# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Griechische Stimmen | |
> „Man sollte sie alle aufknüpfen und in der Sonne verdorren lassen“, sagt | |
> der griechischer Tavernenwirt Stelios. Er meint die Politiker. Bericht | |
> aus den Ruinen des Klientelstaats. | |
Bild: Die radikal gekürzten Sozialleistungen treffen die Ärmsten noch härter… | |
Plakate waren Mangelware, die Wahlbroschüren dünner, die Plastikfähnchen | |
lascher, und bei den wenigen Kundgebungen klangen die Lautsprecher weniger | |
laut als früher. Die Krise hat auch die Kriegskassen der Parteien | |
angefressen. Doch das Auffälligste an diesem Wahlkampf war etwas anderes: | |
Es fehlten die lokalen Büros der Parteikandidaten. | |
Früher hat jeder aussichtsreiche Bewerber für das griechische Parlament | |
(Vouli genannt) auf Wochen hinaus einen Laden gemietet, beflaggt mit | |
Parteifahnen, voll mit Stapeln von Wahlbroschüren. Diesmal sparten sich die | |
Kandidaten die Miete, die sie vom Privatkonto finanzieren mussten. Zum | |
einen aus Angst vor den Glaserrechnungen, denn die Büros hätten die | |
Wutbürger angezogen wie der Honigtopf die Bienen. Zum anderen weil so ein | |
Ort nutzlos geworden ist. | |
Früher konnte der Wähler seinen künftigen Abgeordneten im Kandidatenladen | |
aufsuchen und die Gegenleistung für seine Stimme aushandeln: einen Auftrag | |
für seinen Kleinbetrieb, eine Stelle für den Sohn beim staatlichen | |
Stromversorger, eine Empfehlung für die Tochter an den parteinahen | |
Universitätsprofessor. Das spielte sich keineswegs im Geheimen ab. Jeder | |
konnte sehen, wer mit wem ins Geschäft kam oder kommen wollte. | |
## Die alten Klientelparteien prügeln sich um die Siegerpalme | |
Die öffentliche Kontaktzone zwischen Volk und Volksvertreter war die | |
Kernzelle des Klientelsystems - solange es Aufträge und Posten zu verteilen | |
gab. Seit Stellen im öffentlichen Sektor nicht mehr besetzt, sondern | |
gestrichen werden, ist der Klientelismus tot oder doch auf dem Weg ins | |
verdiente Grab. Im Gegensatz zu seinen politischen Trägern: Die beiden | |
Systemparteien Pasok und Nea Dimokratia (ND), die in den letzten dreißig | |
Jahren abwechselnd regiert und den Klientelstaat zu voller Blüte gebracht | |
haben, wurden bei den Wahlen vom 6. Mai drakonisch abgestraft. | |
Vergebens verdammten sie im Wahlkampf das alte System, als wäre es nicht | |
der Speck gewesen, in dem sie wie die Maden gediehen waren. Im Ton höchster | |
Empörung rechneten Pasok und ND einander die Anzahl der Staatsbediensteten | |
vor, die sie als Regierungspartei eingestellt haben. Die Wähler rieben sich | |
die Augen: Die alten Klientelparteien prügeln sich um die Siegerpalme im | |
Kampf gegen den Klientelismus. | |
## Alles auf Pump | |
„Man sollte sie alle aufknüpfen und in der Sonne verdorren lassen, bis die | |
Knochen klappern“, sagt der Tavernenwirt Stelios und meint damit die | |
Politiker, die den Griechen seit dreißig Monaten ein Sparprogramm nach dem | |
anderen zumuten. Die meisten Kritiker der Systemparteien äußern sich | |
dezenter, aber nicht weniger eindeutig. Ihr Zorn richtet sich gegen eine | |
Politik, die immer tiefer in die Krise führt, vor allem aber gegen die | |
ungerechte Verteilung der Lasten. Deshalb haben sie gegen die | |
„Memorandum“-Parteien gestimmt – also gegen die, die im Parlament für die | |
Sparprogramme auf der Grundlage der „Memoranden“ von EU, EZB und IWF | |
votierten. | |
Auf die früheren Fehler der Regierung, die ihr Land in den Ruin geführt | |
haben – etwa die Toleranz gegenüber Steuerbetrügern oder das Versickern | |
öffentlicher Gelder –, kommen sie nicht so gern zu sprechen. Oder nur wenn | |
man sie fragt. Dann aber geben die meisten Griechen zu, dass Korruption, | |
