# taz.de -- Berliner Projekt gegen sexuellen Missbrauch: "Irgendwann gab's imme… | |
> Eis, Zigaretten und Videos: In Bezirken, in denen der Berliner Hip noch | |
> nicht angekommen ist, nutzen Männer das Modell der offenen Wohnungen, um | |
> Jungs zu missbrauchen. | |
Bild: Mit Verlockungen versuchen die Täter die Jungen von Freunden und Familie… | |
BERLIN taz | Im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick, dort, wo einst die | |
Berliner Großindustrie entlang der Spree residierte, ist die | |
Gentrifizierung, der Berliner Hip, noch lange nicht angekommen. Bröckelnde | |
Fassaden, Billigläden, graue Kneipen, die "Henker" oder sonst wie | |
merkwürdige Namen tragen. Noch ein paar NPD-Wahlplakate kleben ganz oben an | |
den Straßenlaternen. | |
Die NPD zog in dieser heruntergekommenen Gegend nach der Berlin-Wahl wieder | |
in das Bezirksparlament ein. Johann Oltmanns, Sozialarbeiter und | |
Streetworker bei "Berliner Jungs", ist hier mit dem Wohnmobil unterwegs. | |
Mit dem geräumigen Wagen hält er an Spielplätzen, Einkaufszentren und | |
anderen Jungstreffs. Er baut seinen Informationsstand, einen Campingtisch, | |
auf. | |
"Wenn hier was los ist, kommen die Jungs aus Neugierde vorbei", sagt | |
Oltmanns. "Viele kennen uns schon von der Schule." Denn die Initiative | |
gestaltet auch Projekttage an Schulen in der vierten bis sechsten Klasse. | |
"Unsere Zielgruppe ist 9 bis 12 Jahre alt. Das ist die Zielgruppe, die für | |
Pädosexuelle besonders interessant ist." | |
## Offene Wohnungen in Randbezirken | |
Daniel René, der schon mit sieben Jahren Opfer sexueller Gewalt wurde, | |
bestätigt die Täterstrategie. Er erzählt: | |
Ab 1990 sind auf den Spielplätzen in Marzahn Männer aufgetaucht, die uns | |
angesprochen haben. Ich war damals 10 Jahre alt. Die wollten uns auf ein | |
Eis einladen, gaben uns Zigaretten, man ging einen Cocktail trinken. Das | |
waren viele aus dem Westen. Wenn ich mit den Männern mitgefahren bin, dann | |
waren wir immer in Teilen von Berlin, die ich nicht kannte. | |
Das Projekt Berliner Jungs will über Taktik und Strategie von Pädosexuellen | |
aufklären, die hier in den ärmeren Randbezirken sogenannte offene Wohnungen | |
haben. Das Projekt will helfen, aus dem verhängnisvollen Kreislauf von | |
Anmache und Verstrickung herauszukommen. Es zeigt Strategien auf, um Nein | |
zu sagen. | |
"Wenn wir von den offenen Wohnungen reden, dann ist es schon so, dass die | |
Jungen aus sozialen Brennpunkten abgegriffen werden", weiß Oltmanns. | |
Grundsätzlich seien die Risiken für sexuelle Gewalt im öffentlichen Raum da | |
besonders groß, wo es in den Familien nicht genügend Wohnraum gibt, das | |
soziale Umfeld nicht stabil ist. | |
Ich bin mit dem Mann mitgefahren und mit in die Wohnung gegangen. Da gab es | |
Videorekorder und Videokamera. Das war spektakulär für uns. Es ging nicht | |
immer nur um Sex. Es ging um rumsitzen, rauchen, trinken, alles, was man zu | |
Hause nicht durfte. Stück für Stück wurde das Vertrauen geweckt. Stück für | |
Stück ging es ins Sexuelle. Sogar so weit, dass einige dafür Geld gegeben | |
haben. | |
## "Nichts zum angeben" | |
## | |
In den Wohnungen können die Jungs spielen, abhängen, rauchen. Sie dürfen | |
Alkohol trinken, Pornos sehen und es kommt zu sexuellen Übergriffen. | |
Voraussetzung dafür, dass die Täter so eine Wohnung erfolgreich betreiben | |
können, ist: Sie müssen immer da sein. Und deshalb lebt der größte Teil | |
dieser pädosexuellen Männer von Kleinstrente oder Sozialleistungen. | |
Über Sex haben wir Jungs untereinander nicht gesprochen. Als ob es das | |
nicht gegeben hätte. Dass man einem erwachsenen Mann einen bläst, das war | |
ja wieder nichts zum Angeben. | |
Das Projekt Berliner Jungs ist in den Berliner Bezirken Lichtenberg, | |
Treptow-Köpenick und Neukölln aktiv. Der Einsatz wird von den Jugendämtern | |
dieser drei Bezirke gefördert. "In Neukölln, Köpenick und Lichtenberg sind | |
vermehrt Meldungen von Eltern oder von Kinder aufgetaucht, die | |
Auffälligkeiten bemerkt haben. Prävention ist daher nötig", sagt Oltmanns. | |
"In Treptow-Köpenick sind es vor allem deutsche Jungs, in Neukölln viele | |
arabischer und türkischer Herkunft, in Lichtenberg sind es Jungs aus | |
Serbien und Kroatien. Sie sind sind alle ganz unterschiedlich." | |
