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# taz.de -- Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer: Rette sich, wer kann
> Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer arbeitet seit 1982 an den Themen
> Rechtsextremismus und sozialer Desintegration. Im März wird er den
> Göttinger Friedenspreis erhalten.
Bild: Leitet an der Uni Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt…
"Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur
Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihrer
Wirte - leben, übereinstimmend die Bezeichnung ,Parasiten'."
(Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, 2005, S. 10 )
Obenstehendes Zitat aus der Sammlung von Herrn Heitmeyer stammt aus einer
Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft, unter der
direkten Verantwortung des damaligen Bundesministers für Arbeit und
Wirtschaft, Wolfgang Clement. Sie erschien 2005 mit einem Titel im
Stürmerstil: "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und
Selbstbedienung im Sozialstaat".
(BMWA 2005, S. 10.) Die Anzeigen gegen Clement wegen Volksverhetzung wurden
von der Staatsanwaltschaft Berlin abgewiesen. Begründung: Zur
Volksverhetzung fehle es an einem Angriff auf die Menschenwürde. Um solche
Tendenzen geht es Herrn Heitmeyer auch in seiner Studie. Ich bitte ihn um
eine Art Resümee.
"Der Anfang des gesamten Projekts war eigentlich 1992, damals habe ich in
der Zeitschrift Das Argument einen Artikel geschrieben mit dem Titel:
,Wider den schwärmerischen Antirassismus'. Und damit bin ich natürlich sehr
in die Kritik geraten, grade auch von links.
Ich habe dann den Aufsatz zur Seite gelegt und bin erst gegen 2000 wieder
drangegangen und habe mir überlegt, wie bekommt man eigentlich
gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - wie ich es nenne - auf die Agenda?
Das Vergessen und Verdrängen, die gesellschaftliche Selbstentlastung, ist
doch sehr ausgeprägt.
Dann habe ich einen Antrag formuliert und mir Kooperationspartner gesucht,
habe einen Antrag bei der Volkswagenstiftung gestellt auf Fördermittel. Und
so ist dann - auch mit der Unterstützung der Freudenberg-Stiftung - so nach
und nach dieses Zehnjahresprojekt entstanden.
## Gruppengezogene Menschenfeindlichkeit
Dadurch ist jetzt sozusagen ein Jahrzehnt ausgeleuchtet worden. Wir haben
das Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit untersucht, in
dessen Zentrum ja das, was wir die die Ideologie der Ungleichwertigkeit
nennen, steht. Diese jährliche Erhebung war natürlich sehr anstrengend, und
es ist mir auch schwergefallen, das ganze Jahrzehnt auf einen Nenner zu
bringen.
Ich habe mich dann auf diesen Terminus ,Das entsicherte Jahrzehnt'
fokussiert. Wir nennen dafür Anhaltspunkte und wir unterscheiden zwischen
Signalereignissen: der 11. September 2001 ist so ein Signalereignis, durch
das eine Umstellung von ethnischen Kategorien wie Araber, Türken usf. auf
eine religiöse Kategorie, nämlich Muslime, entstanden ist.
Mit den ganzen deutlichen Folgen auch einer Islamfeindlichkeit als ein
Element dieses Syndroms. Es gibt eine Homogenisierung, es wird nicht mehr
differenziert zwischen einem brutalen, politischen Islam und dem ganz
alltäglichen Verrichten von Glaubensdingen, Gebeten etc.
Dann gibt es natürlich bei uns als Signalereignis die Situation von 2005,
mit der Einführung von Hartz IV. Das hatte zur Folge, dass neben den
unteren sozialen Lagen plötzlich auch die mittleren sozialen Lagen unter
Druck gerieten. Dass sich auch in die die Angst einfräste, sozusagen. Und
daraus entstanden dann auch wieder bestimmte Abwertungsmuster.
Das dritte Signalereignis war die Finanzkrise 2008, die bei uns nur
indirekt eine größere Bevölkerungsgruppe traf, nämlich diejenigen, die
Aktien im Spiel hatten. Die eigentlichen Folgen der Finanzkrise aber waren
die Wirtschaftskrise und die Arbeitsmarktkrise, mit den ganzen
Unsicherheiten der zunehmend prekären Arbeitsverhältnisse.
