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# taz.de -- Debatte Griechenland: Unterschätzt die Dörfer nicht
> Griechenlands Dorfbewohner sind faul und wissen nicht, wie man wählt: Das
> denken viele Deutsche. So einfach ist es aber nicht. Auch sie haben
> politische Schlagkraft.
Bild: Auch Griechenlands Dörfer haben eine Stimme: Region Messinia.
Am Wahlsonntag ist es still in Strefi gewesen. Das ist nichts Besonderes:
In Strefi ist es immer relativ still. Das kleine Dorf mit knapp 500
Einwohnern liegt umgeben von Olivenplantagen oberhalb des Messenischen
Golfs, eine halbe Autostunde von Kalamata entfernt. Viele der alten Häuser
stehen leer.
Meistens sind es ältere Frauen, die hier etwas verloren durch ihre Gärten
streifen und mit gelassener Miene darüber Auskunft geben, dass sie relativ
erwartungslos sind. Die junge Generation, sagen sie, geht ins Ausland oder
hinunter nach Kalamata. Nachts würden die Albaner hier einbrechen und die
letzten wertvollen Gegenstände aus den Wohnungen stehlen.
Den Ausländern die Schuld zu geben, hat in der Region Tradition, daher
verwundert es, dass gerade in diesem kleinen Dorf die kommunistische Partei
mehr Stimmen erhalten hat als die rechtsradikale Partei Chrysi Avgi
(wörtlich: Goldener Sonnenaufgang). Chrysi Avgi steht hier an sechster
Stelle in der Wählergunst der Dorfbewohner. Nur 26 Stimmen von 423
abgegebenen Stimmen entfielen auf die ausländerfeindliche Partei.
## Strefi ist eine Ausnahme
Schaut man auf die Wahlergebnisse der gesamten Region Messinia, wird
deutlich, dass Strefi in der Tat eine Ausnahme ist. Die Rechtsradikalen
sind in Messinia die viertstärkste Partei (8,33 Prozent) geworden nach den
Linken Syriza (13,18), der Pasok (13,63) und Nea Dimokratia (33,51). Fast
die Hälfte der Wahlberechtigten in Messinia (44,88 Prozent) sind gleich gar
nicht zur Wahl gegangen. Die Leute in Strefi berührt das wenig.
In den zwei Kafenia im Ort sind die Fernsehapparate prominent in die Mitte
gerückt worden. Seit dem „Wahlthriller“, wie der Staatliche Fernsehkanal
NET die Wahlen bezeichnet, wird unablässig diskutiert und debattiert, wie
es nun weitergehen soll. Kommt man als Deutscher in den Ort, ist die erste
Frage, in welchem Verhältnis man zu Angela Merkel steht. „Sie ist eine
schwierige Frau“, sagt die siebzigjährige Eleni, die hier noch immer
täglich auf ihrem Hof arbeitet.
Sie gehört zu den Dorfbewohnern, die nicht besonders glücklich über den
Erfolg der Kommunisten im Ort ist. „Frau Merkel ist ja nichts im Vergleich
zu Madame Aleka Papariga von der Kommunistischen Partei Griechenlands. Um
Gottes Willen, was wird aus dem Land, wenn uns die Kommunisten regieren.
Dann lieber Samaras, obwohl der natürlich auch lügt.“ Was spricht dann für
ihn? „Er kommt aus der Nähe von Pylos, da leben gute Leute. Den kann man
schon regieren lassen.“
## Die Wahl aus Dorfperspektive
Das Wahllokal wurde in der alten Schule eingerichtet, gleich neben der
örtlichen Olivenpresse. Am Montag nach der Wahl herrschte hier wie eh und
je gähnende Leere. Die Männer gehen seitdem wieder am späten Nachmittag ins
Kafenion und diskutieren die Bilder, die sie im Fernsehen sehen.
