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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Griechische Stimmen
> „Man sollte sie alle aufknüpfen und in der Sonne verdorren lassen“, sagt
> der griechischer Tavernenwirt Stelios. Er meint die Politiker. Bericht
> aus den Ruinen des Klientelstaats.
Bild: Die radikal gekürzten Sozialleistungen treffen die Ärmsten noch härter…
Plakate waren Mangelware, die Wahlbroschüren dünner, die Plastikfähnchen
lascher, und bei den wenigen Kundgebungen klangen die Lautsprecher weniger
laut als früher. Die Krise hat auch die Kriegskassen der Parteien
angefressen. Doch das Auffälligste an diesem Wahlkampf war etwas anderes:
Es fehlten die lokalen Büros der Parteikandidaten.
Früher hat jeder aussichtsreiche Bewerber für das griechische Parlament
(Vouli genannt) auf Wochen hinaus einen Laden gemietet, beflaggt mit
Parteifahnen, voll mit Stapeln von Wahlbroschüren. Diesmal sparten sich die
Kandidaten die Miete, die sie vom Privatkonto finanzieren mussten. Zum
einen aus Angst vor den Glaserrechnungen, denn die Büros hätten die
Wutbürger angezogen wie der Honigtopf die Bienen. Zum anderen weil so ein
Ort nutzlos geworden ist.
Früher konnte der Wähler seinen künftigen Abgeordneten im Kandidatenladen
aufsuchen und die Gegenleistung für seine Stimme aushandeln: einen Auftrag
für seinen Kleinbetrieb, eine Stelle für den Sohn beim staatlichen
Stromversorger, eine Empfehlung für die Tochter an den parteinahen
Universitätsprofessor. Das spielte sich keineswegs im Geheimen ab. Jeder
konnte sehen, wer mit wem ins Geschäft kam oder kommen wollte.
## Die alten Klientelparteien prügeln sich um die Siegerpalme
Die öffentliche Kontaktzone zwischen Volk und Volksvertreter war die
Kernzelle des Klientelsystems - solange es Aufträge und Posten zu verteilen
gab. Seit Stellen im öffentlichen Sektor nicht mehr besetzt, sondern
gestrichen werden, ist der Klientelismus tot oder doch auf dem Weg ins
verdiente Grab. Im Gegensatz zu seinen politischen Trägern: Die beiden
Systemparteien Pasok und Nea Dimokratia (ND), die in den letzten dreißig
Jahren abwechselnd regiert und den Klientelstaat zu voller Blüte gebracht
haben, wurden bei den Wahlen vom 6. Mai drakonisch abgestraft.
Vergebens verdammten sie im Wahlkampf das alte System, als wäre es nicht
der Speck gewesen, in dem sie wie die Maden gediehen waren. Im Ton höchster
Empörung rechneten Pasok und ND einander die Anzahl der Staatsbediensteten
vor, die sie als Regierungspartei eingestellt haben. Die Wähler rieben sich
die Augen: Die alten Klientelparteien prügeln sich um die Siegerpalme im
Kampf gegen den Klientelismus.
## Alles auf Pump
„Man sollte sie alle aufknüpfen und in der Sonne verdorren lassen, bis die
Knochen klappern“, sagt der Tavernenwirt Stelios und meint damit die
Politiker, die den Griechen seit dreißig Monaten ein Sparprogramm nach dem
anderen zumuten. Die meisten Kritiker der Systemparteien äußern sich
dezenter, aber nicht weniger eindeutig. Ihr Zorn richtet sich gegen eine
Politik, die immer tiefer in die Krise führt, vor allem aber gegen die
ungerechte Verteilung der Lasten. Deshalb haben sie gegen die
„Memorandum“-Parteien gestimmt – also gegen die, die im Parlament für die
Sparprogramme auf der Grundlage der „Memoranden“ von EU, EZB und IWF
votierten.
