# taz.de -- Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer: Rette sich, wer kann | |
> Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer arbeitet seit 1982 an den Themen | |
> Rechtsextremismus und sozialer Desintegration. Im März wird er den | |
> Göttinger Friedenspreis erhalten. | |
Bild: Leitet an der Uni Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt… | |
"Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur | |
Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihrer | |
Wirte - leben, übereinstimmend die Bezeichnung ,Parasiten'." | |
(Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, 2005, S. 10 ) | |
Obenstehendes Zitat aus der Sammlung von Herrn Heitmeyer stammt aus einer | |
Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft, unter der | |
direkten Verantwortung des damaligen Bundesministers für Arbeit und | |
Wirtschaft, Wolfgang Clement. Sie erschien 2005 mit einem Titel im | |
Stürmerstil: "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und | |
Selbstbedienung im Sozialstaat". | |
(BMWA 2005, S. 10.) Die Anzeigen gegen Clement wegen Volksverhetzung wurden | |
von der Staatsanwaltschaft Berlin abgewiesen. Begründung: Zur | |
Volksverhetzung fehle es an einem Angriff auf die Menschenwürde. Um solche | |
Tendenzen geht es Herrn Heitmeyer auch in seiner Studie. Ich bitte ihn um | |
eine Art Resümee. | |
"Der Anfang des gesamten Projekts war eigentlich 1992, damals habe ich in | |
der Zeitschrift Das Argument einen Artikel geschrieben mit dem Titel: | |
,Wider den schwärmerischen Antirassismus'. Und damit bin ich natürlich sehr | |
in die Kritik geraten, grade auch von links. | |
Ich habe dann den Aufsatz zur Seite gelegt und bin erst gegen 2000 wieder | |
drangegangen und habe mir überlegt, wie bekommt man eigentlich | |
gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - wie ich es nenne - auf die Agenda? | |
Das Vergessen und Verdrängen, die gesellschaftliche Selbstentlastung, ist | |
doch sehr ausgeprägt. | |
Dann habe ich einen Antrag formuliert und mir Kooperationspartner gesucht, | |
habe einen Antrag bei der Volkswagenstiftung gestellt auf Fördermittel. Und | |
so ist dann - auch mit der Unterstützung der Freudenberg-Stiftung - so nach | |
und nach dieses Zehnjahresprojekt entstanden. | |
## Gruppengezogene Menschenfeindlichkeit | |
Dadurch ist jetzt sozusagen ein Jahrzehnt ausgeleuchtet worden. Wir haben | |
das Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit untersucht, in | |
dessen Zentrum ja das, was wir die die Ideologie der Ungleichwertigkeit | |
nennen, steht. Diese jährliche Erhebung war natürlich sehr anstrengend, und | |
es ist mir auch schwergefallen, das ganze Jahrzehnt auf einen Nenner zu | |
bringen. | |
Ich habe mich dann auf diesen Terminus ,Das entsicherte Jahrzehnt' | |
fokussiert. Wir nennen dafür Anhaltspunkte und wir unterscheiden zwischen | |
Signalereignissen: der 11. September 2001 ist so ein Signalereignis, durch | |
das eine Umstellung von ethnischen Kategorien wie Araber, Türken usf. auf | |
eine religiöse Kategorie, nämlich Muslime, entstanden ist. | |
Mit den ganzen deutlichen Folgen auch einer Islamfeindlichkeit als ein | |
Element dieses Syndroms. Es gibt eine Homogenisierung, es wird nicht mehr | |
differenziert zwischen einem brutalen, politischen Islam und dem ganz | |
alltäglichen Verrichten von Glaubensdingen, Gebeten etc. | |
Dann gibt es natürlich bei uns als Signalereignis die Situation von 2005, | |
mit der Einführung von Hartz IV. Das hatte zur Folge, dass neben den | |
unteren sozialen Lagen plötzlich auch die mittleren sozialen Lagen unter | |
Druck gerieten. Dass sich auch in die die Angst einfräste, sozusagen. Und | |
daraus entstanden dann auch wieder bestimmte Abwertungsmuster. | |
Das dritte Signalereignis war die Finanzkrise 2008, die bei uns nur | |
indirekt eine größere Bevölkerungsgruppe traf, nämlich diejenigen, die | |
