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# taz.de -- Buch über Kloster Ettal: Immer wieder wegschauen
> Bastian Obermayer und Rainer Stadler haben ein Buch über den
> Kindesmissbrauch im Kloster Ettal geschrieben. Über 100 Schüler sollen
> dort misshandelt worden sein.
Bild: Pädagogische Vorzeigeinstitution? Das bayerische Benedektinerinternat Kl…
Im Mai 2010 betritt Rainer Stadler zum ersten Mal das Kloster Ettal. Die
Benediktinerabtei im oberbayerischen Landkreis Garmisch-Partenkirchen ist
eine vielbesuchte Sehenswürdigkeit und Stolz der Gemeinde. Doch Stadler
kommt nicht, um die barocke Kuppelkirche zu bestaunen oder das Hausbier zu
probieren.
Stadler ist Journalist beim SZ-Magazin. Zusammen mit seinem Kollegen
Bastian Obermayer besucht er das Klosterinternat, um mit den Mönchen über
Ungeheuerliches zu sprechen: Mehr als 100 Schüler sollen dort zwischen 1950
und 1990 von Erziehern körperlich und sexuell misshandelt worden sein. Die
Fälle waren ans Licht gekommen, weil sich Betroffene an die Öffentlichkeit
gewandt hatten.
Obermayer und Stadler wollten vor Ort recherchieren - und stießen auf eine
Mauer des Schweigens. "Es war eine Blockadeatmosphäre", erinnert sich
Stadler an das erste Treffen mit den Mönchen. "Die hatten sich mit
Pressesprecher und Anwalt vor uns verschanzt und stritten alles ab."
Inzwischen waren Stadler und Obermayer über ein Dutzend Mal in Ettal. Sie
haben viele Gespräche geführt, eine Titelgeschichte für das SZ-Magazin und
ein Buch geschrieben, das bundesweit für Debatten gesorgt hat. Nur unter
den Mönchen nicht - sie schweigen zu dem, was die Autoren auf 276 Seiten
zusammengetragen haben. "Ich würde mich ja gerne beschimpfen lassen", sagt
Stadler. "Aber die kommen nicht aus ihrer Deckung." Ettal mauert sich ein -
wie man es schon immer gehalten hat, wenn dem im Jahr 1337 gegründeten
Kloster Angriffe von außen drohten.
Die Vorkommnisse, die Stadler und Obermayer mit Erfahrungsberichten von
rund 70 ehemaligen Schülern nachzeichnen, sind bedrückend: Mönche, die mit
Fäusten, Stöcken, Peitschen auf Schüler einprügeln, bis Trommelfelle reißen
und Knochen brechen. Sexuelle Übergriffe, auch brutale Vergewaltigungen
durch Erzieher. Immer wieder - vierzig Jahre lang. Die Fälle weisen
Parallelen auf zu dem, was im Berliner Canisius-Kolleg oder an der
hessischen Odenwaldschule passiert ist.
Exemplarisch erschien Ettal den Autoren deshalb, "weil die Kluft zwischen
Anspruch und Erscheinungsbild des Klosters so groß erscheint wie an keinem
anderen Tatort", wie es im Vorwort heißt. Die Schule genießt seit ihrer
Etablierung Anfang des 20. Jahrhunderts einen exzellenten Ruf. Adel,
Industrie und aufstiegsorientiertes Bürgertum schicken ihre Söhne dorthin.
Einzigartig ist Ettal aber auch durch die hohe Anzahl der Opfer, die alle
Einzelfalltheorien Lügen straft. Zudem haben sich die Opfer in einem
Betroffenenverein organisiert, der ungewöhnliche Schlagkraft entfaltet hat.
## Wut und Hartnäckigkeit
Dem im Jahr 2010 gegründeten Verein Ettaler Misshandlungs- und
Missbrauchsopfer e. V. ist es zu verdanken, dass das Kloster die Fakten
anerkennt und einer Untersuchung durch den ehemaligen Verfassungsrichter
Hans-Joachim Jentsch zustimmte. Auf Grundlage seines Berichts wurde ein
Entschädigungskonzept ausgearbeitet und ein Fonds von 700.000 Euro für
Missbrauchsopfer eingerichtet, im Bundesvergleich eine hohe Summe. Derzeit
erarbeitet ein Münchner Institut zusammen mit dem Opferverein eine
wissenschaftliche Untersuchung, die Teil eines Präventionskonzepts für das
Kloster werden soll.
Dass es zu diesen Schritten kam, liegt an der Wut und der Hartnäckigkeit
von Männern wie Robert Köhler. Köhler, der 1983 sein Abitur in Ettal
ablegte, hat selbst unter den Mönchen gelitten. Heute ist er Sprecher des
Vereins. Ausdrücklich lobt er die "positive Zusammenarbeit" mit dem Orden,
der dazugelernt habe. Die vergleichsweise hohen Entschädigungszahlungen
sind für Köhler "ein wichtiges, weil handfestes Schuldeingeständnis". Von
Einsicht oder gar Reue unter den Mönchen spürt er aber wenig: "Für die war
das, was passierte, zu lange normal."
Für viele Ehemalige anscheinend auch. Köhler berichtet, dass der Verein
massiv von überzeugten Alt-Ettalern angegriffen wurde. Der Vorwurf:
Nestbeschmutzung. "Unsere größten Gegner waren Eltern, die sich am Mythos
Ettal festklammern - auf Kosten der eigenen Kinder", resümiert auch Stadler
seine Recherchen. Das im Juli erschienene Buch bildet nun zumindest eine
Gesprächsgrundlage für die tief gespaltene ehemalige Schülerschaft.
Köhler lobt die Autoren dafür, sich nicht auf die krassen Fälle
konzentriert zu haben, sondern "ein lesbares Angebot für alle" zu machen,
die sich damit beschäftigen wollen. Sehr viele sind es offenbar nicht.