Nepotismus und notorische Steuerhinterziehung die Hauptgründe für den Ruin | |
der öffentlichen Finanzen waren. Und dass sie, die Bürger, das viel zu | |
lange hingenommen haben. Aber jetzt, sagen sie, geht die Rechnung für die | |
auf Pump finanzierte Party an diejenigen, die gar nicht eingeladen waren. | |
Die Sparprogramme mit ihren linearen Gehalts- und Rentenkürzungen, | |
pauschalen Steuererhöhungen, radikal gekürzten Sozialleistungen treffen die | |
Ärmsten noch härter als den Mittelstand. Der Verdruss der griechischen | |
Wähler ist längst in Verachtung umgeschlagen. Die Gesellschaft hat sich von | |
einem politischen System gelöst, das keine – vermittelnde oder radikale – | |
Lösung ihrer Probleme bietet und das sie als Vehikel und Beute der Parteien | |
erlebt hat. | |
## Kein Wort der Selbstkritik | |
Kein Wunder, dass Politiker keine Politiker sein wollen. Im Wahlbezirk | |
Kykladeninseln empfahl sich der ND-Kandidat Georgios Vakóndhios mit der | |
Aussage: „Bewährt im Leben, nicht in der Politik“. In seinem Wahlprospekt | |
versicherte er: „Nie zuvor hatte ich irgendwelche politischen Ambitionen, | |
nie habe ich einer Partei angehört. Bislang habe ich mich ausschließlich um | |
meine Familie und meine berufliche Karriere gekümmert.“ Zudem beteuert der | |
erfolgreiche Businessman („Werbung und Marketing“), ein gewissenhafter | |
Steuerzahler zu sein: „Niemals bin ich dem Staat auch nur eine Drachme oder | |
einen Cent schuldig geblieben“. | |
Dieser Idealbürger trat für eine Partei an, die das jährliche Staatsdefizit | |
von 2004 bis 2009 von 3,5 auf 15,4 Prozent(gemessen am BIP) in die Höhe | |
getrieben hat und allein im Wahljahr 2009 das Haushaltsloch um weitere 10 | |
Milliarden Euro vergrößert hat. Zum Beispiel durch Ausgaben für 40.000 neue | |
Stellen für die eigene Klientel und durch Anweisung an die Finanzämter, die | |
betuchten Steuerpflichtigen unbehelligt zu lassen. Über diesen Skandal im | |
Skandal hörte man von der konservativ-patriotischen ND im Wahlkampf 2012 | |
kein Wort der Selbstkritik. Dafür versprach ihr Vorsitzender Samaras, | |
ehemals Minister in ebendieser Schuldenregierung, eine künftige | |
ND-Regierung werde die Steuern für Reiche und Unternehmen drastisch senken, | |
sprich: auf dringend nötige staatliche Einnahmen verzichten. | |
## Die Werft zahlt seit Monaten keinen Lohn | |
Dass die Hauptleidtragenden der griechischen Krise angesichts solcher | |
Impertinenz nicht Amok laufen, ist fast ein Wunder. Am Hafen treffe ich | |
Nikos und seine Frau. Sie machen eine Abschiedsrunde auf ihrer Heimatinsel. | |
Sie siedeln nach Santorini um, zumindest für diesen Sommer. „Ich werde | |
Binnenemigrant“, erklärt Nikos nüchtern, da er keine Fremdsprache | |
beherrscht, komme das Ausland für ihn nicht infrage. Der Schiffshandwerker | |
ist zwar nicht arbeitslos, aber praktisch ohne Einkommen. Die | |
Reparaturwerft, bei der er angestellt ist, der größte Arbeitgeber der | |
Insel, zahlt seit Monaten keinen Lohn mehr aus. Nikos erhält eine | |
monatliche Abschlagszahlung von 300 Euro. Wie die meisten Kollegen hat er | |
das bislang hingenommen, weil die Werft ums Überleben kämpft. Die ganze | |
Insel weiß, dass das Unternehmen dem Stromversorger DEI mehrere Millionen | |
Euro schuldet, was wiederum das Defizit des staatlichen Unternehmens | |
erhöht. | |
Auch Nikos' Frau haben sie den Lohn gekürzt. Das Ehepaar mit zwei | |
schulpflichtigen Kindern kommt im Monat auf 800 Euro. Jetzt sind die | |
Ersparnisse aufgezehrt. Deshalb steigt Nikos im Handwerksbetrieb seines | |
Schwiegervaters auf Santorini ein, wo es dank des Inseltourismus noch | |
Aufträge gibt. Leute wie er tauchen in der Statistik der Arbeitslosen nicht | |