Aktien im Spiel hatten. Die eigentlichen Folgen der Finanzkrise aber waren | |
die Wirtschaftskrise und die Arbeitsmarktkrise, mit den ganzen | |
Unsicherheiten der zunehmend prekären Arbeitsverhältnisse. | |
## Die Angst des Mittelstands | |
Und natürlich die Fiskalkrise, die sich besonders bei denen auswirkte, die | |
von Transferleistungen leben müssen. Abstiegsängste plagten den Mittelstand | |
schon seit der Einführung von Hartz IV, und sie sind nach der Finanzkrise | |
von 2008 noch stärker geworden. | |
Man muss aber sehen, dass es neben diesen Signalereignissen, deren | |
Kennzeichen ja ist, dass darüber öffentlich debattiert wird, auch noch die | |
schleichenden Prozesse gibt. Dazu gehört vor allem das, worüber nicht oder | |
kaum diskutiert wird, zum Beispiel Demokratieentleerung. | |
Diesen Begriff habe ich 2001 entwickelt - also noch vor der Analyse von | |
Colin Crouch über ,Post-Democracy' von 2004 … Ach, den kennen Sie nicht … | |
Ein Engländer, seine These ist, dass die Demokratie zwar in ihren Säulen | |
erhalten bleibt, dass aber ihre innere Substanz sich verändert und | |
schwindet. | |
Wie ich sagte, das sind schleichende Prozesse, sie führen dazu, dass | |
bestimmte Vertrauensmuster sich auflösen. Das führt dann auch leicht zu | |
Einstellungsmustern wie Rechtspopulismus. Es führt dazu, dass Menschen sich | |
aus dem System ausklinken und gar nicht mehr erreichbar sind, und das ist | |
für eine Gesellschaft gefährlich. | |
Diesen Rechtspopulismus, den messen wir mit vier Indikatoren: Als letztes | |
dazugekommen ist die Islamfeindlichkeit, dann Fremdenfeindlichkeit, | |
Antisemitismus, autoritäre Aggression. (Siehe dazu auch Adornos "F-Skala" | |
zur autoritären Persönlichkeit. Anm. G. G.) Dieser schleichende Prozess | |
wird meines Erachtens zu wenig thematisiert. Ein zweiter schleichender | |
Prozess bezieht sich auf das, was wir Anomie nennen, eine Art von | |
Orientierungslosigkeit. | |
## Stereotypen und Vorurteile | |
Man weiß als Bürger eigentlich gar nicht mehr, wo man steht. Und daraus | |
entwickelt sich die Einstellung, dass man sich - surrogathaft - festen | |
Boden unter den Füßen besorgt. Dazu gehören auch Stereotypen und | |
Vorurteile, mit denen man die Welt neu für sich ordnen kann, obwohl sie | |
natürlich gar nicht zu ordnen ist, weil sich die Gesellschaft relativ | |
richtungslos entwickelt. | |
Und ein dritter schleichender Prozess, über den nun überhaupt nicht | |
öffentlich gesprochen wird, ist die Ökonomisierung des Sozialen. Richard | |
Sennett, ein amerikanischer Soziologe, hat sich damit beschäftigt. Bei | |
dieser Ökonomisierung des Sozialen, da dringen Kategorien, die aus der | |
Ökonomie kommen, wie Effizienz, Verwertbarkeit und Nützlichkeit, in die | |
sozialen Verhältnisse ein. | |
Und zwar in Institutionen, die überhaupt nicht danach beschaffen sein | |
dürften: in die Familien, in soziale Gruppen, auch in Schulen etc. Wir | |
haben seit einigen Jahren diese Einstellungsmuster untersucht und sehen, | |
dass bestimmte Gruppen immer mehr in die Abwertung hineingeraten. | |
Das sind diejenigen, die diesen Kriterien ,nicht genügen', also niedrig | |
qualifizierte Zuwanderer, Langzeitarbeitslose, Behinderte und Obdachlose. | |
Und diese ökonomistischen Einstellungen sind natürlich befeuert durch die | |
Debatte um den Neoliberalismus. | |
Man muss vielleicht noch sagen, dass diese Abwertungsmuster eng | |
zusammenhängen damit, wie sich unsere Befragten auf einer sozialen | |
Stufenleiter rein subjektiv zuordnen konnten: Unten. Mitte. Oben. Die, die | |
sich oben einstuften, weisen ganz enge Zusammenhänge auf zu diesen | |
Abwertungen, zur Missachtung und Diskriminierung von denen "da unten". | |
## Sloterdijk und der 'kleptomanische Staat' | |
Und eine andere Entwicklung gibt es, die hat uns dann doch sehr irritiert, | |
dass es nämlich gerade bei denjenigen, die tatsächlich zu den | |
