| # taz.de -- Jahrestag Massaker in Syrien: Das Trauma bleibt | |
| > Vor 30 Jahren tötete das Regime Assads in der Stadt Hama 20.000 Menschen. | |
| > Heute tötet das Regime erneut – aber der Aufstand ist ein anderer als | |
| > damals. | |
| Bild: Die Facebook-Seite "Hama" zeigt Fotos von Menschen, die 1982 in der zentr… | |
| Der Februar ist in Syrien ein blutiger Monat. Damals wie [1][heute]. Im | |
| Februar 1982 legen Regierungstruppen weite Teile der Stadt Hama in Schutt | |
| und Asche, jetzt stehen Wohngebiete in der Stadt Homs unter anhaltendem | |
| Raketenbeschuss. | |
| Doch während über das Blutvergießen in Hama 1982 nur sporadisch Nachrichten | |
| nach außen drangen, ist die Welt heute Zeuge der Gewalt in Syrien. Die | |
| Bilder von Raketenangriffen, Schwerverletzten und Beerdigungszügen | |
| erreichen die Öffentlichkeit fast in Echtzeit. Aus verwackelten Videoclips | |
| sind professionelle Beweisaufnahmen geworden. | |
| In einer deutschen Kleinstadt sitzt Anas vor dem Computer. Der 45-Jährige | |
| schaut sich die Videos von sterbenden Kindern und zerfetzten Körpern im | |
| Internet an. Die Miene des Syrers ist starr. Erinnerungen werden wach an | |
| das, was in seiner Heimatstadt Hama vor 30 Jahren geschah. Anas heißt in | |
| Wirklichkeit anders. Um seine Familie nicht zu gefährden, will er anonym | |
| bleiben. Sein Vater lebt heute noch in Hama, der Bruder und einige Cousinen | |
| wohnen in Vororten von Damaskus. | |
| Mehr als die Hälfte seines Lebens hat Anas in Deutschland verbracht. Er ist | |
| Manager in der Automobilindustrie, ein feingliedriger Mann mit | |
| intellektueller Metallbrille. Wenn seine Verwandten ihm über Skype von | |
| Panzern, Massenverhaftungen und Leichen auf den Straßen erzählen, muss Anas | |
| an damals denken. Im Jahr 1982 war es ein großes Massaker, heute seien es | |
| verschiedenenorts viele kleine Massaker, sagt Anas. Und doch gibt es einen | |
| wichtigen Unterschied: die Vorgeschichte. | |
| ## Zeit der Spannungen | |
| Die 1970er Jahre sind in Syrien eine Zeit gesellschaftlicher Spannungen. | |
| Seit der Machtübernahme der Baathpartei im Jahr 1963 verlieren die | |
| städtischen Eliten an Einfluss, während die arme Landbevölkerung gezielt | |
| gefördert wird. Als sich Verteidigungsminister Hafis al-Assad 1970 unblutig | |
| an die Macht putscht, hat es zum ersten Mal ein Vertreter der Unterschicht | |
| an die Spitze des Staates geschafft. Assad gehört zu den traditionell | |
| benachteiligten Alawiten und hat den für ihn einzigen Weg des politischen | |
| Aufstiegs genommen: eine Karriere im Militär. | |
| Assad will die Ideologie der Baathpartei nutzen, um Syrien zu einer | |
| selbstbewussten Nation zu machen. Doch die Partei verrät bald ihre Ideale. | |
| Im Laufe der 1970er Jahre entsteht ein Netz aus Korruption und | |
| Vetternwirtschaft. Regimevertreter bereichern sich schamlos. Der Unmut | |
| wächst. Das Bürgertum büßt politischen Einfluss ein, alteingesessene | |
| Händler kämpfen mit neureichen Emporkömmlingen und religiöse Autoritäten | |
| versinken angesichts des dominanten säkularen Klimas in der | |
| Bedeutungslosigkeit. | |
| Dieser Frust bildet den Nährboden für die islamische Opposition. Die Partei | |
| der Muslimbrüder gibt den konservativen Sunniten eine Stimme und gewinnt | |
| vor allem in Aleppo und Hama Anhänger. In Damaskus dagegen gelingt es | |
| Assad, den Einfluss der Muslimbrüder zu begrenzen, indem er wichtige | |
| sunnitische Gesellschaftskreise wirtschaftlich an sich bindet. Dieses enge | |
| Verhältnis besteht bis heute. | |
| Anas erlebt den Aufstieg der Muslimbrüder als Jugendlicher mit. Und er | |
| beobachtet, wie in Hama aus wirtschaftlichen Abhängigkeiten konfessioneller | |
