# taz.de -- Pro & Kontra Anonymität im Netz: Gestatten, Friedbert Frühstück | |
> Nach den Morden von Oslo forderten Politiker Klarnamen im Netz, soziale | |
> Netzwerke wollen keine Pseudonyme. Brauchen wir die Anonymität im Netz? | |
Bild: Unter Pseudonym mit immer neuen Avatar-Socken über der Nase digitale Bra… | |
PRO | |
Es ist eine teils absurde Debatte um die Anonymität, die wir gerade | |
erleben. Ausgelöst von den Diskussionen nach dem Doppelattentat von Oslo | |
lesen wir Forderungen, die vor allem ein Ziel haben: das, was wir im | |
Internet tun, nachvollziehbar zu machen, uns haftbar machen zu können. Das | |
klingt für viele zuerst einmal nicht verkehrt: Ist nicht die Anonymität im | |
Internet ein großes Übel? Kann da nicht jeder einfach tun und lassen, was | |
er möchte? Darf das sein? | |
Als im späten 18. Jahrhundert drei Männer für die repräsentative, | |
republikanische Demokratie eine bis heute noch in vielen Aspekten gültige | |
Streitschrift verfassten, da veröffentlichten sie diese unter Pseudonym. | |
Publius war der gemeinsame Name, unter dem Alexander Hamilton, John Jay und | |
James Madison die Debatte um die US-Verfassung und den Nationalstaat | |
befeuerten. Waren sie nicht, genau genommen, für ihre Leser anonym? Wer | |
hätte den Weg zu ihnen wirklich zurückverfolgen können? Die Geschichte ist | |
voller Menschen, die unter "falschem" Namen - was ist ein richtiger? - | |
agiert haben. Die wenigsten waren schlimme Finger, einer wurde sogar | |
Bürgermeister Westberlins und Bundeskanzler. Wir akzeptieren Namen, nehmen | |
sie als gegeben hin. | |
Anonymität ist dabei der Standard, mit dem wir uns bewegen. Auf der Straße | |
tragen wir kein Namensschild. Wer in Gorleben, Stuttgart oder an anderen | |
Orten demonstriert, ist anonym in der Masse unterwegs. Wenn wir zu einer | |
Diskussionsveranstaltung gehen, müsen wir uns in der Regel nicht ausweisen. | |
Und wenn wir einen Leserbrief an eine Zeitung schreiben, kann die andere | |
Seite nicht nachvollziehen, ob es uns wirklich gibt. Natürlich gibt es | |
immer wieder Möglichkeiten, unsere grundsätzliche Unbekanntheit aufzuheben. | |
Nur: wie viele jener Menschen, mit denen Sie täglich interagieren, | |
konfrontieren Sie mit Ihrer sogenannten Identität? Dieser Text entsteht im | |
Café. Wie absurd wäre doch die Vorstellung: "Guten Morgen, mein Name ist | |
Falk Lüke und ich hätte gern einen Kaffee." - "Guten Morgen, ich bin | |
Friedbert Frühstück, hast du sonst noch einen Wunsch?" Es ist die Natur von | |
Anonymität: Sie ist ein Gedankenkonstrukt und praktisch nur relativ. Mit | |
genügend Informationen über einen Akteur ließe sie sich immer aufheben, in | |
der Praxis ist sie eher eine Pseudonymität. | |
Das Unbehagen gegenüber der "anonymen Masse" im Internet, die sich in | |
Teilen unflätig benimmt, ist nur zum Teil der Anonymität geschuldet. Für | |
die soziale Interaktion ist es irrelevant, ob wir mit Michaela Müller oder | |
I. Gitt diskutieren. Primär ist es eine Diskussion um Verhaltensregeln, | |
Normen und Anstand. Manche wissen sich schlicht nicht zu benehmen. | |
Der Anlass der Forderungen des Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich | |
war, dass man kaum nachvollziehen könne, mit wem Anders Behring Breivik | |
kommuniziert hatte und von wem er sich beeinflussen ließ. Einer der | |
Autoren, von denen Breivik offenbar beeinflusst zu sein glaubte, lüftete | |
nach der Tat sein Geheimnis: Der rechte Blogger "Fjordman" war von Breiviks | |
Taten so entsetzt, dass es ihm wichtig wurde, sich unter echtem Namen davon | |