Besserverdienenden zählen, einen bemerkenswerten Anstieg in den Abwertungen | |
gegeben hat, seit der Krise. Seit 2008, ja. Wie das weitergehen wird, das | |
können wir nicht sagen, weil wir ja jetzt mit den Erhebungen aufhören, aber | |
man muss sehr genau darauf achten. | |
Und vor allem auch, weil ja Teile der Eliten diese Einstellungsmuster auch | |
noch befördern und befeuern, weil sie die Themen setzen. Beispielsweise, | |
wenn Sloterdijk von einem ,kleptomanischen Staat' spricht und zurück will | |
zur ,Gnade der gebenden Hand', dann nimmt er denen, die von | |
Transferleistungen leben müssen, ihre Würde. Ebenso macht es Sarrazin mit | |
großem Erfolg, bei dem noch das ,Juden-Gen' und die Islamfeindlichkeit | |
dazukommen. | |
Das ,Juden-Gen' musste er zurücknehmen. Beim Antisemitismus wurde ja ein | |
Tabu ausgesprochen, das in der Öffentlichkeit gilt, aber bei den anderen | |
Diskriminierungen wurde es nicht ausgesprochen. Interessant ist seine | |
Leserschaft. Sie meint, wenn die das alles schon so offen sagen, dann kann | |
ich mir das auch erlauben. | |
Und diese Leserschaft, die kommt ja nicht aus den unteren Soziallagen, | |
sondern das ist so diese, ich nenne es: ,rohe Bürgerlichkeit'. Nicht zu | |
verwechseln mit Bürgertum, das ist eine vollkommen andere Kategorie. Dieser | |
rohen Bürgerlichkeit müssen wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Es ist eine | |
Bürgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den | |
Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und | |
Effizienz orientiert. | |
Damit leugnet sie die Gleichwertigkeit von Menschen, macht ihre psychische | |
und physische Integrität antastbar und führt zugleich einen Klassenkampf | |
von oben. Sie ist sozusagen der Transmissionsriemen gegen diejenigen, die | |
als Ausgegrenzte definiert werden. | |
## Rassismus | |
Eine weitere Überraschung bei den Einstellungsmustern haben wir in Bezug | |
auf die Geschlechterfrage erlebt. Dass nämlich - und das ist ein stabiles | |
Ergebnis - bei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Frauen höhere Werte haben | |
als Männer. Es ist ein unliebsames Ergebnis, und wir dachten bei der ersten | |
Erhebung immer noch, hoffentlich haben wir da keinen Fehler begangen. Aber | |
es hat sich stets wiederholt. | |
Und auch bei der Altersfrage, da gibt es einen wirklich sensiblen Punkt, | |
dass wir es sozusagen mit einem ,schiefen U' zu tun haben, über das | |
Altersspektrum. Zwar sind bei den Jungen solche Abwertungen schon sehr | |
vorhanden, aber bei den Älteren, bei meiner Altersklasse über 60, da liegen | |
die Abwertungen von schwachen Klassen noch deutlich höher! | |
Das war überraschend. Aber die Gesellschaft reagiert ja erst dann, wenn | |
sich diese Ideologien von Ungleichwertigkeit mit Gewalt verbinden, und die | |
üben natürlich die Jungen aus. Die jungen Männer vor allem. Während sich um | |
die Einstellungsmuster der Alten, die sie hinter ihren privaten Gardinen | |
pflegen, im Freundeskreis oder in den Vereinen usw., kein Mensch kümmert. | |
Dabei sind es ja gerade sie, die an der Reproduktion dieser | |
Einstellungsmuster immer wieder beteiligt sind, als Großväter und | |
Großmütter. So gesehen, ist es natürlich ein struktureller Fehler, mit den | |
Interventionsprogrammen immer nur auf die Jugendlichen zu schielen. | |
Man muss immer wieder sehen und sehr genau beachten, dass diese | |
Einstellungsmuster einen gesellschaftlichen Vorrat bereitstellen, an dem | |
dann auch rechtsextreme Gruppen andocken können. Und es ist ja auffallend, | |
dass selbst die, die sich an den rechtsextremen politischen Rändern | |
bewegen, nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern mitten in ihr leben, mit | |
einem oft ganz kleinbürgerlichen Lebensentwurf. | |
## Gesellschaftlicher Ton hat sich massiv verändert | |
Insofern ist es ja auch eine völlige Fehleinschätzung, wenn jetzt, | |
