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# taz.de -- Ehrung für Canisius-Pater: Das zweite Verbrechen
> SPD-Chef Sigmar Gabriel ehrt am Donnerstag Pater Klaus Mertes für sein
> Handeln im Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg Berlin. Er ignoriert den
> Mut der Betroffenen.
Bild: Pater Klaus Mertes gewinnt den Heinemann-Preis.
Fragte man heute SPD-Chef Sigmar Gabriel, dann würde er sexuelle Gewalt an
Kindern und Jugendlichen gewiss scharf verurteilen. Er würde sagen, dieses
Verbrechen sei abscheulich und zu ächten. Solche Sätze sind richtig,
selbstverständlich – und inzwischen billig zu haben. Auch Kirchenväter,
Grüne und Reformpädagogen salbadern diese Formel gerne: Und verweigern dann
jenen Aufmerksamkeit und echte Hilfe, die sie dringend brauchen: den
Betroffenen von sexueller Gewalt.
Dass Gabriel, die SPD und vor allem die Jury des Gustav-Heinemann-Preises
die letzten beiden Jahre offenbar mit Scheuklappen verbracht haben, wird
man heute im Willy-Brandt-Haus sehen. Die SPD zelebriert Zivilcourage und
Bürgermut, sie hat sich das richtige Thema dafür ausgesucht – aber sie
vergibt ihren Preis an den Falschen, an Pater Klaus Mertes, den Ex-Leiter
des Berliner Canisius-Kollegs. Mertes war, ohne Frage, mitentscheidend für
die Veröffentlichung der sexuellen Gewalt an seiner Schule Anfang 2010, er
ist auch ein toller Mensch. Aber, so viel Wahrheit muss sein: Mertes zeigte
keine Zivilcourage und keinen Bürgermut von außen, er tat einfach seinen
Dienst.
Wirklich mutig bis an die Grenze des Aushaltbaren, couragiert, zäh und
intelligent waren die Betroffenen der sexuellen Gewalt. Jene Männer, denen
diese Schule das halbe Leben gestohlen hat, genauer gesagt: fast das ganze
Leben, denn viele konnten erst mit Mitte 40 ihr Leben richtig beginnen.
Diese Männer haben jahrzehntelang ratlos in ihrer Biografie
herumgestochert, um herauszufinden, was sie blockiert, dissoziiert,
unsicher macht. Und als sie es begriffen, dass es zwei Pater waren, die sie
mit Schlägen, sexueller Überwältigung und perfidem Vertrauensbruch aus dem
Gleichgewicht geschubst hatten, da waren sie sehr, sehr mutig. Denn sie
sagten: Wir wollen Anerkennung, Gerechtigkeit, Ausgleich – und die
Wahrheit.
## Tätergesellschaft schüchtert Opfer ein
Eine Wahrheit, die Pater Mertes längst kannte, als viele der Opfer noch mit
Selbstzweifeln, Alkohol, Drogen und Verfemung rangen. Als man ihnen sagte:
„Ihr seid doch nicht ganz richtig im Kopf!“ Als man ihnen riet: „Schweigt
lieber, es ist den Kampf nicht wert.“ Es sind die Worte, mit denen eine
Tätergesellschaft Opfer einschüchtert und betäubt. Es ist das zweite
Verbrechen. Die im Odenwald von reformpädagogischen Päderasten
Missbrauchten kennen es. Die im Bistum Regensburg zweimal entehrten Männer
haben es erfahren. Und die Ahrensburger Opfer der evangelischen Kirche.
Und, und, und.
Strenggenommen beteiligt sich die SPD an diesem zweiten Verbrechen. Weil
sie kaltschnäuzig über die mutigen Betroffenen hinweggeht. Der Vorsitzende
der Preisjury, Jürgen Schmude, verkörpert die ignorante Verachtung. Er, der
Mertes auf die Nominierungsliste setzte, sagte jetzt: Er habe zu spät von
den Betroffenen erfahren, was Sache ist. Vielleicht hätte Schmude seine
Parteifreundin Christine Bergmann fragen sollen. „Man muss zuhören, den
Betroffenen zuhören und ihnen glauben. Das ist das Wichtigste“, sagte die
ehemalige Unabhängige Beauftragte gegen sexuelle Gewalt.
Die Preis-Bilanz der beiden Missbrauchsjahre seit der Aufdeckung ist keine
schlechte. Die beiden Filmemacherinnen Regina Schilling und Luzia Schmidt
haben den Grimme-Preis bekommen („Geschlossene Gesellschaft“). Klaus Mertes
gewinnt den Heinemann-Preis. Sie alle haben diese Preise verdient – aber wo
sind die Ehrungen für echte Helden wie Matthias Katsch, Jürgen Dehmers,
Adrian Koerfer, Gerhard Roese und all die anonymen Betroffenen, die
jahrelang im Hintergrund gedemütigt wurden, ehe man ihnen glaubte?
Sollen sie Beifall klatschen, wenn Sigmar Gabriel heute sagt, wie
abscheulich sexuelle Gewalt gegen Kinder ist?
25 Apr 2012
## AUTOREN
Christian Füller
## TAGS
Kirche
Odenwaldschule
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