## Die Angst des Mittelstands
Und natürlich die Fiskalkrise, die sich besonders bei denen auswirkte, die
von Transferleistungen leben müssen. Abstiegsängste plagten den Mittelstand
schon seit der Einführung von Hartz IV, und sie sind nach der Finanzkrise
von 2008 noch stärker geworden.
Man muss aber sehen, dass es neben diesen Signalereignissen, deren
Kennzeichen ja ist, dass darüber öffentlich debattiert wird, auch noch die
schleichenden Prozesse gibt. Dazu gehört vor allem das, worüber nicht oder
kaum diskutiert wird, zum Beispiel Demokratieentleerung.
Diesen Begriff habe ich 2001 entwickelt - also noch vor der Analyse von
Colin Crouch über ,Post-Democracy' von 2004 … Ach, den kennen Sie nicht …
Ein Engländer, seine These ist, dass die Demokratie zwar in ihren Säulen
erhalten bleibt, dass aber ihre innere Substanz sich verändert und
schwindet.
Wie ich sagte, das sind schleichende Prozesse, sie führen dazu, dass
bestimmte Vertrauensmuster sich auflösen. Das führt dann auch leicht zu
Einstellungsmustern wie Rechtspopulismus. Es führt dazu, dass Menschen sich
aus dem System ausklinken und gar nicht mehr erreichbar sind, und das ist
für eine Gesellschaft gefährlich.
Diesen Rechtspopulismus, den messen wir mit vier Indikatoren: Als letztes
dazugekommen ist die Islamfeindlichkeit, dann Fremdenfeindlichkeit,
Antisemitismus, autoritäre Aggression. (Siehe dazu auch Adornos "F-Skala"
zur autoritären Persönlichkeit. Anm. G. G.) Dieser schleichende Prozess
wird meines Erachtens zu wenig thematisiert. Ein zweiter schleichender
Prozess bezieht sich auf das, was wir Anomie nennen, eine Art von
Orientierungslosigkeit.
## Stereotypen und Vorurteile
Man weiß als Bürger eigentlich gar nicht mehr, wo man steht. Und daraus
entwickelt sich die Einstellung, dass man sich - surrogathaft - festen
Boden unter den Füßen besorgt. Dazu gehören auch Stereotypen und
Vorurteile, mit denen man die Welt neu für sich ordnen kann, obwohl sie
natürlich gar nicht zu ordnen ist, weil sich die Gesellschaft relativ
richtungslos entwickelt.
Und ein dritter schleichender Prozess, über den nun überhaupt nicht
öffentlich gesprochen wird, ist die Ökonomisierung des Sozialen. Richard
Sennett, ein amerikanischer Soziologe, hat sich damit beschäftigt. Bei
dieser Ökonomisierung des Sozialen, da dringen Kategorien, die aus der
Ökonomie kommen, wie Effizienz, Verwertbarkeit und Nützlichkeit, in die
sozialen Verhältnisse ein.
Und zwar in Institutionen, die überhaupt nicht danach beschaffen sein
dürften: in die Familien, in soziale Gruppen, auch in Schulen etc. Wir
haben seit einigen Jahren diese Einstellungsmuster untersucht und sehen,
dass bestimmte Gruppen immer mehr in die Abwertung hineingeraten.
Das sind diejenigen, die diesen Kriterien ,nicht genügen', also niedrig
qualifizierte Zuwanderer, Langzeitarbeitslose, Behinderte und Obdachlose.
Und diese ökonomistischen Einstellungen sind natürlich befeuert durch die
Debatte um den Neoliberalismus.
Man muss vielleicht noch sagen, dass diese Abwertungsmuster eng
zusammenhängen damit, wie sich unsere Befragten auf einer sozialen
Stufenleiter rein subjektiv zuordnen konnten: Unten. Mitte. Oben. Die, die
sich oben einstuften, weisen ganz enge Zusammenhänge auf zu diesen
Abwertungen, zur Missachtung und Diskriminierung von denen "da unten".
