# taz.de -- Anonymität im Netz: Zivilisation ohne Gesicht | |
> Diktaturen, konservative Politiker und große Netzfirmen fordern das Ende | |
> der Anonymität im Netz. Dabei gibt es auch in Demokratien gute Gründe | |
> unerkannt zu bleiben. | |
Bild: Anonym, also ein Gegner der Freiheit? | |
BERLIN taz | Bald ist es so weit: In China müssen Nutzer von Sina Weibo, | |
dem Twitter des Ostens, bis zum 16. März ihre Accounts mit realem Namen | |
betreiben, [1][sonst werden sie zensiert]. Der zuständige Minister Wang | |
Cheng sagte, es gäbe gute Gründe, den Informationsfluss zu kontrollieren, | |
zum Beispiel um üble Nachrede zu unterbinden, Pornografie zu bekämpfen und | |
Wirtschaftsverbrechen zu verhindern. | |
Dass eine solche Forderung nicht Vorbehalt von Diktaturen ist, wird immer | |
wieder deutlich. Erst kürzlich [2][distanzierte sich der CDU-Politiker | |
Stephan Eisel] von Diktaturen um sich dann ebenfalls gegen die Anonymität | |
auszusprechen: "In Diktaturen schützt Anonymität vor Verfolgung, in der | |
Demokratie gehört sie zur Grundausstattung der Gegner der Freiheit." | |
Er steht damit in einer Reihe prominenter Namen: Hans-Peter Friedrich (CSU) | |
forderte die Deanonymisierung des Netzes, um Hetze zu unterbinden, Ursula | |
von der Leyen (CDU), um Kinderpornografie zu bekämpfen, Siegfried Kauder | |
(ebenfalls CDU), um Wirtschafts- und Urheberrechtsverletzungen zu | |
verhindern. | |
Wäre es nach Eric Schmidt, Ex-CEO von Google, oder Facebook-Gründer Mark | |
Zuckerberg gegangen, wäre ohnehin der Westen Vorreiter für Deanonymisierung | |
geworden: der eine bezeichnete Google+ einst als Identitätsdienst, der | |
andere sah für die nahe Zukunft das "Ende der Privatheit" kommen. Bei | |
Facebook ging der Klarnamenszwang so weit, dass sie erst jetzt eine | |
Ausnahmeregelung für Stars beschlossen haben: bis vor einer Woche hätten | |
diese sich nach dem Willen des Managements nur unter ihrem realen Namen | |
anmelden dürfen. | |
## "Schild gegen die Tyrannei der Mehrheit" | |
Auf der anderen Seite stehen jene, die sich als Träger einer Netzkultur | |
verstehen. Um ACTA, PIPA und SOPA etwas entgegenzusetzen zu haben, hat ein | |
Nutzer des News-Aggregators Reddit das Projekt [3][Free Internet Act] ins | |
Leben gerufen: Ziel ist es, gemeinsam eine Verfassung für das Netz zu | |
entwerfen. Unter Paragraf 8, Rechte des Nutzers, steht: "Jeder Nutzer hat | |
das Recht, anonym und/oder unter Pseudonym aufzutreten." | |
Auf genau diesem Standpunkt steht auch die Justiz in Demokratien: Der | |
US-amerikanische Supreme Court verteidigte bereits 1995 Anonymität "als | |
Schild gegen die Tyrannei der Mehrheit", und das Bundesverfassungsgericht | |
stellte fest, eine Abschaffung sei mit dem Grundrecht der freien | |
Meinungsäußerung "nicht vereinbar". Dass diese Einschätzung zutrifft, | |
dokumentieren Seiten wie [4]["My name is me"], auf denen Menschen | |
unterschiedlichster Hintergründe darlegen, warum die Echtnamen-Regelung sie | |
bedroht. | |
Was gerade verhandelt wird, ist nicht der schlichte Gegensatz "Anonymität" | |
versus "Identifizierbarkeit". Es gibt keine vollständige Anonymität im | |
Internet, es gibt nur eine Anonymität als Standardzustand; über IP-Adressen | |
und andere Merkmale sind Nutzer, wenn es denn notwendig ist, meistens | |
ermittelbar. Und außerdem ist das Netz ein sozialer Ort, und soziale Orte | |
zeichnen sich dadurch aus, dass man meist mehr über sich verrät, als man | |
beabsichtigt; selbst ohne große Datenlecks und geschäftsmäßiges Profiling. | |
## Nach den Regeln der Eliten spielen | |
Soweit zum Stand der Diskussion, die, auch wenn sie gerade nur im | |
Hintergrund geführt wird, noch lange nicht ausgestanden ist. Es ist ein | |
Manko dieser Diskussion, dass sie in erster Linie von Politikern und | |
Publizisten geführt wird – Menschen, die sich professionell in der | |
Öffentlichkeit bewegen und aus der Aura ihres Namens Kapital schlagen, | |
diskutieren über Pseudonyme. Sie messen mit ihren Maßstäben, die auf | |
maximale Öffentlichkeit setzt. | |
Es geht dabei um Kontrolle – nicht unbedingt der Bevölkerung, sondern der | |
Emotion. Darauf zielt Eric Schmidts berühmter Satz, der den Nutzern riet: | |
"Wenn es irgendetwas gibt, was man nicht über Sie wissen sollte, dann | |
sollten Sie es vielleicht gar nicht erst tun." | |
Das soziale Netz wird von Schmidt als breit angelegter Normierungsversuch | |
verstanden, dem es um Zivilisierung geht, und Zivilisierung heißt: nach den | |
Regeln der Eliten zu spielen, sich zu äußern wie sie und Konflikte nach | |
ihrer Art auszutragen und zu bewältigen. Und wer nicht nach diesen Regeln | |
spielt, soll geächtet oder mindestens zum Schweigen gebracht werden. | |
Der Nutzer soll erzogen werden, entweder zu einem guten, das heißt | |
verkaufsfähigem, Nutzer oder zu einem leichter lenkbaren Bürger und | |
Debattierenden. Jedem, der sich mündig genug fühlt, um sich selbst zu | |
vertreten, muss das missfallen. | |
23 Feb 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://stream.aljazeera.com/story/censorship-china-0022043 | |
[2] http://internetunddemokratie.wordpress.com/2012/02/21/anonymous-digitales-f… | |
[3] http://123.writeboard.com/logmjm18j8w95y09lxmqp46q | |
[4] http://my.nameis.me/ | |
## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
## TAGS | |
Ryanair | |
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