Irgendwann ging es los, dass man immer mehr Geld gekriegt hat für sexuelle | |
Dinge. Und das fand man cool. Mit 13 und 14 Jahren in Marzahn | |
Markenklamotten tragen, das war schon toll. Und das Sexuelle war für mich | |
mit 14 sowieso total normal. | |
## Traditionsprojekt aus der Schwulencommunity | |
"Wir gehen gezielt in pädosexuelle Aktivfelder, das heißt in Stadtteile, wo | |
besonders viel passiert und wo es das Modell der offenen Wohnungen gibt. | |
Die Täter ziehen gezielt in diese Bezirke, um an die Jungs ranzukommen", | |
sagt Ralf Rötten, Geschäftsführer und Sozialarbeiter bei Subway, der | |
Organisation, der auch das Projekt Berliner Jungs angeschlossen ist. Seit | |
1993 bietet Subway Hilfe für Jungen, die anschaffen gehen. | |
"Es ist etwas Besonderes, dass es in Berlin ein explizit | |
Jungen-orientiertes Projekt gibt", weiß Rötten. Aber vor allem in Berlin | |
nutzten Männer, die Jungs sexuell missbrauchen, das Modell der offenen | |
Wohnungen. "Das ist schon leider Gottes der europäische Schwerpunkt hier", | |
sagt er. | |
Röttens Büro liegt im Nollendorfkiez, der seit über mehr als 100 Jahren | |
eine schwule Tradition hat. "In unserem Projekt arbeiten schwule Männer. | |
Unsere Initiative kommt aus der schwulen Community. Und das ist gut so. | |
Schwul gleich Kinderficker - das ist doch fast schon Klischee", sagt er. | |
Von daher sei es umso wichtiger, dass auch Homosexuelle sich daran | |
beteiligen, gegen sexuelle Gewalt an Jungs etwas zu unternehmen. | |
Mit 15 oder 16 ist dann Gott sei Dank nicht mehr so viel Sex mit denen | |
gelaufen. Es war dann so, dass ich für die anschaffen gegangen bin. Wenn | |
ich am Bahnhof Zoo einen Freier kennengelernt habe und mit dem in die | |
Wohnung mitgefahren bin, dann ist irgendeiner von dieser pädosexuellen | |
Gruppe mit dem Auto hinterhergefahren. Und wenn ich aus der Wohnung | |
rausgekommen bin, dann haben die mir sofort 70 Prozent abgenommen. | |
## Vertrieben bei der Geschlechtsreife | |
"Meine Kollegen und Vorgänger haben schon sehr frühzeitig festgestellt, | |
dass die Jungen, die mit 15 oder 16 Jahren am Bahnhof Zoo anschaffen | |
gingen, häufig schon sieben oder acht Jahre lang in pädosexuellen Kreisen | |
herumgereicht wurden", sagt Rötten. | |
Diese Jungen waren schon viele Jahre dem sexuellen Missbrauch, der sexuelle | |
Gewalt ausgesetzt. "Und weil sie mit 15 und der Geschlechtsreife für die | |
Pädosexuellen uninteressant werden, wurden sie geradezu vertrieben. Man | |
hatte kein Interesse mehr an ihnen." | |
Und mit dem 18. Lebensjahr, das war dann total krass, haben sie mich fallen | |
lassen. Ich sollte allein anschaffen gehn. Da ist für mich eine Welt | |
zusammengebrochen. Die waren trotzdem meine Freunde, Bezugspersonen. Die | |
hatten ja auch zwei Seiten. Die haben einen dann nicht mehr mit dem Arsch | |
angeschaut. Ich habe mich total ausgesetzt gefühlt. | |
## Das Mekka der Pädosexuellen | |
Ist Berlin das Mekka der Pädosexuellen? "Das ist es eigentlich schon sehr, | |
sehr lange. Das ist auch nicht mehr geworden heute. Da muss man medial sehr | |
aufpassen. Die alltägliche sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat | |
es immer gegeben", sagt Rötten. | |
Berlin spiele eine besondere Rolle, weil es einerseits eine sehr tolerante | |
Großstadt sei, aber auch eine ignorante Stadt. "Jeder darf machen, was er | |
will, so lange es den Nachbarn nicht tangiert. Und er darf auch das Kind | |
vergewaltigen, so lange das Kind dabei nicht schreit und beim Fernsehen | |
stört", sagt Rötten | |
Hinzu kommt: Berlin ist preiswert, Berlin ist die Brücke zum Osten, die | |
erste Stadt für Osteuropäer im Westen. In den 80er Jahren kamen Jungen, die | |
irgendwo aus Westdeutschland abgehauen waren. Nach 1989 kamen die | |
polnischen, tschechischen, ungarischen Jungen. Dann kam die große Welle von | |
Flüchtlingen aus Jugoslawien und Roma. | |
Heute hat der allergrößte Teil von Jungen, die anschaffen gehen, | |
bulgarischen oder rumänischen Hintergrund. "Armut und Not - das | |
Strickmuster ist immer das gleiche. Prostitution im außerhäusigen Bereich | |
hat immer etwas mit Bedürftigkeit zu tun", sagt Rötten. "Ich warte auf die | |
nächste Welle: Moldawier und Weißrussen." | |
17 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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