## Sloterdijk und der 'kleptomanische Staat'
Und eine andere Entwicklung gibt es, die hat uns dann doch sehr irritiert,
dass es nämlich gerade bei denjenigen, die tatsächlich zu den
Besserverdienenden zählen, einen bemerkenswerten Anstieg in den Abwertungen
gegeben hat, seit der Krise. Seit 2008, ja. Wie das weitergehen wird, das
können wir nicht sagen, weil wir ja jetzt mit den Erhebungen aufhören, aber
man muss sehr genau darauf achten.
Und vor allem auch, weil ja Teile der Eliten diese Einstellungsmuster auch
noch befördern und befeuern, weil sie die Themen setzen. Beispielsweise,
wenn Sloterdijk von einem ,kleptomanischen Staat' spricht und zurück will
zur ,Gnade der gebenden Hand', dann nimmt er denen, die von
Transferleistungen leben müssen, ihre Würde. Ebenso macht es Sarrazin mit
großem Erfolg, bei dem noch das ,Juden-Gen' und die Islamfeindlichkeit
dazukommen.
Das ,Juden-Gen' musste er zurücknehmen. Beim Antisemitismus wurde ja ein
Tabu ausgesprochen, das in der Öffentlichkeit gilt, aber bei den anderen
Diskriminierungen wurde es nicht ausgesprochen. Interessant ist seine
Leserschaft. Sie meint, wenn die das alles schon so offen sagen, dann kann
ich mir das auch erlauben.
Und diese Leserschaft, die kommt ja nicht aus den unteren Soziallagen,
sondern das ist so diese, ich nenne es: ,rohe Bürgerlichkeit'. Nicht zu
verwechseln mit Bürgertum, das ist eine vollkommen andere Kategorie. Dieser
rohen Bürgerlichkeit müssen wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Es ist eine
Bürgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den
Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und
Effizienz orientiert.
Damit leugnet sie die Gleichwertigkeit von Menschen, macht ihre psychische
und physische Integrität antastbar und führt zugleich einen Klassenkampf
von oben. Sie ist sozusagen der Transmissionsriemen gegen diejenigen, die
als Ausgegrenzte definiert werden.
## Rassismus
Eine weitere Überraschung bei den Einstellungsmustern haben wir in Bezug
auf die Geschlechterfrage erlebt. Dass nämlich - und das ist ein stabiles
Ergebnis - bei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Frauen höhere Werte haben
als Männer. Es ist ein unliebsames Ergebnis, und wir dachten bei der ersten
Erhebung immer noch, hoffentlich haben wir da keinen Fehler begangen. Aber
es hat sich stets wiederholt.
Und auch bei der Altersfrage, da gibt es einen wirklich sensiblen Punkt,
dass wir es sozusagen mit einem ,schiefen U' zu tun haben, über das
Altersspektrum. Zwar sind bei den Jungen solche Abwertungen schon sehr
vorhanden, aber bei den Älteren, bei meiner Altersklasse über 60, da liegen
die Abwertungen von schwachen Klassen noch deutlich höher!
Das war überraschend. Aber die Gesellschaft reagiert ja erst dann, wenn
sich diese Ideologien von Ungleichwertigkeit mit Gewalt verbinden, und die
üben natürlich die Jungen aus. Die jungen Männer vor allem. Während sich um
die Einstellungsmuster der Alten, die sie hinter ihren privaten Gardinen
pflegen, im Freundeskreis oder in den Vereinen usw., kein Mensch kümmert.
Dabei sind es ja gerade sie, die an der Reproduktion dieser
Einstellungsmuster immer wieder beteiligt sind, als Großväter und
Großmütter. So gesehen, ist es natürlich ein struktureller Fehler, mit den
Interventionsprogrammen immer nur auf die Jugendlichen zu schielen.
Man muss immer wieder sehen und sehr genau beachten, dass diese
Einstellungsmuster einen gesellschaftlichen Vorrat bereitstellen, an dem
dann auch rechtsextreme Gruppen andocken können. Und es ist ja auffallend,
dass selbst die, die sich an den rechtsextremen politischen Rändern
bewegen, nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern mitten in ihr leben, mit
einem oft ganz kleinbürgerlichen Lebensentwurf.
