# taz.de -- Betroffener vom Canisius-Kolleg erzählt: Leben wie hinter Glas | |
> Es dauerte fast dreißig Jahre, bis er sich seiner Vergangenheit stellen | |
> konnte. Einer der Aufklärer der sexuellen Gewalt am Canisius-Kolleg | |
> erzählt seine Geschichte. | |
Bild: „Ein schmaler, linkischer Junge mit Brille“. Matthias Katsch mit 14 J… | |
Wenn ich heute ein Bild aus meiner Jugend sehe, dann blickt mich ein | |
schmaler, linkischer Junge mit Brille an. Er ist mir fremd geworden. 1977 | |
bin ich mit 14 am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin Opfer sexuellen | |
Missbrauchs durch zwei Patres geworden: Der eine hat in meine erwachende | |
Sexualität voyeuristisch eingegriffen, der andere mich in sadistischer | |
Weise geschlagen und erniedrigt. Beide haben das kindliche Vertrauen | |
missbraucht. Heute weiß man, dass Pater R. und Pater S. zwei Serientäter | |
waren, die von einer Station zur nächsten weiterversetzt wurden. | |
Ich schob die Taten aus meinem Bewusstsein und verschloss sie in meiner | |
persönlichen „Kammer des Schreckens“. Aus Scham und religiös aufgeladenem | |
Schuldgefühl wurde Verdrängung. Mit 19 sprach ich das letzte Mal mit einem | |
Mitschüler über das Thema. Einige ältere Schüler hatten schon 1981 | |
versucht, die Abberufung von Pater R. zu erreichen. Über zehn Jahre hatte | |
er die Jugendarbeit an der Schule in sektenartiger Weise beherrscht. Und er | |
hatte massive sexuelle Übergriffe begangen. | |
Die folgenden zweieinhalb Jahrzehnte lebte ich in dem Gefühl, dass mein | |
Leben enorm anstrengend sei. Phasen tiefer Depression wechselten mit | |
hektischer Aktivität. Ich suchte Hilfe bei Psychologen und Beratern, vor | |
allem therapierte ich meine Traurigkeit mit allerlei stofflichen Mitteln | |
selbst, was neue Probleme schuf. Dazu kamen Schwierigkeiten in der | |
Paarbeziehung. Nichts davon brachte ich mit den Ereignissen von 1977 in | |
Verbindung. | |
## „Ich träumte nie“ | |
Wenn mich jemand nach den Erlebnissen konkret gefragt hätte, ich hätte sie | |
schildern können. Doch es trat gar nicht in mein Bewusstsein. Ich lebte | |
mein Leben wie hinter Glas, abgeschirmt von meinen Erinnerungen. Ich | |
träumte nie. Heute weiß ich, dass es sich um eine Art Schutzmechanismus | |
handelt. | |
Als ich Anfang 40 war, berichtete mir ein zufällig wiedergefundener | |
Klassenkamerad vorsichtig von schrecklichen Erlebnissen – mit jenen Patres, | |
die auch meine Peiniger waren. Ich merkte: Du bist nicht allein. Das war | |
2005, und ich war 42 Jahre alt, 28 Jahre nach der ersten Tat. | |
Damit war der erste Stein der Mauer gefallen. In den folgenden Jahren | |
näherten wir uns dem Thema gesprächsweise immer wieder. Doch wir bekamen zu | |
spüren, wie anstrengend Vergangenheit sein kann: wie wenn man ein Giftdepot | |
öffnet – und die Tür wieder schließen muss, weil die Kontamination zu hoch | |
ist. Wir begannen über die Täter zu recherchieren. Einer lebte verheiratet | |
in Chile, der andere quasi in unserer Nachbarschaft in Berlin. Was wir aber | |
mit unserem Wissen eigentlich machen sollten, wussten weder ich noch mein | |
Schulkamerad von damals. | |
## „Lass die Geschichten ruhen!“ | |
Im Herbst 2009 schrieb der Freund schließlich in einem E-Mail-Verteiler | |
unseres Abiturjahrgangs über das, was ihm R. und S. angetan hatten – | |
anonym. Die ersten Reaktionen waren wenig ermutigend: Lass die alten | |
