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# taz.de -- Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder: "Lebenslänglich" trotz…
> Der Beauftragte gegen Kindesmissbrauch lud Opfergruppen - und traf auf
> verletzte, wütende Menschen. Sie fühlen sich von den Täterorganisationen
> betrogen.
Bild: Blick in den Innenhof des Canisisus-Kollegs, wo jahrelang Kinder missbrau…
Als die 20 Journalisten den Raum betreten, sehen sie die Betroffenen an der
Wand sitzen. Es ist ein großer Raum, bestimmt zehn Meter tief. An der
hinteren Begrenzung haben jene Menschen Platz genommen, denen vor 15 bis
über 30 Jahren sexuelle Gewalt widerfuhr. Sie haben sich, so scheint es,
hinter den Tischen verschanzt. Die Journalisten wagen sich nicht, die
Distanz zu überwinden. Sie nehmen Platz - an der anderen Seite des Raumes.
Wenn es ein Symbol gibt für die Fremdheit und die Beklommenheit zwischen
den Opfern und der Gesellschaft, dann dieses: In einem Zimmer sitzen sich
Betroffene und Berichterstatter gegenüber - mit Sicherheitsabstand. Obwohl
die Journalisten seit zwei Jahren berichten - manche von ihnen haben
Bekannte, ja Freunde unter den Gewaltopfern, mit denen sie oft tagelange
Gespräche führten -, halten sie Distanz. Erst als die Sprecherin des
Missbrauchsbeauftragten die Kollegen nach vorn bittet, bricht das Eis.
Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte zur Aufklärung
sexuellen Kindesmissbrauchs, hat die Betroffenen zu einem jener Treffen
geladen, mit denen er steten Kontakt halten will. Aber wer glaubt, dass auf
den Tag genau zwei Jahre nach dem Beginn der Aufdeckung am Berliner
Jesuitengymnasium Canisius-Kolleg alles okay ist, der wird schnell eines
Schlechteren belehrt.
Hinter den Tischen sitzen Menschen, die immer noch voller Wut und
Enttäuschung sind, die zwar den Beginn des Aufklärens begrüßen, die aber
weiterhin tief verletzt und beschämt sind. "Sie machen das ein paar
Monate", sagt Anselm Kohn vom Verein Missbrauch in Ahrensburg, "aber wir
haben alle ,lebenslänglich'."
## Täterorganisationen bestimmen die Debatte
Dass der Mann mit dieser Haltung nicht allein steht, kann man an den
wütenden und atemlosen Bemerkungen des Dutzends Betroffener ablesen, die
danach kommen. "Niemand hätte sich vorstellen können", sagt Mathias Bubel
vom Eckigen Tisch, "dass die Täterorganisationen die öffentliche Debatte an
sich reißen werden." Christian Bahls von Mogis befürchtet, dass sich die
Situation der Betroffenen "bei der Finanzierung von Psychotherapien sogar
noch verschlechtern" könnte.
"Nur wenn Institutionen lernen und nicht verschleiern", sagt Ingo Fock von
gegen-missbrauch e. V., "haben wir nachhaltigen Schutz von Kindern und
Jugendlichen." Und so geht es weiter, von Glasbrechen bis Initiative
Ehemaliger Johanneum, von Mutmachen bis Bringt Licht ins Dunkel.
Matthias Katsch, ebenfalls Opfer des Canisius-Kollegs, hat in einem
beeindruckenden Text beschrieben, wie seelisch belastend das "Sprechen über
die sexuelle Gewalt als Erinnerungsarbeit an das Tatgeschehen" ist. "Es
zerreißt einen von innen", schreibt er in der Süddeutschen Zeitung. Und man
lässt es nicht hinter sich: "Es hört nicht auf. Es wird nur anders."
## Fehlendes Verantwortungsbewußtsein
Was an den Berichten der Betroffenen auffällt, ist, dass sich die einzelnen
Institutionen, an denen die sexuelle Gewalt stattfand, wieder einigeln -
trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Ahrensburger Kohn berichtet,
dass die Betroffenen der schleswig-holsteinischen Stadt von der
evangelischen Kirche nur als Zeugen in Disziplinarverfahren benutzt werden
- "und dann dürfen wir wieder gehen. Mir fehlt das
Verantwortungsbewusstsein der Kirche für die Seelen vor Ort." Bubel, der
gequälte Schüler aus dem Canisius-Kolleg, fordert eine unabhängige
Untersuchungskommission für die katholische Kirche.
Und Ingo Fock nimmt die Opferstiftung namens Brücken bauen der
Odenwaldschule aufs Korn: Sie habe eine pauschale Entschädigung von 1.000
Euro festgelegt, heißt es in einem Papier. Die Betroffenen haben noch fünf
Monate Zeit, dafür Anträge zu stellen - eine Frist so kurz, schreibt Fock,
"dass höchstwahrscheinlich der Großteil der Betroffenen es nicht
realisieren können wird, Gelder für sich zu beantragen".
## Den schönen Schein wahren
Warum es Brücken bauen gibt, versteht man besser, wenn man sieht, wie
großzügig und opfergeneigt der unabhängige Odenwälder Verein Glasbrechen
arbeitet. Dessen Vorsitzender Adrian Koerfer ist daher auch enttäuscht:
"Das Ziel der Stiftung Brücken bauen ist es nicht, zu helfen. Das Ziel ist
PR, der Name Propaganda. Hier werden Brücken nicht gebaut, sondern
verstellt - indem beleidigend gering entschädigt werden soll."
So verhalten sich Täterorganisationen: Sie wahren nach außen den Schein -
und sind nach innen knallhart. Darum ist es gut, dass sich der
Missbrauchsbeauftragte Rörig vom Bundeskabinett ein erweitertes Mandat hat
geben lassen: Er will selbst eingreifen. "Wenn ich den Eindruck habe", sagt
Rörig, "dass die Kritik der Betroffenen nicht ernst genommen wird, dann
werde ich mich an die Institutionen vor Ort wenden."
1 Feb 2012
## AUTOREN
Christian Füller
## TAGS
Kirche
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