbeiter aus dem Kaukasus und aus | |
| Mittelasien verübt. Und im Parlament gibt es keine offen | |
| rechtsextremistische Parteien mehr. | |
| Aleksandr Chernykh: Die Regierung ließ sie deshalb nicht mehr als | |
| parlamentarische Parteien zu, weil sie ja auch eine Opposition bei den | |
| Wahlen gewesen wären. | |
| Prusenkova: Der Rechtsradikalismus ist nicht nur in einschlägigen Parteien | |
| bedrohlich, schon allein das politische Klima in unserem Land ist es. | |
| Meinungsumfragen zufolge unterstützen bei uns über die Hälfte aller Bürger | |
| die Losung "Russland den Russen". Und auch die Politiker der zugelassenen | |
| Parteien im Parlament tragen, wenn sie in die höheren Etagen der Macht | |
| vordringen möchten, dieser Stimmung Rechnung. | |
| Schließt wenigstens die oppositionelle Bewegung für faire Wahlen die | |
| Rechtsradikalen aus? | |
| Chernykh: Nein. Zwar haben Zehntausende bisher bewusst und mit Erfolg | |
| gewaltlos demonstriert, aber wir haben es hier ja mit einer völlig | |
| informellen Bewegung ohne Statuten zu tun. Solche Meetings sind für fast | |
| alle Teilnehmer etwas Neues. Ihr gemeinsames Ziel sind einfach faire | |
| Wahlen. Die Mehrheit findet: Da müssen erst mal alle ihre Meinung äußern | |
| dürfen. | |
| Man lässt ultrarechte Führer reden? | |
| Chernykh: Unser Land hat ein zu kurzes Gedächtnis. Die meisten haben | |
| einfach vergessen, dass diese Leute vor fünf, sechs Jahren Vereinigungen | |
| mit anderen Namen leiteten, unter denen Terrorakte und Morde begangen | |
| wurden. Distanziert haben sich diese Führer davon nie, eben so wenig wie | |
| von Gewaltanwendung überhaupt. | |
| Aber in den allerobersten Machtetagen des Vielvölkerstaats Russische | |
| Föderation mit ganzen muslimischen Regionen kann man Rassismus eigentlich | |
| nicht wollen. | |
| Chernykh: Rassistisch ist die Rhetorik unserer Machthaber auch nicht | |
| direkt. Sie erinnert eher an so einen nichtethnischen Faschismus à la | |
| Mussolini: Ihr müsst euch um eine Person scharen, um Wladimir Putin als den | |
| "Führer der Nation"! Dann kommen die "Feinde" ins Spiel, von denen wir der | |
| Propaganda zufolge umzingelt sind. Auch Kräfte in den USA wollen angeblich | |
| unser großes Land destabilisieren. | |
| Prusenkova: Die Leute bei uns haben sich ja immer als Bewohner eines | |
| Imperiums gefühlt. Jetzt macht unsere Wirtschaft kaum Fortschritte. | |
| Reformen in der Armee, im Bildungssystem verliefen im Sand. Der Appell der | |
| Regierung an einen diffusen Patriotismus soll von den politischen | |
| Misserfolgen ablenken. Einige Ratgeber im Kreml hofften, einen gelenkten | |
| Nationalismus in der "gelenkten Demokratie" schaffen zu können. Dieses | |
| gefährliche Spiel gerät außer Kontrolle. Das Ganze droht in noch grausamere | |
| Formen eines rechten Ultranationalismus auszuarten. | |
| Was ist mit den Antifa-Gruppen? | |
| Chernykh: Das sind vereinzelte, kaum organisierte Gruppen junger Leute, von | |
| denen schon viele unaufgeklärten Morden zum Opfer fielen. Jetzt verfolgt | |
| man sie auch von oben. Die Polizei wendet ausgerechnet gegen sie ein | |
| relativ neues Extremistengesetz an. Antifaschisten leben bei uns viel | |
| gefährlicher als Faschisten. | |
| Kann das Ausland etwas tun? | |
| Chernykh: Es würde helfen, wenn die Wahrheit geschrieben würde. Und eure | |
| Regierung sollte von unserer die Einhaltung derselben Regeln fordern, die | |
| bei euch gelten. Nehmen wir nur mal den Wahlbetrug. Alle hier wissen, dass | |
| das Resultat pro Putin nicht ehrlich zustande kam, trotzdem verkehrt die | |
| deutsche mit der russischen Regierung weiter so, als sei diese fair | |
| gewählt. Auch was den Nationalismus, den Rassismus und die Menschenrechte | |
| überhaupt angeht, scheint mir, dass die EU-Staaten Russland gegenüber nicht | |
| streng genug sind. | |
| 26 Feb 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Kerneck | |
| ## TAGS | |
| Moskau | |
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