auf, zählen nicht zu den 1,1 Millionen, die im Februar registriert wurden. | |
Damit ist die Arbeitslosenrate auf 22,4 Prozent gestiegen, vier Jahre zuvor | |
lag sie bei 7,5 Prozent. | |
Die Volksweisheit, dass Statistiken lügen, ist in diesem Fall krass | |
untertrieben. Griechenland war bislang ein Land der Ladenbesitzer, | |
Freiberufler und Kleinunternehmer. Von denen haben Hunderttausende mit der | |
Krise ihre Existenzgrundlage verloren. In diesem Jahr rechnet man mit | |
weiteren 60.000 Geschäftsaufgaben. Auch diese Fälle tauchen in der | |
Arbeitslosenstatistik nicht auf, weil Selbstständige keine Ansprüche auf | |
Arbeitslosengeld haben. Dasselbe gilt für Jugendliche, die erst gar keinen | |
Job finden. Und die werden immer mehr, da bereits 51,5 Prozent der jungen | |
Leute unter 25 Jahren arbeitslos sind. | |
## Familie oder Suppenküche | |
Aber selbst für die „Anspruchsberechtigen“ ist der Abstieg ins nackte Elend | |
vorgezeichnet. Mit der Kürzung des Mindestlohns um 22 Prozent sanken auch | |
die Arbeitslosenbezüge, die auf Basis des Mindestlohns berechnet werden. | |
Sie liegen seit März zwischen monatlich 270 und 360 Euro, für jedes zu | |
unterhaltende Familienmitglied gibt es einen Zuschlag von 10 Prozent. Damit | |
liegen die Bezüge um ein Drittel unter der Armutsgrenze. Und mit dieser | |
Hungerhilfe ist nach einem Jahr Schluss. Sozialhilfe wie in Deutschland? | |
Fehlanzeige. Griechenland hat - trotz oder eher wegen der üppigen Ausgaben | |
für den Klientelstaat - nie einen richtigen Sozialstaat entwickelt. Für | |
Arbeitslose ist nach einem Jahr die Familie zuständig; wenn die nicht mehr | |
zahlen will oder kann, bleibt nur die karitative Suppenküche. | |
Welche Partei kann jemand wählen, der nicht in der Suppenküche landen will? | |
Um die Stimmen der Verzweiflung haben sich viele Parteien beworben. Fünf | |
von ihnen haben es in die Vouli geschafft, drei auf der Linken, zwei auf | |
der Rechten. Aber eine Koalitionsregierung scheint ausgeschlossen, die | |
Medien warnen vor einem "babylonischen Parlament". Dass in der Krise linke | |
Parteien Aufwind bekommen, gilt auch für Griechenland. Die Aussicht auf | |
eine linke Mehrheit hat manche Politiker in Brüssel und Berlin beunruhigt. | |
Die Sorge hätten sie sich sparen können. Das griechische Wahlrecht belohnt | |
die stärkste Partei mit 50 Extramandaten in der Vouli, die 300 Sitze hat, | |
in diesem Fall also die rechte ND. Der eigentliche Wahlsieger, die linke | |
Syriza, hat zwar nur 2 Prozentpunkte weniger Stimmen als die ND, aber nicht | |
mal halb so viele Sitze in der Vouli. Doch selbst bei einem faireren | |
Wahlrecht wäre eine Koalition der griechischen Linksparteien | |
ausgeschlossen. | |
## Der kürzeste politische Witz | |
Warum, war fast täglich im Fernsehen zu besichtigen, etwa bei einer | |
"Wahldebatte" im staatlichen Kanal NET. An diesem Abend kamen zehn | |
Kandidaten zu Wort, nein, zum Schreien. Fast niemals sprach ein Befragter | |
allein, jeder fiel den anderen ins Wort und versuchte sie zu übertönen. Auf | |
dem Höhepunkt des Getöses brüllten die Vertreter der drei linken Parteien | |
eine Minute lang aufeinander ein. Die Moderatorin sah sich gezwungen, ihre | |
Drohung wahr zu machen und einen Werbespot einzuspielen. Der einzige Satz, | |
der vor der Werbepause noch durchdrang, war der fröhliche Einwurf des | |
ND-Kandidaten: "Und die wollen eine linke Regierung machen!" | |
Zwei Tage später kolportierte eine Athener Zeitung eine neue Version des | |
"kürzesten Witzes". Er lautet: "Vereinigte Linke". Warum sind die | |
kommunistische KKE, die linkssozialistische Syriza (Koalition radikaler | |
Sozialisten) und die linkssozialdemokratische Dimar (Demokratische Linke), | |
die übereinstimmend die "Memoranden" ablehnen und die Systemparteien | |