Auf die früheren Fehler der Regierung, die ihr Land in den Ruin geführt
haben – etwa die Toleranz gegenüber Steuerbetrügern oder das Versickern
öffentlicher Gelder –, kommen sie nicht so gern zu sprechen. Oder nur wenn
man sie fragt. Dann aber geben die meisten Griechen zu, dass Korruption,
Nepotismus und notorische Steuerhinterziehung die Hauptgründe für den Ruin
der öffentlichen Finanzen waren. Und dass sie, die Bürger, das viel zu
lange hingenommen haben. Aber jetzt, sagen sie, geht die Rechnung für die
auf Pump finanzierte Party an diejenigen, die gar nicht eingeladen waren.
Die Sparprogramme mit ihren linearen Gehalts- und Rentenkürzungen,
pauschalen Steuererhöhungen, radikal gekürzten Sozialleistungen treffen die
Ärmsten noch härter als den Mittelstand. Der Verdruss der griechischen
Wähler ist längst in Verachtung umgeschlagen. Die Gesellschaft hat sich von
einem politischen System gelöst, das keine – vermittelnde oder radikale –
Lösung ihrer Probleme bietet und das sie als Vehikel und Beute der Parteien
erlebt hat.
## Kein Wort der Selbstkritik
Kein Wunder, dass Politiker keine Politiker sein wollen. Im Wahlbezirk
Kykladeninseln empfahl sich der ND-Kandidat Georgios Vakóndhios mit der
Aussage: „Bewährt im Leben, nicht in der Politik“. In seinem Wahlprospekt
versicherte er: „Nie zuvor hatte ich irgendwelche politischen Ambitionen,
nie habe ich einer Partei angehört. Bislang habe ich mich ausschließlich um
meine Familie und meine berufliche Karriere gekümmert.“ Zudem beteuert der
erfolgreiche Businessman („Werbung und Marketing“), ein gewissenhafter
Steuerzahler zu sein: „Niemals bin ich dem Staat auch nur eine Drachme oder
einen Cent schuldig geblieben“.
Dieser Idealbürger trat für eine Partei an, die das jährliche Staatsdefizit
von 2004 bis 2009 von 3,5 auf 15,4 Prozent(gemessen am BIP) in die Höhe
getrieben hat und allein im Wahljahr 2009 das Haushaltsloch um weitere 10
Milliarden Euro vergrößert hat. Zum Beispiel durch Ausgaben für 40.000 neue
Stellen für die eigene Klientel und durch Anweisung an die Finanzämter, die
betuchten Steuerpflichtigen unbehelligt zu lassen. Über diesen Skandal im
Skandal hörte man von der konservativ-patriotischen ND im Wahlkampf 2012
kein Wort der Selbstkritik. Dafür versprach ihr Vorsitzender Samaras,
ehemals Minister in ebendieser Schuldenregierung, eine künftige
ND-Regierung werde die Steuern für Reiche und Unternehmen drastisch senken,
sprich: auf dringend nötige staatliche Einnahmen verzichten.
## Die Werft zahlt seit Monaten keinen Lohn
Dass die Hauptleidtragenden der griechischen Krise angesichts solcher
Impertinenz nicht Amok laufen, ist fast ein Wunder. Am Hafen treffe ich
Nikos und seine Frau. Sie machen eine Abschiedsrunde auf ihrer Heimatinsel.
Sie siedeln nach Santorini um, zumindest für diesen Sommer. „Ich werde
Binnenemigrant“, erklärt Nikos nüchtern, da er keine Fremdsprache
beherrscht, komme das Ausland für ihn nicht infrage. Der Schiffshandwerker
ist zwar nicht arbeitslos, aber praktisch ohne Einkommen. Die
Reparaturwerft, bei der er angestellt ist, der größte Arbeitgeber der
Insel, zahlt seit Monaten keinen Lohn mehr aus. Nikos erhält eine
monatliche Abschlagszahlung von 300 Euro. Wie die meisten Kollegen hat er
das bislang hingenommen, weil die Werft ums Überleben kämpft. Die ganze
Insel weiß, dass das Unternehmen dem Stromversorger DEI mehrere Millionen
Euro schuldet, was wiederum das Defizit des staatlichen Unternehmens
erhöht.