| Hass entsteht. „Die Landbewohner um die Stadt waren Alawiten, die den | |
| sunnitischen Städtern gedient haben“, erinnert sich Anas. Das hätten sie | |
| ihnen bis heute nicht verziehen, meint er. | |
| ## Aufstieg der Alawiten | |
| Mit Assads Machtübernahme beginnt der Aufstieg der Alawiten. Viele | |
| verlassen das bergige Hinterland der Mittelmeerküste, wo sie über | |
| Jahrhunderte Schutz vor Verfolgung gesucht haben, und gehen in die Städte. | |
| Dort finden sie Anstellung in der öffentlichen Verwaltung, in den | |
| Geheimdiensten und im Militär – bis heute sind Alawiten in den staatlichen | |
| Sicherheitskräften überproportional vertreten. | |
| Die neue Machtkonstellation lässt aus Opfern Täter werden. | |
| Minderwertigkeitskomplexe und Rachegefühle treiben die alawitischen | |
| Geheimdienstmitarbeiter an, wenn sie die meist gut ausgebildeten Islamisten | |
| zu fassen kriegen, meint Anas. Bei der Erinnerung an den geschundenen | |
| Rücken und die herausgerissenen Fingernägel seines Cousins, der 1979 | |
| inhaftiert wird, durchzucke ihn heute noch ein kalter Schauer, sagt er. | |
| Gleich mehrere von Anas’ älteren Cousins schließen sich der Tali’a | |
| al-Muqatila an, der „kämpfenden Vorhut“ der Muslimbrüder. Mit gezielten | |
| Attentaten auf Regierungsvertreter und Bombenanschlägen auf öffentliche | |
| Gebäude und Militäreinrichtungen fordern die radikalen Islamisten das | |
| Baath-Regime heraus. Präsident Assad schlägt brutal zurück. Unmittelbar | |
| nach einem Mordanschlag, den er im Juni 1980 knapp überlebt, stellt er die | |
| Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern per Dekret unter Todesstrafe. Hunderte | |
| Inhaftierter werden in ihren Gefängniszellen massakriert, in Aleppo und | |
| Hama werden Männer und Jungen über 14 Jahre willkürlich zusammengetrieben | |
| und kurzerhand erschossen. Der Freibrief zum Töten gilt bis heute. | |
| Im Jahr 1982 steuert alles auf offenen Krieg zu. Er beginnt in den frühen | |
| Morgenstunden des 2. Februars, als eine Armeeeinheit in der Altstadt von | |
| Hama Verstecke der Muslimbrüder angreift. Hunderte Kämpfer schlagen die | |
| Soldaten in die Flucht, erstürmen Regierungsgebäude, töten führende | |
| Parteifunktionäre und erklären Hama am Vormittag des 2. Februar für | |
| befreit. | |
| ## Drei Wochen Albtraum | |
| Ein Schock für das Regime in Damaskus. Es rüstet sich für die entscheidende | |
| Schlacht gegen die Islamisten. Für Assad geht es nicht mehr darum, sie zu | |
| besiegen, sondern sie zu vernichten. Was folgt, ist ein dreiwöchiger | |
| Albtraum. Das Syrische Menschenrechtskomitee, eine offiziell verbotene | |
| Nichtregierungsorganisation, hat das Massaker von Hama mit Hilfe von | |
| Augenzeugen dokumentiert. Ganze Familien werden in ihren Häusern getötet, | |
| Männer von Erschießungskommandos auf offener Straße hingerichtet. Auch | |
| Frauen und Kinder bleiben nicht verschont. | |
| Die Augenzeugenberichte decken sich mit dem, was Anas von seinen Verwandten | |
| gehört hat. Ihm selbst gelingt gleich zu Beginn des Massakers die Flucht. | |
| Er ist der einzige Mann im wehrfähigen Alter aus seiner Familie, der Hama | |
| lebend verlässt. Die Cousinen und Tanten, die bleiben und überleben, sind | |
| nachhaltig traumatisiert. | |
| „Eine meiner Cousinen hatte sich mit ihrer Mutter und anderen Leuten im | |
| Keller versteckt“, erzählt Anas. Soldaten hätten den Raum gestürmt und alle | |
| erschossen. Seine Cousine und der Säugling ihrer Nachbarin waren die | |
| einzigen Überlebenden. „Wenn sich noch jemand bewegte, haben die Soldaten | |
| noch mal geschossen. Dann haben sie Uhren und Schmuck geklaut und sind | |
| abgehauen.“ Seine Cousine habe nur überlebt, weil sie unter ihrer toten | |