attackieren, zu einer Allianz weder bereit noch fähig? Das hat vor allem | |
zwei Gründe. Der erste heißt KKE. Die griechischen Kommunisten sind ein | |
Unikum in Europas Parteienlandschaft. Ein vergleichbares | |
marxistisch-leninistisches Fossil ist anderswo höchstens als Sekte | |
anzutreffen. Die KKE aber ist eine Kaderpartei mit Massenanhang, | |
schlagkräftigen eigenen Gewerkschaften und einer in Erz gegossener | |
Ideologie, deren Führungsanspruch jedes faire Bündnis mit anderen Parteien | |
ausschließt. | |
Der zweite Grund ist die Eurofrage. Die KKE sieht im Euro ein Instrument | |
der EU, die ohnehin nur die Interessen der Monopole repräsentiert. Sie | |
fordert deshalb den Austritt aus der Eurozone und der Union. Da es für den | |
Beitritt zur Sowjetunion zu spät ist, präsentiert sie als | |
"antimonopolistischen Ausweg" die Rückkehr zur Drachme. Für die beiden | |
anderen Linksparteien ist das ein Horrorszenario. Sie wollen, dass | |
Griechenland unbedingt in der EU und der Eurozone verbleibt, und versuchen | |
im Bündnis mit anderen linken europäischen Kräften ein alternatives, auf | |
Wachstum setzendes Programm zur Überwindung der Krise durchzusetzen. | |
## Die meisten wollen den Euro behalten | |
In der Währungsfrage sind sich die nichtkommunistischen Linksparteien mit | |
weiten Teilen der Bevölkerung einig. Laut Umfragen wollen 75 Prozent der | |
Befragten alles tun, um in der Eurozone zu bleiben. Sie verstehen genau, | |
dass die Rückkehr zu einer abgewerteten eigenen Währung (die Argentinien | |
angeblich gerettet und aus den Krakenarmen des IWF befreit hat) im Fall | |
Griechenland nicht funktionieren würde. Alle seriösen griechischen Ökonomen | |
sind sich darin einig, dass ihr Land mit einer billigen Drachme noch lange | |
kein Argentinien wäre, das sich nur – und mühsam genug – mit | |
Rohstoffexporten zu steigenden Weltmarktpreisen sanieren konnte. | |
Die Rückkehr zur Drachme würde vielmehr den Zusammenbruch der griechischen | |
Banken auslösen, während die inflationäre Währung die unentbehrlichen | |
Importe und damit auch das Leben extrem verteuern würde. Vor allem aber | |
würde der Abschied vom Euro den Ausverkauf des Landes zu Schleuderpreisen | |
einleiten. Die Profiteure wären unter anderem die Griechen, die ihre | |
Euro-Schätze im Ausland gebunkert haben. Und natürlich die internationalen | |
Hedgefonds und Tourismuskonzerne. Die Rückkehr zur Drachme wäre die | |
Einladung zur gewaltigsten Vermögensumverteilung der europäischen | |
Nachkriegsgeschichte. | |
Dass ausgerechnet die griechischen Kommunisten einen solchen Raubzug der | |
„Euro-Plutokraten“ ermöglichen wollen, war in diesem babylonischen | |
Wahlkampf die absurdeste Pointe. Da zeugt die Tatsache, dass die meisten | |
linken Memorandumgegner am Euro festhalten wollen, von einem Realismus, der | |
ihnen ansonsten oft abgesprochen wird. Aber hier zeigte sich zugleich das | |
Dilemma der Wähler, die am 6. Mai eine neue Regierung der | |
„Memorandum-Parteien“ verhindern wollten. Wie kann man die verordnete | |
Sparpolitik und den ökonomischen und sozialen Kahlschlag bekämpfen, | |
zugleich aber die Rückkehr zur Drachme verhindern, die Griechenland droht, | |
wenn die neue Regierung die Auflagen der "Troika" nicht erfüllt? | |
## Hoffnungsträger Hollande | |
Der einzige Ausweg wäre die „Solidarität der Europäer“ mit einem Land, d… | |
bei Fortschreibung des zerstörerischen Sparprogramms zum „gescheiterten | |
Staat“ verkommen würde. Die von der nichtkommunistischen Linken geforderte | |
„Neuverhandlung“ des Memorandums kann eine Perspektive für Griechenland nur | |
dann eröffnen, wenn sich in der EU und in Euroland das Verhältnis zum | |