anlässlich des Nationalsozialistischen Untergrunds, eine Abtrennung | |
erfolgt. Sozusagen: Dort sind die Verbrecher - was sie zweifellos sind -, | |
und ansonsten gibt es eine weitgehend intakte humane Gesellschaft. Das ist | |
auch so eine gesellschaftliche Selbsttäuschung, die man stark kritisieren | |
muss. | |
Was wir über die Jahre hinweg ganz deutlich feststellen können, ist, dass | |
sich der gesellschaftliche Ton massiv verändert hat. Ich habe Ihnen ja | |
schon ein paar Beispiele gegeben. Diese Form von Rohheit, mit der wir es | |
heute zu tun haben, gab es in den 90er Jahren noch nicht. | |
Es hat ja auch die ganzen Probleme der gesellschaftlichen Integration oder | |
Desintegration so noch nicht gegeben. Sie ist ein ganz zentrales Thema | |
unserer Studie. Wir arbeiten mit dieser Theorie der sozialen | |
Desintegration, die wir entwickelt haben, um herauszufinden, was für | |
Menschen bedrohlich wird und wie sie darauf reagieren. | |
Desintegration und Integration reservieren wir in unserem Konzept natürlich | |
nicht für die Zugewanderten, sondern das gilt ebenso für Teile der | |
Mehrheitsgesellschaft. Die sind ja auch nicht integriert, wenn man ein | |
bestimmtes Integrationskonzept zugrunde legt, nämlich den Zugang zu den | |
Funktionssystemen wie Arbeit, Bildung etc. und der daraus entspringenden | |
sozialen Anerkennung - was für uns ein sehr wichtiger Punkt ist. | |
Und wir stellen die Frage nach der politischen Partizipation; Kann ich an | |
diesen wichtigen Kernnormen, wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness - | |
kann ich da eigentlich mitdiskutieren? Habe ich da überhaupt eine eigene | |
Stimme? Und wenn ich die nicht habe, dann scheine ich auch keinen Anspruch | |
darauf zu haben und bin lediglich ein Bürger zweiter oder dritter Klasse. | |
Also ich bin politisch völlig einflusslos, oder eben auch meine Gruppe. | |
## Negative Erfahrung gegen Schwächeren gelenkt | |
Hier setzt dann wieder ein Abwertungsverhalten ein, denn es ist ja nicht | |
so, dass man sich nun zusammentut und gegen die herrschenden Gruppen | |
vorgeht, sondern die negative Erfahrung wird umgelenkt und gegen die noch | |
Schwächeren in der Gesellschaft gekehrt. | |
Auch, um sich von denen abzusetzen und sich zugleich aufzuwerten. Es ist | |
zynisch, aber jede Gesellschaft braucht genau dazu ihre Randgruppen, denn | |
mit solchen Randgruppen wird Politik gemacht, man signalisiert der | |
Mehrheit: Passt auf, dass ihr da nicht hineinrutscht! Insofern werden | |
Randgruppen auch immer wieder neu ,kreiert'." | |
Ich möchte an dieser Stelle das Thema auch auf die bringen, die die | |
Grundlagen dafür schaffen und geschaffen haben, mit Hartz IV, Zeitarbeit | |
und dergleichen. Die Leute sind systematisch runtergestuft worden von den | |
"Maßnehmern" durch eine Vielzahl von "Maßnahmen", auch rhetorisch | |
runtergedrückt, auf ein erkennbar minderwertiges Niveau. | |
Die Umbenennung der Arbeitslosen (das Wort bezeichnete noch den Verlust) in | |
Hartz-IV-"Empfänger", die plötzlich etwas empfangen, worauf sie zuvor einen | |
Anspruch hatten, die von "Leistungen" leben, ohne etwas dafür zu tun, die | |
hatte System. | |
Herr Heitmeyer nickt und sagt energisch: "Ja, das hat System. Es gibt | |
eindeutige Zusammenhänge zwischen der Forderung an die sozial Schwachen, | |
ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und ihrer Abwertung. | |
Sehr deutlich zeigt das ja auch diese Broschüre vom | |
Bundesarbeitsministerium, aus der ich Ihnen das ,Parasiten'-Zitat genannt | |
habe. | |
## Rohe Bürgerlichkeit | |
So etwas steht in einer offiziellen Broschüre eines Ministeriums. Infam, | |
das fasst man nicht! Und diese Broschüre ist durch sehr viele Hände | |
gegangen, durch sämtliche Redaktionen, und es gab nur ganz vereinzelte | |
Reaktionen. Das sind natürlich solche Denkmuster, die gehören direkt zu | |
dieser rohen Bürgerlichkeit, von der ich gesprochen habe. | |