## Gesellschaftlicher Ton hat sich massiv verändert
Insofern ist es ja auch eine völlige Fehleinschätzung, wenn jetzt,
anlässlich des Nationalsozialistischen Untergrunds, eine Abtrennung
erfolgt. Sozusagen: Dort sind die Verbrecher - was sie zweifellos sind -,
und ansonsten gibt es eine weitgehend intakte humane Gesellschaft. Das ist
auch so eine gesellschaftliche Selbsttäuschung, die man stark kritisieren
muss.
Was wir über die Jahre hinweg ganz deutlich feststellen können, ist, dass
sich der gesellschaftliche Ton massiv verändert hat. Ich habe Ihnen ja
schon ein paar Beispiele gegeben. Diese Form von Rohheit, mit der wir es
heute zu tun haben, gab es in den 90er Jahren noch nicht.
Es hat ja auch die ganzen Probleme der gesellschaftlichen Integration oder
Desintegration so noch nicht gegeben. Sie ist ein ganz zentrales Thema
unserer Studie. Wir arbeiten mit dieser Theorie der sozialen
Desintegration, die wir entwickelt haben, um herauszufinden, was für
Menschen bedrohlich wird und wie sie darauf reagieren.
Desintegration und Integration reservieren wir in unserem Konzept natürlich
nicht für die Zugewanderten, sondern das gilt ebenso für Teile der
Mehrheitsgesellschaft. Die sind ja auch nicht integriert, wenn man ein
bestimmtes Integrationskonzept zugrunde legt, nämlich den Zugang zu den
Funktionssystemen wie Arbeit, Bildung etc. und der daraus entspringenden
sozialen Anerkennung - was für uns ein sehr wichtiger Punkt ist.
Und wir stellen die Frage nach der politischen Partizipation; Kann ich an
diesen wichtigen Kernnormen, wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness -
kann ich da eigentlich mitdiskutieren? Habe ich da überhaupt eine eigene
Stimme? Und wenn ich die nicht habe, dann scheine ich auch keinen Anspruch
darauf zu haben und bin lediglich ein Bürger zweiter oder dritter Klasse.
Also ich bin politisch völlig einflusslos, oder eben auch meine Gruppe.
## Negative Erfahrung gegen Schwächeren gelenkt
Hier setzt dann wieder ein Abwertungsverhalten ein, denn es ist ja nicht
so, dass man sich nun zusammentut und gegen die herrschenden Gruppen
vorgeht, sondern die negative Erfahrung wird umgelenkt und gegen die noch
Schwächeren in der Gesellschaft gekehrt.
Auch, um sich von denen abzusetzen und sich zugleich aufzuwerten. Es ist
zynisch, aber jede Gesellschaft braucht genau dazu ihre Randgruppen, denn
mit solchen Randgruppen wird Politik gemacht, man signalisiert der
Mehrheit: Passt auf, dass ihr da nicht hineinrutscht! Insofern werden
Randgruppen auch immer wieder neu ,kreiert'."
Ich möchte an dieser Stelle das Thema auch auf die bringen, die die
Grundlagen dafür schaffen und geschaffen haben, mit Hartz IV, Zeitarbeit
und dergleichen. Die Leute sind systematisch runtergestuft worden von den
"Maßnehmern" durch eine Vielzahl von "Maßnahmen", auch rhetorisch
runtergedrückt, auf ein erkennbar minderwertiges Niveau.
Die Umbenennung der Arbeitslosen (das Wort bezeichnete noch den Verlust) in
Hartz-IV-"Empfänger", die plötzlich etwas empfangen, worauf sie zuvor einen
Anspruch hatten, die von "Leistungen" leben, ohne etwas dafür zu tun, die
hatte System.
Herr Heitmeyer nickt und sagt energisch: "Ja, das hat System. Es gibt
eindeutige Zusammenhänge zwischen der Forderung an die sozial Schwachen,
ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und ihrer Abwertung.
Sehr deutlich zeigt das ja auch diese Broschüre vom
Bundesarbeitsministerium, aus der ich Ihnen das ,Parasiten'-Zitat genannt
habe.
## Rohe Bürgerlichkeit
So etwas steht in einer offiziellen Broschüre eines Ministeriums. Infam,
das fasst man nicht! Und diese Broschüre ist durch sehr viele Hände
gegangen, durch sämtliche Redaktionen, und es gab nur ganz vereinzelte
Reaktionen. Das sind natürlich solche Denkmuster, die gehören direkt zu
dieser rohen Bürgerlichkeit, von der ich gesprochen habe.