„europäischen Süden“ von Grund verändert. Deshalb werden die Stimmen von | |
Politikern und Ökonomen, die einen „Marshallplan“ verlangen, möglichst | |
zielgenau finanziert durch „solidarische“ Eurobonds, in Griechenland genau | |
und dankbar registriert. Und deshalb wurde François Hollande mit seinem | |
Sieg im ersten Wahlgang über Nacht zum ungefragten Bundesgenossen der | |
Parteien, die das Memorandum bekämpfen und dennoch Euro-Europäer bleiben | |
wollen. Selbst die Pasok versuchte den französischen Genossen als | |
Wahlhelfer zu adoptieren. Denn ihr kühnes Versprechen, Griechenland bis | |
2015 aus der Umklammerung des Memorandums zu „befreien“, konnte sie nur mit | |
der Hoffnung auf Hollande und das Ende der Merkozy-Ära begründen. | |
Diese Hoffnung auf die Rettung von außen zeugt aber auch von der | |
Bereitschaft vieler Griechen, immer wieder auf „die anderen“ zu starren – | |
ob als Heils- oder Unheilbringer. Wenn die europäische Solidarität | |
ausbleibt, wird sich bald wieder eine Mehrheit finden, die das eigene | |
Unglück allein auf die Pläne und Machenschaften der alten bösen Feinde | |
zurückführt, die wieder mal stärker sind als das kleine Griechenland. Wenn | |
man gegen die anderen sowieso keine Chance hat, kann man selbst nichts | |
machen. Außer nach dem Feind im Innern zu suchen, der gemeinsame Sache mit | |
dem Ausland macht, der also ein Verräter ist. | |
## Vom Rentnerhobby zur grünen Versicherung | |
Aber es gibt auch viele Leute, die etwas machen; Leute, die notgedrungen, | |
aber zuversichtlich der Krise einen Nutzwert abtrotzen wollen. Und es | |
werden immer mehr. Alekos wurde die Rente gekürzt wie allen. Seine jüngere | |
Tochter geht noch zur Schule, die während des langen Inselwinters häufig | |
ungeheizt blieb. Seine ältere Tochter arbeitet in einer Athener | |
Buchhandlung für einen „Abschlagslohn“ von 300 Euro im Monat; deren Mann | |
verdient als Computerspezialist 800 Euro; von dem gemeinsamen Einkommen | |
gehen 500 Euro für die Miete drauf. Beide sind wenigstens nicht arbeitslos | |
wie viele erwachsene Kinder ihrer Altersgruppe, aber sie sind finanziell | |
auf ihre Eltern angewiesen. | |
Der ehemalige Bankangestellte ist ein typischer Wutbürger und auf die | |
griechischen Politiker ebenso schlecht zu sprechen wie auf Kyria Merkel und | |
Kyrios Chaible. Aber er arbeitet seine Wut in seinem Garten ab, von dem er | |
abends Auberginen oder Tomaten nach Hause bringt, dazu Eier von den | |
Hühnern. Das Grundstück hat er kurz vor der Krise gekauft. Es sollte sein | |
Rentnerhobby werden, aber jetzt sieht er es als grüne Versicherung für noch | |
schlechtere Zeiten. Und als überaus wirksames Beruhigungsmittel (die | |
Kommunisten von der KKE würden es antirevolutionäres Narkotikum nennen). | |
## Manche versuchten sogar Schnecken zu züchten | |
Zehntausende, vor allem junge Leute, die in den Ballungsräumen keine Arbeit | |
mehr finden, sind aufs Land geflüchtet. Umfragen zufolge will inzwischen | |
jeder zweite großstädtische Jugendliche nichts wie weg. Der Wunsch ist | |
verständlich, aber ist es eine realistische Perspektive für Millionen? | |
Gewiss, wer in Athen zur Miete wohnte, kann jetzt im Dorf bei der Oma | |
umsonst wohnen. Aber was tun? Über die Hälfte der Stadtflüchtigen wollen | |
Landwirtschaft betreiben, davon wiederum die Hälfte Olivenbäume anpflanzen. | |
Bis ein Baum die ersten Oliven trägt, vergehen zehn Jahre. Wovon bis dahin | |
leben? | |
Letztes Jahr gab es einen kurzlebigen Boom in Schneckenzucht, die Anleitung | |
dazu gab es im Internet. Die meisten Züchter haben aufgegeben. Die andere | |
Hälfte der Stadtflüchtigen will dem erlernten Beruf nachgehen. Fragt sich | |
nur, ob die Computerspezialisten, Bauingenieure und Rechtsanwälte in der | |