| Mutter gelegen habe. | |
| Anas’ Stimme bricht, für einen Moment verliert er die Fassung. Zum ersten | |
| Mal spricht er über das, was damals geschah. Erst jetzt, wenn er sich die | |
| Videos der heutigen syrischen Aktivisten im Internet ansieht, tauchen die | |
| Bilder von damals unweigerlich wieder auf. | |
| ## Mantel des Schweigens | |
| Ende Februar 1982 liegt ein Großteil von Hama in Trümmern. | |
| Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass etwa 20.000 Menschen starben. | |
| Zehntausende werden verhaftet oder gelten als verschwunden, viele kehren | |
| nie zurück. Hama wird zum Trauma einer Nation. Und zum Tabu. Die Stadt | |
| selbst wird in kürzester Zeit wieder aufgebaut, die Spuren werden | |
| beseitigt. Über die gesellschaftlichen Narben legt sich ein Mantel des | |
| kollektiven Schweigens. | |
| Assads Regime macht bis heute die Muslimbrüder für die Gewalt | |
| verantwortlich. Ihre Partei wurde faktisch ausgelöscht, aktive Mitglieder | |
| wurden getötet, Anhänger verhaftet. Wer der Verfolgung entkommt, flieht ins | |
| Ausland. Dort entwickeln sich verschiedene Strömungen, die von politischen | |
| Führern im Exil geprägt werden. | |
| Weder damals noch heute geben die syrischen Muslimbrüder ein einheitliches | |
| Bild ab. Ihr Vorsitzender, Mohammed Riad al-Schaqfa, lebt in der Türkei, wo | |
| sich die syrische Auslandsopposition seit Monaten formiert. Innerhalb des | |
| syrischen Nationalrats, des wichtigsten Oppositionsbündnisses außerhalb | |
| Syriens, stellen die Muslimbrüder die größte Fraktion, manchen ist ihr | |
| Einfluss schon jetzt zu dominant. | |
| Vor allem die Minderheiten im Land – Christen, Alawiten und Drusen – | |
| fürchten sich im Falle eines Regimewechsels vor einer islamischen Agenda | |
| der sunnitischen Mehrheit. Generalsekretär Schaqfa bemüht sich, diese | |
| Befürchtungen zu zerstreuen. Er sagt Sätze wie „man kann die Scharia | |
| niemandem aufzwingen“ und „wir als Muslimbrüder werden die Rechte der | |
| Minderheiten verteidigen“. | |
| ## Propaganda und Realität | |
| Anas bleibt skeptisch. Er vermisst bei den Muslimbrüdern eine ehrliche, | |
| kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Parteichef | |
| Schaqfa, seit den 1970er Jahren im Ausland, distanziert sich heute vom | |
| Terror. Er behauptet, die früheren Anschläge seien von eigenständigen | |
| Zellen durchgeführt worden, die offiziell nicht zu den Muslimbrüdern | |
| gehörten. Für Anas ein Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen. | |
| Doch die Muslimbrüder haben gerade andere Sorgen, schließlich werden sie | |
| auch in der aktuellen Krise für die Gewalt verantwortlich gemacht. 30 Jahre | |
| nach Hama bedient sich Präsident Baschar al-Assad derselben Rhetorik wie | |
| sein Vater und beschwört die „islamistische Gefahr“: Vom Ausland gesteuerte | |
| Terrorgruppen wollten Syrien zerstören. Doch im Gegensatz zu damals geht | |
| die Propaganda heute an der Realität vorbei. | |
| Nicht bewaffnete Terroristen, sondern friedliche Demonstranten, die | |
| mittlerweile von Deserteuren unterstützt werden, fordern das Regime seit | |
| fast einem Jahr heraus. Während damals eine radikale sunnitische Minderheit | |
| ein islamisches Staatswesen wollte, fordern heute Syrer aller Religionen | |
| und sozialen Schichten Freiheit und Demokratie. Kurz: Vor 30 Jahren | |
| bekämpfte eine islamische Partei ein säkulares Regime, heute befreit sich | |
| das syrische Volk von einer Diktatur. | |
| 29 Feb 2012 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kristin Helberg | |
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| Schwerpunkt Syrien | |
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