Auch Nikos' Frau haben sie den Lohn gekürzt. Das Ehepaar mit zwei
schulpflichtigen Kindern kommt im Monat auf 800 Euro. Jetzt sind die
Ersparnisse aufgezehrt. Deshalb steigt Nikos im Handwerksbetrieb seines
Schwiegervaters auf Santorini ein, wo es dank des Inseltourismus noch
Aufträge gibt. Leute wie er tauchen in der Statistik der Arbeitslosen nicht
auf, zählen nicht zu den 1,1 Millionen, die im Februar registriert wurden.
Damit ist die Arbeitslosenrate auf 22,4 Prozent gestiegen, vier Jahre zuvor
lag sie bei 7,5 Prozent.
Die Volksweisheit, dass Statistiken lügen, ist in diesem Fall krass
untertrieben. Griechenland war bislang ein Land der Ladenbesitzer,
Freiberufler und Kleinunternehmer. Von denen haben Hunderttausende mit der
Krise ihre Existenzgrundlage verloren. In diesem Jahr rechnet man mit
weiteren 60.000 Geschäftsaufgaben. Auch diese Fälle tauchen in der
Arbeitslosenstatistik nicht auf, weil Selbstständige keine Ansprüche auf
Arbeitslosengeld haben. Dasselbe gilt für Jugendliche, die erst gar keinen
Job finden. Und die werden immer mehr, da bereits 51,5 Prozent der jungen
Leute unter 25 Jahren arbeitslos sind.
## Familie oder Suppenküche
Aber selbst für die „Anspruchsberechtigen“ ist der Abstieg ins nackte Elend
vorgezeichnet. Mit der Kürzung des Mindestlohns um 22 Prozent sanken auch
die Arbeitslosenbezüge, die auf Basis des Mindestlohns berechnet werden.
Sie liegen seit März zwischen monatlich 270 und 360 Euro, für jedes zu
unterhaltende Familienmitglied gibt es einen Zuschlag von 10 Prozent. Damit
liegen die Bezüge um ein Drittel unter der Armutsgrenze. Und mit dieser
Hungerhilfe ist nach einem Jahr Schluss. Sozialhilfe wie in Deutschland?
Fehlanzeige. Griechenland hat - trotz oder eher wegen der üppigen Ausgaben
für den Klientelstaat - nie einen richtigen Sozialstaat entwickelt. Für
Arbeitslose ist nach einem Jahr die Familie zuständig; wenn die nicht mehr
zahlen will oder kann, bleibt nur die karitative Suppenküche.
Welche Partei kann jemand wählen, der nicht in der Suppenküche landen will?
Um die Stimmen der Verzweiflung haben sich viele Parteien beworben. Fünf
von ihnen haben es in die Vouli geschafft, drei auf der Linken, zwei auf
der Rechten. Aber eine Koalitionsregierung scheint ausgeschlossen, die
Medien warnen vor einem "babylonischen Parlament". Dass in der Krise linke
Parteien Aufwind bekommen, gilt auch für Griechenland. Die Aussicht auf
eine linke Mehrheit hat manche Politiker in Brüssel und Berlin beunruhigt.
Die Sorge hätten sie sich sparen können. Das griechische Wahlrecht belohnt
die stärkste Partei mit 50 Extramandaten in der Vouli, die 300 Sitze hat,
in diesem Fall also die rechte ND. Der eigentliche Wahlsieger, die linke
Syriza, hat zwar nur 2 Prozentpunkte weniger Stimmen als die ND, aber nicht
mal halb so viele Sitze in der Vouli. Doch selbst bei einem faireren
Wahlrecht wäre eine Koalition der griechischen Linksparteien
ausgeschlossen.
## Der kürzeste politische Witz
Warum, war fast täglich im Fernsehen zu besichtigen, etwa bei einer
"Wahldebatte" im staatlichen Kanal NET. An diesem Abend kamen zehn
Kandidaten zu Wort, nein, zum Schreien. Fast niemals sprach ein Befragter
allein, jeder fiel den anderen ins Wort und versuchte sie zu übertönen. Auf
dem Höhepunkt des Getöses brüllten die Vertreter der drei linken Parteien
eine Minute lang aufeinander ein. Die Moderatorin sah sich gezwungen, ihre
Drohung wahr zu machen und einen Werbespot einzuspielen. Der einzige Satz,
der vor der Werbepause noch durchdrang, war der fröhliche Einwurf des
ND-Kandidaten: "Und die wollen eine linke Regierung machen!"