Provinz die Aufträge finden, die es in der Stadt nicht mehr gibt. Und wie | |
die einheimischen Handwerker und Freiberufler auf Konkurrenz reagieren. | |
Viele Umsteiger werden scheitern, aber andere werden es schaffen. Die | |
Binnenmigration in die Provinz ist in jedem Fall ein ermutigendes | |
Lebenszeichen der griechischen Gesellschaft. Vor zwei Jahrzehnten, sagen | |
aufgeklärte Ökonomen und Ökologen, hätte sie wirksame Krisenprävention | |
bedeutet. Die vielfältigen Projekte, die jetzt überall entstehen, werden | |
nicht nur das Lebensgefühl der Exstädter, sondern auch die Verhältnisse in | |
der Provinz verändern. Wenn „die Idiotie des Landlebens“ kein Hindernis | |
mehr darstellt, kann sogar - jenseits der Krisenpanik - eine dauerhafte | |
Dezentralisierung des Landes beginnen, und kleinere Städte können sich zu | |
Zentren eines erneuerten Provinzlebens entwickeln. | |
## In der Not raus aufs Land | |
Doch die jungen Leute, die sich auf das Landleben einlassen, sollten sich | |
keine Illusionen machen, warnt im Fernsehen der Bürgermeister eines Dorfs, | |
das in der gebirgigen Provinz Epiros, nahe der albanischen Grenze liegt. | |
Zum nächsten Gymnasium sind es vierzig Kilometer. Lokale Busse gibt es | |
nicht mehr. Eine funktionierende Krankenstation liegt zwei Dörfer weiter. | |
Schwierige Verhältnisse für Familien mit Kindern - aber das wird die jungen | |
Stadtflüchter kaum abschrecken. Eine Familie gründen wollen sie meist | |
sowieso nicht, und kinderfeindlicher als Athen kann ein epirotisches Dorf | |
auch nicht sein. | |
Die jungen Leute flüchten aus den Ballungszentren Athen und Thessaloniki | |
auch deshalb, weil viele Wohnbezirke – zumal die Stadtzentren – immer | |
unwirtlicher werden. Der kommerzielle Niedergang der alten Einkaufsviertel | |
in Athen, der sichtbare Verfall der Infrastrukturen und kommunalen Dienste, | |
dazu die Konzentration von illegalen Migranten haben einen Prozess der | |
Entgentrifizierung in Gang gesetzt, der fast unaufhaltsam erscheint. | |
Die Angst vor der realen Kleinkriminalität, vermischt mit latenter | |
Xenophobie, ergibt einen politischen Kompost, in dem rechtsradikalen Kräfte | |
wachsen - am stärksten die Neonazi-Partei Chrysi Avghi (Goldene | |
Morgendämmerung), die mit 7 Prozent Wählerstimmen 21 Neonazis ins Parlament | |
entsendet. Ihre Hochburgen liegen in den Stadtvierteln, wo griechische | |
Krisenarmut auf mafios durchsetztes Migrantenelend trifft. Hier bieten sich | |
Jungfaschisten verängstigten älteren Menschen als „Geleitschutz“ beim | |
Einkaufen an. Abends und nachts verprügeln sie nichtweiße Migranten. | |
## Wahlkampfthema Migration | |
Im Zentrum Athens ist eine „dritte Welt“ („tritos kosmos“) der Illegalen | |
aus Afrika und Westasien entstanden, die für jede europäische Großstadt ein | |
gewaltiges Problem darstellen würde. Von der Hauptstadt der griechischen | |
Krise ist sie nicht allein zu bewältigen. Das Thema hat die letzte Phase | |
des Wahlkampfs derart dominiert, dass keine Partei sich um das Thema | |
drücken konnte. Die linken Parteien forderten von den Europäern, die in | |
Griechenland gestrandeten Migranten auf alle EU-Länder zu verteilen. Die | |
rechten Parteien setzen auf xenophobe Parolen. Das gilt für die Laos | |
(Orthodoxe Volksallianz) des antisemitischen Rechtspopulisten Karatzaferis | |
und ebenso für die „Unabhängigen Hellenen“ eines neoliberalen und | |
nationalistischen Schreihalses namens Panos Kammenos. Am schlimmsten | |
trieben es die Neonazis mit ihrer Forderung, die griechische Landgrenze zur | |
Türkei wieder zu verminen. Nicht gegen türkische Panzer wie früher, sondern | |
gegen „fremdrassige Migranten“. | |
Die Neonazis und die populistische Rechtspartei der „Unabhängigen Hellenen“ | |
