# taz.de -- Grüne über EM-Hintergründe in Ukraine: „Da beißt man auf Gran… | |
> Die grüne Sportpolitikerin Viola von Cramon über die politischen | |
> Realitäten im EM-Gastgeberland Ukraine und die Verantwortung der | |
> Sportverbände Uefa und DFB. | |
Bild: Will bei der EM nicht als politischer Akteur in Erscheinung treten: Uefa-… | |
taz: Frau von Cramon, ist die Ukraine ein würdiger Gastgeber für die | |
Fußball-Europameisterschaft? | |
Viola von Cramon: Als die Vergabe im April 2007 anstand, gab es in der | |
Ukraine andere politische Voraussetzungen als heute. | |
Wenige Monate nach der Kür Polens und der Ukraine ist Julia Timoschenko im | |
Herbst 2007 noch einmal zur Ministerpräsidentin gewählt worden. Heute sitzt | |
sie wie andere ehemalige Minister, etwa Georgi Filiptschuk und Juri | |
Luzenko, im Gefängnis. Verantwortlich dafür ist die Führung unter Wiktor | |
Janukowitsch und seine Partei der Regionen. | |
Die Uefa ist ein Risiko mit der Vergabe eingegangen. Sie wird ihrer | |
Verantwortung jetzt nicht gerecht. Da würde ich mir mehr Engagement | |
vonseiten des europäischen Fußballverbands wünschen. | |
Inwiefern? | |
Man hätte die Ukraine von Anfang an mehr an die Hand nehmen müssen. | |
Zunächst in organisatorischen Dingen. Das Land hatte einfach keine | |
Erfahrung in der Ausrichtung von so einem Großereignis. In der Ukraine gibt | |
es ein klares Top-down-Prinzip. Das heißt: Wenn der Oberste nichts sagt, | |
passiert auch nichts. Deswegen hat ja eine Zeit lang nichts funktioniert. | |
Da hätte die Uefa mehr machen und präsenter sein müssen. | |
Die Stadien werden aber alle fertig. | |
Ja, es gab dann Politiker, die den Bau vorangetrieben haben, aber diese | |
Politiker haben anderswo massive Defizite. | |
Was meinen Sie? | |
Man drängt jegliche demokratische Entwicklung zurück, es gibt keine echte | |
Presse- und Meinungsfreiheit mehr. Der Druck, der über die Präsenz des | |
Sicherheitsapparats von Janukowitsch aufgebaut wird, ist immens. Kritische | |
Stimmen werden mundtot gemacht. Das hat dramatische Züge angenommen. Ganz | |
konkret kann man das festmachen am Rachefeldzug gegen Mitglieder der | |
ehemaligen Regierung. Dieser Rachefeldzug ist noch immer nicht | |
abgeschlossen. Mittlerweile sind über 20 ehemalige Regierungsmitglieder in | |
Haft oder U-Haft. Das ist so zynisch und brutal, dass sich selbst | |
Spitzensportverbände nicht enthalten können. | |
Was war der Grund der Verurteilungen? | |
Die Gründe sind kreiert. Es handelt sich um Schauprozesse zur Abstrafung | |
politischer Gegenspieler. | |
Sie hatten die Möglichkeit, mit dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt, | |
Renat Kuzmin, zu sprechen. Wie beurteilt er die Prozesse? | |
Da beißt man auf Granit. Er wollte partout nicht einsehen, dass dieses | |
Vorgehen der ukrainischen Justiz für westliche Politiker inakzeptabel ist. | |
Er hat sogar alle Kritiker verhöhnt. | |
Wie ernst ist die Lage in der Ukraine Ihrer Meinung nach? | |
Es geht Richtung Weißrussland. Ich bekomme immer mehr E-Mails von | |
Oppositionspolitikern, Journalisten, Menschen aus der Zivilgesellschaft, | |
die mich um Hilfe bitten. Sie berichten davon, dass sie unter Druck gesetzt | |
werden. Es geht Janukowitsch darum, vor der Parlamentswahl im Herbst die | |
Opposition einzuschüchtern, und zwar so, dass er die Wahl gar nicht mehr | |
fälschen muss. Es ist zum Beispiel unheimlich schwierig, Leute in der | |
Ukraine für eine unabhängige Wahlkommission zu finden, weil sie mit | |
Repressionen rechnen müssen. | |
Kann unter diesen Umständen ein großes EM-Fußballfest stattfinden? | |
Die Sportverbände sagen: Natürlich geht das, denn Sport ist Sport, und | |
Politik ist Politik, aber so einfach ist es nicht. Wenn ich weiß, dass die | |
Zahl der politischen Gefangenen mit jedem Tag größer wird, dann hat man | |
auch als Fußballfunktionär und Fußballfan eine gewisse Verantwortung. | |
Die politische Klasse in der Ukraine wird die EM zur Aufpolierung ihres | |