Und auch zu den Spaltungsversuchen. Und wer sind die direkten und
indirekten Akteure dieser Spaltungsbewegung? Es sind die intellektuellen
Diskursagenten und Wissenschaftler, insbesondere der
wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Eliten. Das muss einem schon
Sorgen machen. Und das kam eben nicht plötzlich, sondern teilweise
schleichend, in Begleitung der neoliberalen Diskurse.
Aber das ist nur die eine Seite, auf der anderen Seite - es laufen da
mehrere Sachen zusammen - haben wir es über die Zeit hinweg auch mit einer
Kontrollverschiebung zu tun. Es gibt nämlich einen Kontrollgewinn des
autoritären Kapitalismus.
Und dem entspricht ein Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik. Und
daraus resultieren dann natürlich auch diese Formen der
Demokratieentleerung. Die Ökonomisierung des Sozialen. Sicher, es gibt
natürlich auch hausgemachte Dinge, wie schon gesagt, aber auf der anderen
Seite gibt es diesen rabiaten Wettbewerb, bei dem nicht mehr Firmen
miteinander konkurrieren, sondern ganze Länder.
Auch im Hinblick auf die Standorte von Firmen. Und das macht noch mal einen
deutlichen Unterschied in der Frage der Veränderung von Politik. Und bei
all dem muss man eben aufpassen, dass die soziale Spaltung, die soziale
Ungleichheit, die wir inzwischen erreicht haben, sich nicht noch weiter
entwickeln. Teil des Problems ist, dass die nationale Politik keinerlei
Interesse daran zeigt.
## Due Ungleichheit zersetzt die Gesellschaft
Im internationalen Vergleich ist deutlich zu sehen: Je größer die
Einkommensungleichheit, die einseitige Verteilung des Reichtums, umso
größer sind die sozialen Probleme. Wir Deutschen haben ja, laut OECD, die
größten Zuwachsraten in der ungleichen Verteilung.
Der entscheidende Punkt ist dabei ja, dass die Ungleichheit die
Gesellschaft regelrecht zersetzt, dass der Prozess sich einschleicht und
erst mal relativ unbemerkt verläuft, weil sich eben keine protestierenden
Kollektive mehr bilden können und weil auch keiner mehr zuhört. Weil
vielfach das Motto lautet: Rette sich, wer kann. Dadurch ist das Leben in
bestimmten sozialen Gruppen auch permanent angstdurchsetzt und verätzt.
Und das macht diese Ungleichheiten schon ziemlich gefährlich. Und es gibt
etwas sehr Wichtiges, was ich bei sämtlichen Vorträgen deutlich mache - man
muss sich hüten vor Normalisierung. Was in den 90er Jahren nicht denkbar
war, ist heute ganz normal. Und was normal geworden ist, lässt sich nur
noch schwer problematisieren.
Zurück zur Studie. Es gibt in unseren Untersuchungen Ergebnisse zu den drei
Kernnormen, die eine Gesellschaft auch zusammenhalten: Solidarität,
Gerechtigkeit, Fairness im Umgang miteinander. Gerechtigkeit ist die Frage
von Verteilung. Mit welchen Gerechtigkeitsvorstellungen operiert man? Da
gibt es ja unterschiedliche: Leistungsgerechtigkeit,
Verteilungsgerechtigkeit und Bedürfnisgerechtigkeit.
Bedürfnisgerechtigkeit heißt, wer kann sich nicht selber helfen und wie
kann man seinen Bedürfnissen gerecht werden. Und unsere Untersuchungen
zeigen, dass ein großer Anteil sagt: In diesen Krisenzeiten können die
Schwachen nicht mehr mit Solidarität rechnen.
## Nutzlose und Ineffiziente
Oder eine ziemlich hohe Anzahl sagt: Das Postulat der Gerechtigkeit lässt
sich in diesen Krisenzeiten nicht mehr realisieren. Und diejenigen, die in
Lohn und Brot stehen, die plädieren natürlich besonders stark für
Leistungsgerechtigkeit, weil sie sich selbst als Leistungsträger sehen. All
die anderen sind gewissermaßen Abhängige. Sind Nutzlose und Ineffiziente.