Und doch hat sich etwas verändert, schleichen sich Momente des Staunens vor
den Fernsehern ein, die den Leuten im Dorf unheimlich sind. Etwa als bei
der ersten Pressekonferenz der rechtsradikalen Chrysi Avgi einer der
Mitarbeiter die anwesenden Reporter dazu auffordert, aufzustehen. „Erheben
Sie sich, wenn unser Vorsitzender Michaloliakos den Saal betritt.“ Als sich
vor laufenden Kameras einige Journalisten weigern, dieser Bitte
nachzukommen, werden sie aus dem Saal der Pressekonferenz verwiesen. Die
Begründung: fehlender Respekt.
„Es erschreckt mich, wenn ich das sehe. Ist das die Zukunft in
Griechenland?“, sagt Toula Barnasas, eine Englischlehrerin aus Kalamata.
Ihre ganze Familie kommt aus Strefi; ihr Mann und sie haben hier ihre
Kindheit und Schulzeit verbracht. Obwohl sie seit über dreißig Jahren in
Kalamata wohnen, fahren sie immer noch jedes Mal zu den Wahlen in ihr altes
Dorf, in das Wahllokal in der alten Schule.
Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise hat auch Toula Barnasas ein Viertel
ihres Gehalts eingebüßt. Die Radikalen würde sie trotzdem niemals wählen,
sagt sie. „Das erinnert mich alles an die Zeiten der Militärdiktatur. Ich
dachte, diese Art von Politik hätten wir längst hinter uns gelassen.“
## Merkel ist eine schwierige Frau
Der Peloponnes, besonders die südlichen Regionen, sind seit jeher
traditionell eingestellt. Der klassische Entwicklungsbruch zwischen der
Bevölkerung in den großen Städten wie Athen oder Thessaloniki, die diesmal
überwiegend links gewählt haben, und den Bewohnern auf dem Lande ist hier
noch unmittelbar greifbar. Dennoch werden die Dorfbewohner, auch innerhalb
Griechenlands, notorisch unterschätzt.
Gerade weil so viele Menschen aus der jungen Generation aus den Dörfern
abwandern, herrscht hier ein reger Austausch und Wissenstransfer zwischen
den Exilierten und den Daheimgebliebenen. Fast jede Familie in Strefi hat
beispielsweise Verwandte im Ausland, besonders viele auch in Deutschland.
Das Bild vom unaufgeklärten, archaisch denkenden Peloponnes-Griechen stimmt
daher schon längst nicht mehr.
Der Sohn der ehemaligen Beamtin Voula, die nun wieder im Dorf wohnt, lebt
als Arzt in Stuttgart. Die Tochter und der Schwiegersohn von Toula Barnasas
leben seit Jahren als Publizisten in Berlin. Wöchentlich wird telefoniert,
es werden Briefe geschrieben, Nachrichten und Meinungen ausgetauscht. „Wir
wissen, was die Deutschen über uns denken. Aber wir sind weder faul noch
unaufgeklärt, unser politisches System ist lediglich von ganz anderen
Traditionen bestimmt. Wir sind es zum Beispiel nicht gewohnt, über
Koalitionen zwischen Parteien so nachzudenken wie die Menschen in
Deutschland. Das heißt aber nicht, dass wir chaotisch sind“, sagt Toula
Barnasas.
Vielleicht ist dies das denkwürdigste Ergebnis der griechischen Wahlen in
Strefi: Die kleine Dorfgemeinschaft ist ein Beispiel für politische
Komplexität, die sich nicht auf ein paar Schlagworte reduzieren lässt. Die
Menschen in Dörfern wie Strefi haben in der Krise zudem eine neue Bedeutung
erhalten, da sie inmitten der allgegenwärtig diskutierten Notszenarien
selbstbewusst ihre Überlebensfähigkeit als Selbstversorger proklamieren.
Zugleich sind sie neugierig auf Teilhabe, auf Mitsprache und zuweilen fast
amüsiert, dass man sie dauernd unterschätzt. „Wir verkaufen nicht nur
Hühner und Eier, wir wissen auch was in Athen und Berlin los ist, lauter
schwierige Leute“, sagt Eleni und lacht lauter als die Stimmen, die aus dem
NET-Kanal dröhnen.
10 May 2012
## AUTOREN
Gernot Wolfram
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