Zwei Tage später kolportierte eine Athener Zeitung eine neue Version des
"kürzesten Witzes". Er lautet: "Vereinigte Linke". Warum sind die
kommunistische KKE, die linkssozialistische Syriza (Koalition radikaler
Sozialisten) und die linkssozialdemokratische Dimar (Demokratische Linke),
die übereinstimmend die "Memoranden" ablehnen und die Systemparteien
attackieren, zu einer Allianz weder bereit noch fähig? Das hat vor allem
zwei Gründe. Der erste heißt KKE. Die griechischen Kommunisten sind ein
Unikum in Europas Parteienlandschaft. Ein vergleichbares
marxistisch-leninistisches Fossil ist anderswo höchstens als Sekte
anzutreffen. Die KKE aber ist eine Kaderpartei mit Massenanhang,
schlagkräftigen eigenen Gewerkschaften und einer in Erz gegossener
Ideologie, deren Führungsanspruch jedes faire Bündnis mit anderen Parteien
ausschließt.
Der zweite Grund ist die Eurofrage. Die KKE sieht im Euro ein Instrument
der EU, die ohnehin nur die Interessen der Monopole repräsentiert. Sie
fordert deshalb den Austritt aus der Eurozone und der Union. Da es für den
Beitritt zur Sowjetunion zu spät ist, präsentiert sie als
"antimonopolistischen Ausweg" die Rückkehr zur Drachme. Für die beiden
anderen Linksparteien ist das ein Horrorszenario. Sie wollen, dass
Griechenland unbedingt in der EU und der Eurozone verbleibt, und versuchen
im Bündnis mit anderen linken europäischen Kräften ein alternatives, auf
Wachstum setzendes Programm zur Überwindung der Krise durchzusetzen.
## Die meisten wollen den Euro behalten
In der Währungsfrage sind sich die nichtkommunistischen Linksparteien mit
weiten Teilen der Bevölkerung einig. Laut Umfragen wollen 75 Prozent der
Befragten alles tun, um in der Eurozone zu bleiben. Sie verstehen genau,
dass die Rückkehr zu einer abgewerteten eigenen Währung (die Argentinien
angeblich gerettet und aus den Krakenarmen des IWF befreit hat) im Fall
Griechenland nicht funktionieren würde. Alle seriösen griechischen Ökonomen
sind sich darin einig, dass ihr Land mit einer billigen Drachme noch lange
kein Argentinien wäre, das sich nur – und mühsam genug – mit
Rohstoffexporten zu steigenden Weltmarktpreisen sanieren konnte.
Die Rückkehr zur Drachme würde vielmehr den Zusammenbruch der griechischen
Banken auslösen, während die inflationäre Währung die unentbehrlichen
Importe und damit auch das Leben extrem verteuern würde. Vor allem aber
würde der Abschied vom Euro den Ausverkauf des Landes zu Schleuderpreisen
einleiten. Die Profiteure wären unter anderem die Griechen, die ihre
Euro-Schätze im Ausland gebunkert haben. Und natürlich die internationalen
Hedgefonds und Tourismuskonzerne. Die Rückkehr zur Drachme wäre die
Einladung zur gewaltigsten Vermögensumverteilung der europäischen
Nachkriegsgeschichte.
Dass ausgerechnet die griechischen Kommunisten einen solchen Raubzug der
„Euro-Plutokraten“ ermöglichen wollen, war in diesem babylonischen
Wahlkampf die absurdeste Pointe. Da zeugt die Tatsache, dass die meisten
linken Memorandumgegner am Euro festhalten wollen, von einem Realismus, der
ihnen ansonsten oft abgesprochen wird. Aber hier zeigte sich zugleich das
Dilemma der Wähler, die am 6. Mai eine neue Regierung der
„Memorandum-Parteien“ verhindern wollten. Wie kann man die verordnete
Sparpolitik und den ökonomischen und sozialen Kahlschlag bekämpfen,
zugleich aber die Rückkehr zur Drachme verhindern, die Griechenland droht,
wenn die neue Regierung die Auflagen der "Troika" nicht erfüllt?