Köhler berichtet, dass in den Buchläden in Klosterumgebung das Buch gar
nicht ausliege. Auch der Verlag sagt, dass es schwierig sei, im Landkreis
Oberammergau Lesungen zu organisieren.
Die Autoren erklären sich das durch die jahrhundertelange wirtschaftliche
Abhängigkeit des Tals vom Kloster, das Arbeitsplätze und Touristen bringt.
Diese Abhängigkeit, so wird es im Buch dargelegt, führte zu einer Kultur
des Wegschauens bei den Dorfbewohnern. Unter Lehrern und externen Schülern
der Klosterschule gab es offenbar schon lang Gerüchte über prügelnde und
fummelnde Patres und traumatisierte Kinder - doch ihnen wurde nie
nachgegangen.
In der Kreisklinik wurden regelmäßig Internatsschüler mit
Misshandlungsspuren eingeliefert. Und immer wieder nahmen Eltern ihre
Kinder von der Schule, einige versuchen, polizeilich oder gerichtlich gegen
den Orden vorzugehen. Doch der bleibt, der Tradition gemäß, immun gegen
irdische Gerechtigkeit. Obermayer und Stadler zeigen auf, dass es nur in
einem einzigen Fall, in den fünfziger Jahren, zur Verurteilung eines
pädophilen Paters kam. Sonst löst der Orden die Probleme auf seine Weise:
Schüler und Eltern, die sich beschweren, werden eingeschüchtert oder
beschwichtigt. Damit nichts nach außen dringt.
## Kinder in Isolation
Wie sich das Gewaltregime der Mönche in Kloster Ettal etablieren und halten
konnte, erklären die Buchautoren mithilfe der Theorie der "totalen
Institution" des amerikanischen Soziologen Erving Goffmann. Danach erfüllen
psychiatrische Anstalten, Gefängnisse, Klöster, Kasernen und Internate
gleichermaßen die Kriterien der Abgeschlossenheit nach außen, der klaren
Trennung zwischen dem Überwachungspersonal und den bis ins Letzte
kontrollierten Insassen.
Auch auf Ettal treffen die Merkmale zu: "Man musste seinen Privatbesitz
abgeben, durfte nur vier Mal im Jahr nach Hause. Der Telefonat- und
Briefkontakt mit den Eltern wurde überwacht", erinnert sich der ehemalige
Schüler Köhler an seine Internatszeit. Systematisch werden die Kinder von
ihren Familien isoliert, ihre einzigen Bezugspersonen sind die Patres, die
so nach Gutdünken herrschen können.
Missbrauch und Gewalt seien kein kirchliches Problem, so die These der
Autoren. Doch die auf Gehorsam und Treue basierende Ordenshierarchie
begünstige den Regelverlust, der zu humanitärer Verrohung geführt habe.
Obermayer und Stadler gehen so weit, die Zustände in Ettal mit denen im
irakischen US-Foltergefängnis Abu Ghraib zu vergleichen. Als Außenstehender
mag man das zu drastisch finden. Doch der ehemalige Ettaler Köhler findet
den Vergleich "nicht verkehrt". In beiden Institutionen habe es "ein System
ohne Kontrollinstanzen" gegeben.
Köhler führt die Entgleisungen in Ettal auch darauf zurück, dass die
Ordensbrüder mit ihren erzieherischen Aufgaben überfordert seien. Die
Einrichtung der Schule war eine Auflage des bayerischen Staates - "es gibt
bei den Benediktinern keine Tradition der pädagogischen Hinwendung", so
Köhler.
Als der Skandal 2010 ans Licht der Öffentlichkeit kommt, setzt die
Erzdiözese München-Freising einen Sonderermittler ein. Doch für die
Benediktiner ist der Strafverteidiger keine Autorität, sie rufen nach dem
Vatikan. Der setzt zwei päpstliche Visitatoren ein, die selbst Benediktiner
sind und sich mit Ordinariat und Bistum unterhalten, aber nicht mit den
Opfern. Der Vatikan kommt zu dem Schluss, dass einer Wiedereinsetzung der
suspendierten Patres Barnabas und Maurus nichts entgegenstehe. Der Abt und
der Schulleiter hatten von gravierenden Verfehlungen mehrerer Ordensbrüder
gewusst und sie gedeckt.
Mit dem obersten Segen der Kirche kommen die beiden wieder ins Amt. Auch
zwei wegen sexueller Übergriffe suspendierte Patres dürfen wieder als
Seelsorger arbeiten. Mit ihrer Verweigerung, Verantwortung für das
Geschehene zu tragen, ähnelt das Vorgehen der Benediktiner dem der
reformpädagogischen Odenwaldschule, die das jahrzehntelang gewachsene
Missbrauchsnetz hinter ihren Mauern zu Einzelfällen kleinredet.
Doch auch das Jahrhunderte alte Repressionssystem der Benediktiner kommt
nicht an gegen die Zeitläufte. Seitdem die Bundesregierung eine
"Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs"
einsetzte und ein runder Tisch an Entschädigungen und Gesetzen arbeitet,
kann sich auch die Trutzburg in den bayerischen Alpen nicht mehr gegen die
Wahrheit sperren.
Was nach den Ermittlungen und dem Buch übrig bleiben wird vom Ruf Ettals
als pädagogische Vorzeigeinstitution, wird sich zeigen. Der Opferverband
rät den Kirchenbrüdern dringend zu Reformen. "Andernfalls", so die
unmissverständliche Mahnung auf der Website, "droht die
gesellschaftspolitische Bedeutungslosigkeit oder die Zukunft als radikale
Kleingruppe."
3 Nov 2011
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Kirche
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