Images nutzen. | |
Die Gefahr sehe ich auch. | |
Vizepremier Boris Kolesnikow ist verantwortlich für die EM. Er ist ein | |
enger Vertrauer von Rinat Achmetow, des reichsten Manns der Ukraine und | |
Präsidenten des Fußballklubs Schachtjor Donezk. Beide werden sich als | |
Wohltäter präsentieren. | |
Und deswegen ist es meine Pflicht als westliche Politikerin, mahnend zu | |
wirken. Ich fände es auch gut, wenn die Bundeskanzlerin sagt, ich reise | |
während der EM nicht in die Ukraine, weil ich neben Janukowitsch nicht auf | |
der Tribüne gesehen werden möchte. | |
Es heißt, die Kanzlerin werde nicht zu den Vorrundenspielen des DFB-Teams | |
in Lemberg und Charkiw, den Inhaftierungsort von Julia Timoschenko, reisen. | |
Aber was ist, wenn die sportliche Dramatik steigt und es die deutsche Elf | |
im weiteren Turnierverlauf nach Donezk oder Kiew verschlägt? Kann es sich | |
die Kanzlerin leisten, bei einem Finale mit deutscher Beteiligung zu | |
fehlen? | |
Ja, sie kann es sich leisten. Es wäre ein wichtiges politisches Zeichen. | |
Ich weiß, dass Frau Merkel die Situation in der Ukraine nicht gleichgültig | |
ist. Wir alle haben ein großes Interesse, dass es in der Ukraine nicht zu | |
weiteren politischen Erosionsprozessen kommt. | |
Die Haltung der Bundesregierung ist freilich sehr ambivalent. Einerseits | |
erwartet sie von der ukrainischen Regierung Fortschritte in Richtung | |
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, andererseits geht sie davon aus, dass | |
die ukrainische Führung während der EM bestrebt ist, sich als „weltoffener, | |
europäischer, moderner und demokratischer“ Staat zu präsentieren. Ist das | |
politisch nicht naiv? | |
Ich frage mich: Was will die Bundesregierung eigentlich? Es wurde ja leider | |
auch die Chance einer Visa-Liberalisierung während der EM verpasst. Das | |
wäre etwas gewesen für die gebeutelte ukrainische Bevölkerung. | |
Warum war eine Lockerung der Visa-Praxis über einen Zeitraum von wenigen | |
Wochen nicht möglich? | |
Daran ist die Denkart der konservativen Innenpolitiker aus Deutschland | |
schuld. | |
Sie haben Uefa-Chef Michel Platini in einem Brief gebeten, auch als | |
politischer Akteur in Erscheinung zu treten. Wie hat er reagiert? | |
Er hat den Ball zurückgespielt: Die Uefa werde mit offenen Augen durch das | |
Land gehen, aber im Grunde sei nicht die Uefa am Zug, sondern die Politik. | |
Die Uefa drückt sich vor der Verantwortung? | |
Ja, ganz klar. | |
Verhält sich der Deutsche Fußball-Bund ähnlich? | |
Ich habe mit dem DFB gesprochen und an Herrn Niersbach noch einmal | |
appelliert, dass sich zumindest der größte Einzelverband innerhalb der Uefa | |
deutlicher positioniert. Der DFB sollte mutiger und kritischer sein. Er | |
muss mehr liefern. | |
Vor den Olympischen Spielen in Peking hieß es immer wieder: So ein | |
sportliches Großereignis wird das Land zum Besseren hin verändern. Gilt das | |
für die Ukraine? | |
Das geht nur, wenn man immer wieder westliche Standards einfordert, auch | |
schon im Vorfeld. Aber das hat die Uefa nicht getan. 2011 war ganz klar | |
absehbar, in welche Richtung es politisch in der Ukraine geht. Der Verband | |
hätte sagen müssen: Entweder du, Wiktor Janukowitsch, steuerst um, oder wir | |
suchen uns ein anderes Gastgeberland aus. Das war der zentrale Fehler, den | |
die Uefa begangen hat. Jetzt ist es leider zu spät. | |
Können die Ukrainer nicht wenigstens von der besseren Infrastruktur | |
profitieren, auch von den modernen Stadien? | |
Die Kosten waren ja zum Teil exorbitant hoch. Jeder Sitz im neuen Kiewer | |
Stadion war fünfmal teurer als der in der Münchner Arena. Wir werden nach | |
der EM eine zweistellige Inflation in der Ukraine sehen, eine Verelendung | |
der Durchschnittsbevölkerung. Die Ukraine hat einen hohen Preis für die EM | |
bezahlt, in vielerlei Hinsicht. | |
21 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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