Es geht auch darum, zu betrachten, was mit der Armut passiert, auch mit der
Altersarmut, die immer größer wird. Auch die unter den Migranten. Insofern
ist auch hier die Frage der Verhärtung ein wichtiger Punkt." Ich möchte
kurz auch Bezeichnungen einführen, die Herr Heitmeyer in seinen Texten
gewählt hat, die mir angenehm auffielen, weil sie irgendwie zartfühlend
sind und unabgenutzt. Begriffe wie: entsicherte und entkultivierte
Bürgerlichkeit, Vereisung des sozialen Klimas, kalte Kalkulation gegenüber
den "Nutzlosen", Renaturalisierung der Ungleichheit.
Er räuspert sich und sagt: "Das hat einfach damit zu tun, wie sich Eliten
äußern, also Leute, die den Zugang haben zu den Medien, die Vervielfältiger
sind von bestimmten Dingen. Und wie das dann einsickert in die ,rohe
Bürgerlichkeit' kann man ja sehen. Es gibt eine große Gleichgültigkeit
gegenüber den Folgen.
Es gibt so eine Art semantischen Klassenkampf von oben gegen ,die da
unten'. Renaturalisierung meint, dass biologische Kriterien benutzt werden,
dass man sprachlich damit Gruppen markiert, die dann nie mehr da
rauskommen, weil sie bestimmte Kennzeichen tragen. Das kann die Hautfarbe
betreffen, aber auch die Religion oder die Obdachlosigkeit.
Und man will ,Säuberung' oder zumindest Aus- und Abgrenzung. Rassismus und
die Abwertung von Obdachlosen sind zum Beispiel von 2010 auf 2011
signifikant angestiegen. Ein ebenfalls ansteigender Trend lässt sich
aktuell bei der Fremdenfeindlichkeit und bei der Abwertung von Behinderten
beobachten. Und 35,4 Prozent der Befragten stimmten 2011 der Aussage zu:
,Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden'.
## Spaltung der Gesellschaft
40,1 Prozent bestätigen: ,Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und
Roma in meiner Gegend aufhalten'. Und 44,2 Prozent sind sich sicher: ,Sinti
und Roma neigen zur Kriminalität. Also, ich fasse am Schluss noch mal der
Verständlichkeit halber zusammen: Die laufenden Prozesse der Umverteilung
und ihre gesellschaftliche Zerstörungskraft nehmen stetig zu und führen zu
einer immer größer werdenden Spaltung der Gesellschaft.
Die oberen Einkommensgruppen nehmen diese Spaltung nur begrenzt wahr, sie
sind im Gegenteil der Meinung, dass sie zu wenig vom Wachstum profitieren.
Sie sind rasch bereit, die Hilfe und Solidarität für schwache Gruppen
aufzukündigen. Sie werten zunehmend stärker ab. Die Studie macht deutlich,
es existiert eine geballte Wucht rabiater Eliten und die Transmission
sozialer Kälte durch eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der
Opferrolle sieht und deshalb immer neue Abwertungen gegen schwache Gruppen
in Szene setzt.
Und die Studie zeigt, wie stark Menschen aufgrund von ethnischen,
kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des
Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen mit
solchen Mentalitäten konfrontiert und ihnen machtlos ausgeliefert sind. Die
Opfergruppen sind mittlerweile wehrlos und nicht mobilisierungsfähig.
Insgesamt ist eine ökonomische Durchdringung sozialer Verhältnisse
empirisch belegbar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Seit 2008 haben sich die
krisenhaften Entwicklungen zeitlich massiv verdichtet.
Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität sind zur neuen Normalität
geworden, die Nervosität scheint über alle sozialen Gruppen hinweg zu
steigen. Wir erleben, wie sich ein neuer Standard etabliert: ,volatility',
so die New York Times. Eine explosive Situation als Dauerzustand. Aus all
dem resultiert vor allem eines: Die gewaltförmige Desintegration ist auch
in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich."
28 Feb 2012
## AUTOREN
Gabriele Goettle
## TAGS
Universität Göttingen
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