Und auch zu den Spaltungsversuchen. Und wer sind die direkten und | |
indirekten Akteure dieser Spaltungsbewegung? Es sind die intellektuellen | |
Diskursagenten und Wissenschaftler, insbesondere der | |
wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Eliten. Das muss einem schon | |
Sorgen machen. Und das kam eben nicht plötzlich, sondern teilweise | |
schleichend, in Begleitung der neoliberalen Diskurse. | |
Aber das ist nur die eine Seite, auf der anderen Seite - es laufen da | |
mehrere Sachen zusammen - haben wir es über die Zeit hinweg auch mit einer | |
Kontrollverschiebung zu tun. Es gibt nämlich einen Kontrollgewinn des | |
autoritären Kapitalismus. | |
Und dem entspricht ein Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik. Und | |
daraus resultieren dann natürlich auch diese Formen der | |
Demokratieentleerung. Die Ökonomisierung des Sozialen. Sicher, es gibt | |
natürlich auch hausgemachte Dinge, wie schon gesagt, aber auf der anderen | |
Seite gibt es diesen rabiaten Wettbewerb, bei dem nicht mehr Firmen | |
miteinander konkurrieren, sondern ganze Länder. | |
Auch im Hinblick auf die Standorte von Firmen. Und das macht noch mal einen | |
deutlichen Unterschied in der Frage der Veränderung von Politik. Und bei | |
all dem muss man eben aufpassen, dass die soziale Spaltung, die soziale | |
Ungleichheit, die wir inzwischen erreicht haben, sich nicht noch weiter | |
entwickeln. Teil des Problems ist, dass die nationale Politik keinerlei | |
Interesse daran zeigt. | |
## Due Ungleichheit zersetzt die Gesellschaft | |
Im internationalen Vergleich ist deutlich zu sehen: Je größer die | |
Einkommensungleichheit, die einseitige Verteilung des Reichtums, umso | |
größer sind die sozialen Probleme. Wir Deutschen haben ja, laut OECD, die | |
größten Zuwachsraten in der ungleichen Verteilung. | |
Der entscheidende Punkt ist dabei ja, dass die Ungleichheit die | |
Gesellschaft regelrecht zersetzt, dass der Prozess sich einschleicht und | |
erst mal relativ unbemerkt verläuft, weil sich eben keine protestierenden | |
Kollektive mehr bilden können und weil auch keiner mehr zuhört. Weil | |
vielfach das Motto lautet: Rette sich, wer kann. Dadurch ist das Leben in | |
bestimmten sozialen Gruppen auch permanent angstdurchsetzt und verätzt. | |
Und das macht diese Ungleichheiten schon ziemlich gefährlich. Und es gibt | |
etwas sehr Wichtiges, was ich bei sämtlichen Vorträgen deutlich mache - man | |
muss sich hüten vor Normalisierung. Was in den 90er Jahren nicht denkbar | |
war, ist heute ganz normal. Und was normal geworden ist, lässt sich nur | |
noch schwer problematisieren. | |
Zurück zur Studie. Es gibt in unseren Untersuchungen Ergebnisse zu den drei | |
Kernnormen, die eine Gesellschaft auch zusammenhalten: Solidarität, | |
Gerechtigkeit, Fairness im Umgang miteinander. Gerechtigkeit ist die Frage | |
von Verteilung. Mit welchen Gerechtigkeitsvorstellungen operiert man? Da | |
gibt es ja unterschiedliche: Leistungsgerechtigkeit, | |
Verteilungsgerechtigkeit und Bedürfnisgerechtigkeit. | |
Bedürfnisgerechtigkeit heißt, wer kann sich nicht selber helfen und wie | |
kann man seinen Bedürfnissen gerecht werden. Und unsere Untersuchungen | |
zeigen, dass ein großer Anteil sagt: In diesen Krisenzeiten können die | |
Schwachen nicht mehr mit Solidarität rechnen. | |
## Nutzlose und Ineffiziente | |
Oder eine ziemlich hohe Anzahl sagt: Das Postulat der Gerechtigkeit lässt | |
sich in diesen Krisenzeiten nicht mehr realisieren. Und diejenigen, die in | |
Lohn und Brot stehen, die plädieren natürlich besonders stark für | |
Leistungsgerechtigkeit, weil sie sich selbst als Leistungsträger sehen. All | |
die anderen sind gewissermaßen Abhängige. Sind Nutzlose und Ineffiziente. | |
Es geht auch darum, zu betrachten, was mit der Armut passiert, auch mit der | |
Altersarmut, die immer größer wird. Auch die unter den Migranten. Insofern | |