## Hoffnungsträger Hollande
Der einzige Ausweg wäre die „Solidarität der Europäer“ mit einem Land, d…
bei Fortschreibung des zerstörerischen Sparprogramms zum „gescheiterten
Staat“ verkommen würde. Die von der nichtkommunistischen Linken geforderte
„Neuverhandlung“ des Memorandums kann eine Perspektive für Griechenland nur
dann eröffnen, wenn sich in der EU und in Euroland das Verhältnis zum
„europäischen Süden“ von Grund verändert. Deshalb werden die Stimmen von
Politikern und Ökonomen, die einen „Marshallplan“ verlangen, möglichst
zielgenau finanziert durch „solidarische“ Eurobonds, in Griechenland genau
und dankbar registriert. Und deshalb wurde François Hollande mit seinem
Sieg im ersten Wahlgang über Nacht zum ungefragten Bundesgenossen der
Parteien, die das Memorandum bekämpfen und dennoch Euro-Europäer bleiben
wollen. Selbst die Pasok versuchte den französischen Genossen als
Wahlhelfer zu adoptieren. Denn ihr kühnes Versprechen, Griechenland bis
2015 aus der Umklammerung des Memorandums zu „befreien“, konnte sie nur mit
der Hoffnung auf Hollande und das Ende der Merkozy-Ära begründen.
Diese Hoffnung auf die Rettung von außen zeugt aber auch von der
Bereitschaft vieler Griechen, immer wieder auf „die anderen“ zu starren –
ob als Heils- oder Unheilbringer. Wenn die europäische Solidarität
ausbleibt, wird sich bald wieder eine Mehrheit finden, die das eigene
Unglück allein auf die Pläne und Machenschaften der alten bösen Feinde
zurückführt, die wieder mal stärker sind als das kleine Griechenland. Wenn
man gegen die anderen sowieso keine Chance hat, kann man selbst nichts
machen. Außer nach dem Feind im Innern zu suchen, der gemeinsame Sache mit
dem Ausland macht, der also ein Verräter ist.
## Vom Rentnerhobby zur grünen Versicherung
Aber es gibt auch viele Leute, die etwas machen; Leute, die notgedrungen,
aber zuversichtlich der Krise einen Nutzwert abtrotzen wollen. Und es
werden immer mehr. Alekos wurde die Rente gekürzt wie allen. Seine jüngere
Tochter geht noch zur Schule, die während des langen Inselwinters häufig
ungeheizt blieb. Seine ältere Tochter arbeitet in einer Athener
Buchhandlung für einen „Abschlagslohn“ von 300 Euro im Monat; deren Mann
verdient als Computerspezialist 800 Euro; von dem gemeinsamen Einkommen
gehen 500 Euro für die Miete drauf. Beide sind wenigstens nicht arbeitslos
wie viele erwachsene Kinder ihrer Altersgruppe, aber sie sind finanziell
auf ihre Eltern angewiesen.
Der ehemalige Bankangestellte ist ein typischer Wutbürger und auf die
griechischen Politiker ebenso schlecht zu sprechen wie auf Kyria Merkel und
Kyrios Chaible. Aber er arbeitet seine Wut in seinem Garten ab, von dem er
abends Auberginen oder Tomaten nach Hause bringt, dazu Eier von den
Hühnern. Das Grundstück hat er kurz vor der Krise gekauft. Es sollte sein
Rentnerhobby werden, aber jetzt sieht er es als grüne Versicherung für noch
schlechtere Zeiten. Und als überaus wirksames Beruhigungsmittel (die
Kommunisten von der KKE würden es antirevolutionäres Narkotikum nennen).
## Manche versuchten sogar Schnecken zu züchten
Zehntausende, vor allem junge Leute, die in den Ballungsräumen keine Arbeit
mehr finden, sind aufs Land geflüchtet. Umfragen zufolge will inzwischen
jeder zweite großstädtische Jugendliche nichts wie weg. Der Wunsch ist
verständlich, aber ist es eine realistische Perspektive für Millionen?