konnten von einem Zustand profitieren, der in der Tat unhaltbar ist: Ein | |
Land von 10 Millionen Menschen, das sich seit fünf Jahren in der Rezession | |
befindet, ist mit dem Zustrom von einer Million Migranten schlicht | |
überfordert. Dabei sprechen wir von einer Gesellschaft, die in den letzten | |
zwanzig Jahren die Integration von rund einer halben Million Einwanderern | |
aus Nachbarländern (vor allem aus Albanien, aber auch aus Bulgarien und | |
Rumänen) erstaunlich problemlos bewältigt hat. Aber selbst dieser Erfolg | |
droht sich jetzt auf tragische Weise zu verkehren: Zu den Sturmtrupps der | |
Byzanto-Faschisten, die in Athen farbige Migranten jagen, gehören auch | |
Jugendliche aus albanischen oder polnischen Einwandererfamilien. | |
## Mühsamer Wandel | |
Für den Architekten Markos ist die Stärkung des rechtsradikalen Lagers die | |
schlimmste Begleiterscheinung der großen Krise. Größte Sorge macht ihm die | |
Entwicklung nach den Wahlen. Wird die Zerklüftung der Parteienlandschaft | |
das Land unregierbar machen? Und wenn es zu einer Koalition der | |
Systemparteien kommt, wie wird die gesellschaftliche Mehrheit auf noch mehr | |
soziale Härten reagieren? Und die wichtigste Frage: Wie kann sich die | |
Gesellschaft selbst erneuern und das fatale Klientelsystem überwinden, wenn | |
die alten Klientelparteien weiter die Macht ausüben? | |
Als Architekt weiß Markos, wie schwer dieses System von unten zu verändern | |
ist. Er kennt die Geschichte vom Leiter der Baubehörde, die für die | |
Kykladeninseln zuständig ist, also auch für Mykonos, die Insel der Reichen | |
und der Steuersünder. Der Mann wurde vor einem Jahr suspendiert und steht | |
jetzt wegen „illegaler Bereicherung im Amt“ vor Gericht. Auf seinen Konten | |
lagen hunderttausende Euro, die nicht durch sein Beamtengehalt erklärbar | |
sind. Markos hat geahnt, dass der Beamte für Gefälligkeiten abkassierte. | |
Alle auf der Insel haben gewusst, dass da etwas nicht stimmen konnte, es | |
gab jedoch keine Beweise. Dabei ist allgemein bekannt, dass in Mykonos | |
viele Ferienvillen genehmigt wurden, die gegen Bauvorschriften verstoßen. | |
Hätte Markos den bestechlichen Beamten angezeigt, wenn er Beweise gehabt | |
hätte? Na ja, sagt Markos, er hätte dann in Kauf nehmen müssen, dass die | |
Bauanträge für seine Projekte nicht gerade zügig genehmigt werden. Das | |
hätte sich rumgesprochen, und er hätte Kunden verloren. Und ob die Anzeige | |
auch zu einer Anklage führt, hätte sich erst nach Jahren herausgestellt. | |
Und dann meint er: Irgendwie hat jeder mal halb krumme Sachen gemacht, eine | |
kleine Sünde begangen. Da will man nicht auf größere Sünder zeigen. | |
Außerdem scheut jeder den Ruf des „Denunzianten“, das habe sich so gehalten | |
seit den Zeiten einer fremden Obrigkeit. Im Grunde sei seinen Landsleuten | |
jede Obrigkeit fremd geblieben. Das heißt für Markos: „Wir müssen uns | |
ändern, sonst ändert sich hier nichts.“ | |
## Erste Erfolge | |
Die Krise hat, unabhängig von den Wahlen, schon einiges in Gang gebracht. | |
Bei der IKA, der griechischen AOK, ist im März ein großer Betrug | |
aufgeflogen. Die „IKA-Frauen von Kallithea“ machten tagelang Schlagzeilen. | |
Sie hatten sich über fiktive Leistungen an "Strohpatienten" 400.000 Euro | |
erschlichen: Krankengeld für Kerngesunde, die ihrer Arbeit nachgingen, oder | |
für Entbindungen, die nie stattgefunden haben. Aufgespürt wurde der Fall | |
freilich erst mit Methoden des Datenabgleichs, die der IKA von den viel | |
gescholtenen IWF-Experten beigebracht wurden. Dank ähnlicher | |
Computerprogramme hat die staatliche Rentenversicherung vor drei Wochen | |
200.000 falsche Rentner entdeckt, die pro Jahr rund 900 Millionen Euro | |