Geschichten ruhen! | |
Doch ich war es leid, weiter Versteck zu spielen. Ich berichtete mit vollem | |
Namen. Rasch meldeten sich nun weitere Betroffene. Je mehr wir uns | |
austauschten, umso klarer wurde die Erkenntnis: Wir waren Opfer sexuellen | |
Missbrauchs geworden. Wir gehen heute von dreistelligen Betroffenenzahlen | |
aus. | |
Die Glasscheibe in meinem Kopf war durchbrochen. Ich begann meine Biografie | |
neu zu lesen und zu verstehen. Wir wollten eine Aufarbeitung in Gang | |
setzen, allerdings ohne zu wissen, wo uns dies hinführen würde. Wir | |
verabredeten ein Gespräch mit Pater Mertes. Das Gespräch mit ihm fand am | |
14. Januar statt. Zum ersten Mal nach 1981 betrat ich den Altbau der Schule | |
wieder. Mit mir waren zwei Kameraden, die anonym bleiben wollten und | |
wollen. | |
Überraschenderweise wusste Pater Mertes bereits von den Vorwürfen gegen | |
Pater S. Über das Ausmaß der Taten von Pater R. erschien er erstaunt, | |
obwohl er schon in den neunziger Jahren davon gehört hatte. Später erfuhren | |
wir aus den Akten, dass die Ordensleitungen über Jahrzehnte vom Treiben der | |
Mitbrüder Bescheid wussten. | |
Mertes sagte zu unserem Wunsch, auf die betroffenen Jahrgänge zuzugehen: | |
„Wenn, dann schreibe ich den Brief.“ Er bat sich Bedenkzeit aus. Danach | |
handelte er wie aus dem Handbuch der Krisenkommunikation: Fünf Tage später | |
schickte er seinen Brief an die potenziell betroffenen Jahrgänge. | |
## Eine Lawine ausgelöst | |
Am 28. Januar 2010 berichtete die erste Zeitung über die Missbrauchsfälle | |
am Canisius-Kolleg. Das löste eine Lawine aus. Auch wenn die Berichte | |
teilweise reißerisch waren, sie erfüllten mich dennoch mit Genugtuung. | |
Die böse Tat war ans Licht gekommen. Manipulation und Machtmissbrauch | |
hatten nicht den Sieg davongetragen. | |
In den Tagen danach stockte vielen Schulkameraden der Atem, als sie die | |
Zeitung aufschlugen. Die Vergangenheit holte sie ein. Viele mussten | |
zunächst einmal ihre PartnerInnen aufklären: Sie hatten nie zuvor mit ihnen | |
darüber gesprochen, was ihnen als Kind am Canisius-Kolleg widerfahren war. | |
In diesen ersten Tagen sagte Pater Mertes: „Wir glauben euch!“ Es war ein | |
wichtiges Wort. Denn damit war von den Betroffenen der Druck genommen, | |
beweisen zu müssen, was sie in den Medien berichteten. Zum ersten Mal hatte | |
ein Vertreter einer Institution Missbrauch öffentlich eingestanden und | |
dafür Verantwortung übernommen. Dafür sind wir ihm dankbar. Zugleich ist | |
klar: Ohne unser Sprechen wäre auch er stumm geblieben. | |
## „Kammer des Schreckens“ | |
So haben wir am Ende die „Kammer des Schreckens“ selbst geöffnet. Je mehr | |
Betroffene auch aus anderen Bereichen der katholischen Kirche sich in der | |
Folge zu Wort meldeten, desto klarer wurde das zweite Verbrechen. Das | |
Verbrechen der Institution Kirche: verdecken und verschweigen der Taten, | |
das „Täterschutzprogramm“ und die Opfervergessenheit. | |
Wir hatten unsere Geschichte über Jahrzehnte hinweg zusammenstückeln | |
müssen. Isoliert voneinander, wie bei einem großen Puzzlespiel. Die andere | |
Seite aber hatte längst gewusst, was geschehen war. | |
Dafür fordern wir eine angemessene Entschädigung. Bis heute vergeblich. | |
25 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Matthias Katsch | |
## TAGS | |
Entschädigung | |
Kirche | |
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