Gewiss, wer in Athen zur Miete wohnte, kann jetzt im Dorf bei der Oma
umsonst wohnen. Aber was tun? Über die Hälfte der Stadtflüchtigen wollen
Landwirtschaft betreiben, davon wiederum die Hälfte Olivenbäume anpflanzen.
Bis ein Baum die ersten Oliven trägt, vergehen zehn Jahre. Wovon bis dahin
leben?
Letztes Jahr gab es einen kurzlebigen Boom in Schneckenzucht, die Anleitung
dazu gab es im Internet. Die meisten Züchter haben aufgegeben. Die andere
Hälfte der Stadtflüchtigen will dem erlernten Beruf nachgehen. Fragt sich
nur, ob die Computerspezialisten, Bauingenieure und Rechtsanwälte in der
Provinz die Aufträge finden, die es in der Stadt nicht mehr gibt. Und wie
die einheimischen Handwerker und Freiberufler auf Konkurrenz reagieren.
Viele Umsteiger werden scheitern, aber andere werden es schaffen. Die
Binnenmigration in die Provinz ist in jedem Fall ein ermutigendes
Lebenszeichen der griechischen Gesellschaft. Vor zwei Jahrzehnten, sagen
aufgeklärte Ökonomen und Ökologen, hätte sie wirksame Krisenprävention
bedeutet. Die vielfältigen Projekte, die jetzt überall entstehen, werden
nicht nur das Lebensgefühl der Exstädter, sondern auch die Verhältnisse in
der Provinz verändern. Wenn „die Idiotie des Landlebens“ kein Hindernis
mehr darstellt, kann sogar - jenseits der Krisenpanik - eine dauerhafte
Dezentralisierung des Landes beginnen, und kleinere Städte können sich zu
Zentren eines erneuerten Provinzlebens entwickeln.
## In der Not raus aufs Land
Doch die jungen Leute, die sich auf das Landleben einlassen, sollten sich
keine Illusionen machen, warnt im Fernsehen der Bürgermeister eines Dorfs,
das in der gebirgigen Provinz Epiros, nahe der albanischen Grenze liegt.
Zum nächsten Gymnasium sind es vierzig Kilometer. Lokale Busse gibt es
nicht mehr. Eine funktionierende Krankenstation liegt zwei Dörfer weiter.
Schwierige Verhältnisse für Familien mit Kindern - aber das wird die jungen
Stadtflüchter kaum abschrecken. Eine Familie gründen wollen sie meist
sowieso nicht, und kinderfeindlicher als Athen kann ein epirotisches Dorf
auch nicht sein.
Die jungen Leute flüchten aus den Ballungszentren Athen und Thessaloniki
auch deshalb, weil viele Wohnbezirke – zumal die Stadtzentren – immer
unwirtlicher werden. Der kommerzielle Niedergang der alten Einkaufsviertel
in Athen, der sichtbare Verfall der Infrastrukturen und kommunalen Dienste,
dazu die Konzentration von illegalen Migranten haben einen Prozess der
Entgentrifizierung in Gang gesetzt, der fast unaufhaltsam erscheint.
Die Angst vor der realen Kleinkriminalität, vermischt mit latenter
Xenophobie, ergibt einen politischen Kompost, in dem rechtsradikalen Kräfte
wachsen - am stärksten die Neonazi-Partei Chrysi Avghi (Goldene
Morgendämmerung), die mit 7 Prozent Wählerstimmen 21 Neonazis ins Parlament
entsendet. Ihre Hochburgen liegen in den Stadtvierteln, wo griechische
Krisenarmut auf mafios durchsetztes Migrantenelend trifft. Hier bieten sich
Jungfaschisten verängstigten älteren Menschen als „Geleitschutz“ beim
Einkaufen an. Abends und nachts verprügeln sie nichtweiße Migranten.