ist auch hier die Frage der Verhärtung ein wichtiger Punkt." Ich möchte | |
kurz auch Bezeichnungen einführen, die Herr Heitmeyer in seinen Texten | |
gewählt hat, die mir angenehm auffielen, weil sie irgendwie zartfühlend | |
sind und unabgenutzt. Begriffe wie: entsicherte und entkultivierte | |
Bürgerlichkeit, Vereisung des sozialen Klimas, kalte Kalkulation gegenüber | |
den "Nutzlosen", Renaturalisierung der Ungleichheit. | |
Er räuspert sich und sagt: "Das hat einfach damit zu tun, wie sich Eliten | |
äußern, also Leute, die den Zugang haben zu den Medien, die Vervielfältiger | |
sind von bestimmten Dingen. Und wie das dann einsickert in die ,rohe | |
Bürgerlichkeit' kann man ja sehen. Es gibt eine große Gleichgültigkeit | |
gegenüber den Folgen. | |
Es gibt so eine Art semantischen Klassenkampf von oben gegen ,die da | |
unten'. Renaturalisierung meint, dass biologische Kriterien benutzt werden, | |
dass man sprachlich damit Gruppen markiert, die dann nie mehr da | |
rauskommen, weil sie bestimmte Kennzeichen tragen. Das kann die Hautfarbe | |
betreffen, aber auch die Religion oder die Obdachlosigkeit. | |
Und man will ,Säuberung' oder zumindest Aus- und Abgrenzung. Rassismus und | |
die Abwertung von Obdachlosen sind zum Beispiel von 2010 auf 2011 | |
signifikant angestiegen. Ein ebenfalls ansteigender Trend lässt sich | |
aktuell bei der Fremdenfeindlichkeit und bei der Abwertung von Behinderten | |
beobachten. Und 35,4 Prozent der Befragten stimmten 2011 der Aussage zu: | |
,Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden'. | |
## Spaltung der Gesellschaft | |
40,1 Prozent bestätigen: ,Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und | |
Roma in meiner Gegend aufhalten'. Und 44,2 Prozent sind sich sicher: ,Sinti | |
und Roma neigen zur Kriminalität. Also, ich fasse am Schluss noch mal der | |
Verständlichkeit halber zusammen: Die laufenden Prozesse der Umverteilung | |
und ihre gesellschaftliche Zerstörungskraft nehmen stetig zu und führen zu | |
einer immer größer werdenden Spaltung der Gesellschaft. | |
Die oberen Einkommensgruppen nehmen diese Spaltung nur begrenzt wahr, sie | |
sind im Gegenteil der Meinung, dass sie zu wenig vom Wachstum profitieren. | |
Sie sind rasch bereit, die Hilfe und Solidarität für schwache Gruppen | |
aufzukündigen. Sie werten zunehmend stärker ab. Die Studie macht deutlich, | |
es existiert eine geballte Wucht rabiater Eliten und die Transmission | |
sozialer Kälte durch eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der | |
Opferrolle sieht und deshalb immer neue Abwertungen gegen schwache Gruppen | |
in Szene setzt. | |
Und die Studie zeigt, wie stark Menschen aufgrund von ethnischen, | |
kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des | |
Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen mit | |
solchen Mentalitäten konfrontiert und ihnen machtlos ausgeliefert sind. Die | |
Opfergruppen sind mittlerweile wehrlos und nicht mobilisierungsfähig. | |
Insgesamt ist eine ökonomische Durchdringung sozialer Verhältnisse | |
empirisch belegbar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von | |
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Seit 2008 haben sich die | |
krisenhaften Entwicklungen zeitlich massiv verdichtet. | |
Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität sind zur neuen Normalität | |
geworden, die Nervosität scheint über alle sozialen Gruppen hinweg zu | |
steigen. Wir erleben, wie sich ein neuer Standard etabliert: ,volatility', | |
so die New York Times. Eine explosive Situation als Dauerzustand. Aus all | |
dem resultiert vor allem eines: Die gewaltförmige Desintegration ist auch | |
in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich." | |
28 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## TAGS | |
Universität Göttingen | |
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