kassiert haben. | |
Immer mehr Korruptionsfälle werden aber auch von Leuten aufgedeckt, die das | |
Spiel früher selbst mitgemacht hätten. Wie der Kleinunternehmer in | |
Ostmazedonien: Er zeigte einen Finanzbeamten an, der ihn zum Steuerbetrug | |
aufgefordert hatte, um einen Teil der Summe für sich zu kassieren. Wie der | |
Patient, der den Chirurgen überführte, der vor einer Operation das | |
berüchtigte „Fakelaki“ von 1 500 Euro einstecken wollte. | |
## Und immer wieder Rückschläge | |
Der Kampf zwischen Alt und Neu ist jedoch – gerade nach diesen Wahlen – | |
noch lange nicht entschieden. Das alte System kann zwar mangels | |
finanzieller Schmiermasse nicht mehr gut funktionieren. Ein neues aber hat | |
sich noch nicht herausgebildet, weil auch die linken Parteien und ihr | |
Personal auf ihre Weise zur alten politischen Klasse gehören. Dass eine | |
klassische Klientelpartei wie die ND immer noch für die Bildung einer | |
Regierung unentbehrlich ist, verdankt sie nicht nur dem undemokratischen | |
Wahlrecht, sondern auch dem Mangel an realpolitischer Fantasie bei den | |
linken Parteien. | |
Die am 6. Mai „erfolgreichen“ Parteien haben zwar nicht mehr die | |
finanziellen Mittel, um eine breite Klientel zu bedienen. Aber die | |
Klientelpolitik geht auf anderer Ebene weiter. In den letzten Wochen der | |
Pasok-ND-Koalitionsregierung unter Lukas Papadimos haben Minister aus | |
beiden Parteien wichtige Reformen verschleppt, um ihren speziellen | |
Kundenkreis zu protegieren. So blockierten die Konservativen eine längst | |
versprochene Gesetzesänderung, die den Rechtsanwälten ein einmaliges | |
Privileg genommen hätte: In Griechenland müssen bei jeder Transaktion von | |
Immobilien neben dem vereidigten Notar zwei Rechtsanwälte anwesend sein, | |
die für ihre überflüssige Unterschrift satt honoriert werden. Das Geld | |
können sie auch weiterhin kassieren. | |
Die Blockade vernünftiger, ja selbstverständlicher Reformen lässt nicht nur | |
die aufgeklärten griechischen Bürger verzweifeln, sondern auch diejenigen | |
Europäer, die den Griechen wirkungsvoller und nachhaltiger helfen wollen | |
als die Troika und ihre schrecklichen Ökonomen. Zum Beispiel durch | |
langfristig kalkulierte, mit Eurobonds finanzierte Investitionen. Deshalb | |
ist die europäische Solidarität für die Griechen die einzig realistische | |
Hoffnung. Wenn sich die nicht erfüllt, werden die Griechen noch lange in | |
den Trümmern des alten Klientelsystems hausen. Und die übrigen Europäer | |
werden bald merken, dass der erste „gescheiterte“ EU-Staat auch ein | |
Scheitern Europas bedeutet. | |
© [1][Le Monde diplomatique], Berlin | |
13 May 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Niels Kadritzke | |
## TAGS | |
Griechenland | |
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Regierungsbildung in Griechenland: Es könnte noch klappen | |
Die Demokratische Linke (Dimar) und die Konservativen sind bereit, eine | |
Regierungskoalition mitzutragen. Beide machen aber nur mit, wenn die | |
Radikalen Linken ebenfalls dabei sind. | |
Behält Griechenland den Euro?: Brüssel wird konsequent bleiben | |
Die Spargegner haben die Wahlen in Athen gewonnen. Besteht nun das Risiko, | |
dass das Land die Eurozone verlässt? Eine Übersicht zu den wichtigsten | |
Fragen. | |
Debatte Griechenland: Unterschätzt die Dörfer nicht | |
Griechenlands Dorfbewohner sind faul und wissen nicht, wie man wählt: Das | |
denken viele Deutsche. So einfach ist es aber nicht. Auch sie haben | |
politische Schlagkraft. | |
Regierungsbildung in Griechenland: Himmel, hilf! | |
Die Sondierung des linken Parteienbündnisses Syriza bringt eine neue | |
griechische Regierung nicht wirklich näher. Alles deutet auf Neuwahlen hin. |