## Wahlkampfthema Migration
Im Zentrum Athens ist eine „dritte Welt“ („tritos kosmos“) der Illegalen
aus Afrika und Westasien entstanden, die für jede europäische Großstadt ein
gewaltiges Problem darstellen würde. Von der Hauptstadt der griechischen
Krise ist sie nicht allein zu bewältigen. Das Thema hat die letzte Phase
des Wahlkampfs derart dominiert, dass keine Partei sich um das Thema
drücken konnte. Die linken Parteien forderten von den Europäern, die in
Griechenland gestrandeten Migranten auf alle EU-Länder zu verteilen. Die
rechten Parteien setzen auf xenophobe Parolen. Das gilt für die Laos
(Orthodoxe Volksallianz) des antisemitischen Rechtspopulisten Karatzaferis
und ebenso für die „Unabhängigen Hellenen“ eines neoliberalen und
nationalistischen Schreihalses namens Panos Kammenos. Am schlimmsten
trieben es die Neonazis mit ihrer Forderung, die griechische Landgrenze zur
Türkei wieder zu verminen. Nicht gegen türkische Panzer wie früher, sondern
gegen „fremdrassige Migranten“.
Die Neonazis und die populistische Rechtspartei der „Unabhängigen Hellenen“
konnten von einem Zustand profitieren, der in der Tat unhaltbar ist: Ein
Land von 10 Millionen Menschen, das sich seit fünf Jahren in der Rezession
befindet, ist mit dem Zustrom von einer Million Migranten schlicht
überfordert. Dabei sprechen wir von einer Gesellschaft, die in den letzten
zwanzig Jahren die Integration von rund einer halben Million Einwanderern
aus Nachbarländern (vor allem aus Albanien, aber auch aus Bulgarien und
Rumänen) erstaunlich problemlos bewältigt hat. Aber selbst dieser Erfolg
droht sich jetzt auf tragische Weise zu verkehren: Zu den Sturmtrupps der
Byzanto-Faschisten, die in Athen farbige Migranten jagen, gehören auch
Jugendliche aus albanischen oder polnischen Einwandererfamilien.
## Mühsamer Wandel
Für den Architekten Markos ist die Stärkung des rechtsradikalen Lagers die
schlimmste Begleiterscheinung der großen Krise. Größte Sorge macht ihm die
Entwicklung nach den Wahlen. Wird die Zerklüftung der Parteienlandschaft
das Land unregierbar machen? Und wenn es zu einer Koalition der
Systemparteien kommt, wie wird die gesellschaftliche Mehrheit auf noch mehr
soziale Härten reagieren? Und die wichtigste Frage: Wie kann sich die
Gesellschaft selbst erneuern und das fatale Klientelsystem überwinden, wenn
die alten Klientelparteien weiter die Macht ausüben?
Als Architekt weiß Markos, wie schwer dieses System von unten zu verändern
ist. Er kennt die Geschichte vom Leiter der Baubehörde, die für die
Kykladeninseln zuständig ist, also auch für Mykonos, die Insel der Reichen
und der Steuersünder. Der Mann wurde vor einem Jahr suspendiert und steht
jetzt wegen „illegaler Bereicherung im Amt“ vor Gericht. Auf seinen Konten
lagen hunderttausende Euro, die nicht durch sein Beamtengehalt erklärbar
sind. Markos hat geahnt, dass der Beamte für Gefälligkeiten abkassierte.
Alle auf der Insel haben gewusst, dass da etwas nicht stimmen konnte, es
gab jedoch keine Beweise. Dabei ist allgemein bekannt, dass in Mykonos
viele Ferienvillen genehmigt wurden, die gegen Bauvorschriften verstoßen.
Hätte Markos den bestechlichen Beamten angezeigt, wenn er Beweise gehabt
hätte? Na ja, sagt Markos, er hätte dann in Kauf nehmen müssen, dass die
Bauanträge für seine Projekte nicht gerade zügig genehmigt werden. Das
hätte sich rumgesprochen, und er hätte Kunden verloren. Und ob die Anzeige
auch zu einer Anklage führt, hätte sich erst nach Jahren herausgestellt.
Und dann meint er: Irgendwie hat jeder mal halb krumme Sachen gemacht, eine
kleine Sünde begangen. Da will man nicht auf größere Sünder zeigen.