zu distanzieren. FALK LÜKE | |
CONTRA | |
Mein Verfolger ist eine multiple Persönlichkeit. Er löscht bei Wikipedia in | |
einem Artikel alle neuen Textteile, er radiert sämtliche Fußnoten aus. Als | |
Anonymus. Wenig später meldet er sich auf der taz-Kommentarspalte als | |
fristian chrüller - und erzählt Märchen. Er loggt sich auch bei Twitter mit | |
Maske ein. Ich bin keine einsame Celebrity. Ich habe keine Angst vor meinem | |
Verfolger. Aber er nervt. | |
Mein Verfolger ist ein Kind, ein Kind der Anonymität im Netz. Er findet | |
witzig, was wir in der Schülerzeitung machten: Lehrer anonym derblecken. | |
Aber er ist eben nicht 14, sondern ein erwachsener Mann, wissenschaftlicher | |
Mitarbeiter einer Uni. Dennoch benimmt er sich wie ein Teenie in London. | |
Nur dass er sich keinen Kapuzenpulli über die Stirn hängt, sondern mit | |
immer neuen Avatar-Socken über der Nase digitale Brandsätze wirft, ein | |
smart stalker. "Ich schreibe anonym", sagt er unschuldig, "da Argumente | |
unterschiedlich wahrgenommen werden, je nachdem, von wem sie kommen, und | |
ich meine Argumente im Raum nicht deshalb abgetan wissen will, weil ich … | |
in die Reformpädagogik-Ecke gehöre." | |
Kein Mensch muss als inkontinenter Anonymus durchs Internet streifen, um | |
die Wirkung seiner "Argumente im Raum" zu beschnuppern. Auf einer | |
öffentlichen Veranstaltung würde er doch hinstehen müssen ("Hallo, ich bin | |
der Axel") - und Gesicht zeigen. Das ist eine durch und durch gute Idee. | |
Das Netz braucht keine Anonymität, allenfalls sehr ausnahmsweise. Nicht nur | |
für die bürgerliche Gesellschaft ist das konstitutiv, auch der Diskurs in | |
Parlamenten, Versammlungen und zu Tisch, kennt kein anderes Prinzip: Zu | |
"ich spreche" gehört notwendig das Ich. Wieso sollte diese Ratio der | |
Aufklärung für das Netz nicht gelten? | |
Kein Missverständnis. Ich möchte meinem Inkognito-Follower nicht den | |
Bundesinnenminister auf den Hals hetzen. Und ich will auch kein Gesetz. | |
Aber man wird wohl im superaufgeklärten Diskursraum Netz einen | |
demokratischen Kodex erwarten können - Ausnahmen inklusive. Ein Forum von | |
Betroffenen sexueller Gewalt etwa, wie das legendäre Misalla-Blog im Jahr | |
2010 eines war, muss geradezu mit Pseudonymen arbeiten. Offensichtlich ist | |
auch, dass man Supermächte wie China, Exxon oder die Deutsche Bank nicht | |
mit Angabe von Name und Adresse wirksam wird ärgern können. | |
Die stets so hochgehaltene Mündigkeit der Netzcommunity aber wird sich an | |
der Frage beweisen, ob sie eine politische Netiquette für den Diskurs in | |
Social Media, Blogs und Foren zustande bringt. Das ist schwerer, als sich | |
über seltsame Vorschläge eines Innenministers zu belustigen, wie es sich | |
Blogger gerade leicht machen. Aber es muss sein. | |
Für einen meinungsbildenden Diskurs braucht niemand Ku-Klux-Klan-Haube, | |
Hasskappe oder Burka. Anonymität muss selbstverständlich auch in der | |
Informationsgesellschaft möglich sein. Aber da, wo Öffentlichkeit entsteht, | |
ist es aus mit Inkognito. Politik ohne Gesicht, wie soll das gehen? Jede | |
Theorie ubiquitärer allezeit kollaborativer Kommunikation hat als Mittel | |
und Zweck - die Individualität. In der Masse zählt nur das unbedingt | |
Originelle. Anonyme Originalität ist ein Widerspruch in sich. Also: Gesicht | |
zeigen. CHRISTIAN FÜLLER | |
11 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Falk Lüke | |
Christian Füller | |
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Klarnamen | |
Schwerpunkt Überwachung | |
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