Außerdem scheut jeder den Ruf des „Denunzianten“, das habe sich so gehalten
seit den Zeiten einer fremden Obrigkeit. Im Grunde sei seinen Landsleuten
jede Obrigkeit fremd geblieben. Das heißt für Markos: „Wir müssen uns
ändern, sonst ändert sich hier nichts.“
## Erste Erfolge
Die Krise hat, unabhängig von den Wahlen, schon einiges in Gang gebracht.
Bei der IKA, der griechischen AOK, ist im März ein großer Betrug
aufgeflogen. Die „IKA-Frauen von Kallithea“ machten tagelang Schlagzeilen.
Sie hatten sich über fiktive Leistungen an "Strohpatienten" 400.000 Euro
erschlichen: Krankengeld für Kerngesunde, die ihrer Arbeit nachgingen, oder
für Entbindungen, die nie stattgefunden haben. Aufgespürt wurde der Fall
freilich erst mit Methoden des Datenabgleichs, die der IKA von den viel
gescholtenen IWF-Experten beigebracht wurden. Dank ähnlicher
Computerprogramme hat die staatliche Rentenversicherung vor drei Wochen
200.000 falsche Rentner entdeckt, die pro Jahr rund 900 Millionen Euro
kassiert haben.
Immer mehr Korruptionsfälle werden aber auch von Leuten aufgedeckt, die das
Spiel früher selbst mitgemacht hätten. Wie der Kleinunternehmer in
Ostmazedonien: Er zeigte einen Finanzbeamten an, der ihn zum Steuerbetrug
aufgefordert hatte, um einen Teil der Summe für sich zu kassieren. Wie der
Patient, der den Chirurgen überführte, der vor einer Operation das
berüchtigte „Fakelaki“ von 1 500 Euro einstecken wollte.
## Und immer wieder Rückschläge
Der Kampf zwischen Alt und Neu ist jedoch – gerade nach diesen Wahlen –
noch lange nicht entschieden. Das alte System kann zwar mangels
finanzieller Schmiermasse nicht mehr gut funktionieren. Ein neues aber hat
sich noch nicht herausgebildet, weil auch die linken Parteien und ihr
Personal auf ihre Weise zur alten politischen Klasse gehören. Dass eine
klassische Klientelpartei wie die ND immer noch für die Bildung einer
Regierung unentbehrlich ist, verdankt sie nicht nur dem undemokratischen
Wahlrecht, sondern auch dem Mangel an realpolitischer Fantasie bei den
linken Parteien.
Die am 6. Mai „erfolgreichen“ Parteien haben zwar nicht mehr die
finanziellen Mittel, um eine breite Klientel zu bedienen. Aber die
Klientelpolitik geht auf anderer Ebene weiter. In den letzten Wochen der
Pasok-ND-Koalitionsregierung unter Lukas Papadimos haben Minister aus
beiden Parteien wichtige Reformen verschleppt, um ihren speziellen
Kundenkreis zu protegieren. So blockierten die Konservativen eine längst
versprochene Gesetzesänderung, die den Rechtsanwälten ein einmaliges
Privileg genommen hätte: In Griechenland müssen bei jeder Transaktion von
Immobilien neben dem vereidigten Notar zwei Rechtsanwälte anwesend sein,
die für ihre überflüssige Unterschrift satt honoriert werden. Das Geld
können sie auch weiterhin kassieren.
Die Blockade vernünftiger, ja selbstverständlicher Reformen lässt nicht nur
die aufgeklärten griechischen Bürger verzweifeln, sondern auch diejenigen
Europäer, die den Griechen wirkungsvoller und nachhaltiger helfen wollen
als die Troika und ihre schrecklichen Ökonomen. Zum Beispiel durch
langfristig kalkulierte, mit Eurobonds finanzierte Investitionen. Deshalb
ist die europäische Solidarität für die Griechen die einzig realistische
Hoffnung. Wenn sich die nicht erfüllt, werden die Griechen noch lange in
den Trümmern des alten Klientelsystems hausen. Und die übrigen Europäer
werden bald merken, dass der erste „gescheiterte“ EU-Staat auch ein
Scheitern Europas bedeutet.
© [1][Le Monde diplomatique], Berlin
13 May 2012
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
Niels Kadritzke
## TAGS
Griechenland
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