| # taz.de -- Debatte Sozialpolitik in Europa: Hartz IV jetzt für alle | |
| > Das „deutsche Jobwunder“ ist kein Vorbild für die EU. Die Sparpolitik | |
| > nach dem Modell Merkel würde die Einkommensschere in Europa noch | |
| > vergrößern. | |
| Bild: Suppenküche in Griechenland. | |
| Viele unserer europäischen Nachbarländer blicken mit Erstaunen, Bewunderung | |
| bis Neid auf das „deutsche Jobwunder“. Noch bis vor wenigen Jahren war die | |
| Bundesrepublik der „kranke Mann Europas“ mit stagnierender Wirtschaft und | |
| bis zu 5 Millionen Erwerbslosen. | |
| Aufgerückt zum „Champion“, ist das Wirtschaftswachstum in den letzten | |
| beiden Jahren mit 3,7 und 3 Prozent doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt; | |
| die Erwerbslosigkeit ist auf die Hälfte und die Jugendarbeitslosigkeit auf | |
| ein Drittel gesunken. | |
| Gewichtige Vertreter im In- und Ausland aus Politik, Wirtschaft, | |
| Wissenschaft und Medien werden nicht müde, die „bittere Medizin“ der | |
| grundlegenden Reformen auf dem Arbeitsmarkt für das deutsche Jobwunder zu | |
| lobpreisen und als Patentrezept für Europa zu empfehlen. | |
| Als Schlagworte gelten dafür die „Hartz-Gesetze“ sowie die „Agenda 2010�… | |
| des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Europa steht mit der | |
| autoritären Verordnung des EU-Fiskalpakts am Scheideweg: Wird sich | |
| Kanzlerin Merkel mit ihrer rigorosen Sparpolitik à la Agenda 2010 und Hartz | |
| durchsetzen zu Lasten der Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Menschen | |
| oder der neue französische Präsident Hollande mit dem von ihm favorisierten | |
| wirtschaftlichen Wachstumskurs? | |
| Die vom Bundesverfassungsgericht mit dem Aufschub seines Urteils über den | |
| permanenten EU-Rettungsschirm bis 12. September verordnete „Nachdenkphase“ | |
| muss von der Politik genutzt werden. | |
| Es geht um die Verpfändung der Steuern mehrerer Generationen für eine | |
| „entgrenzte“ Finanzbranche sowie zu einer wirksamen Regulierung unfähiger | |
| Regierungen und damit um die Zukunft des Europäischen Sozialmodells und der | |
| Europäischen Integration. | |
| ## Druck auf Erwerbslose | |
| Mit den Hartz-Reformen ist in der Bundesrepublik 2002/2003 ein gravierender | |
| Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik eingeleitet worden. Kaschiert | |
| durch die eingängige Formel des „Förderns und Forderns“ war die | |
| hauptsächliche Zielrichtung, den Druck auf Erwerbslose zu erhöhen, | |
| Arbeitsstellen mit niedrigerer Qualifikation, geringerem Einkommen und | |
| schlechteren Arbeitsbedingungen anzunehmen. | |
| Durch die zusätzlichen Kürzungen bei der gesetzlichen Renten- und | |
| Krankenversicherung sowie großzügigen Steuergeschenken wurden die Kosten | |
| für die Wirtschaft erheblich gesenkt. Die erwartete Gegenleistung von | |
| Investitionen und Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik erwies sich als | |
| Trugschluss. Erst mit der Erholung der Weltkonjunktur nach 2006 sowie den | |
| Krisenjahren 2008/2009 profitierte die deutsche Wirtschaft von ihrem | |
| offensiven „Exportmodell“. | |
| Dies ging allerdings auch zu Lasten der Krisenländer im Euroraum. Die | |
| Überwindung des starken Wirtschaftseinbruchs 2009 um 5 Prozent ohne größere | |
| Einbrüche bei der Beschäftigung in der Bundesrepublik ist nicht durch | |
| „Hartz“, sondern durch den massiven Einsatz von Kurzarbeit, anderen Formen | |
| der Arbeitsumverteilung sowie zwei Konjunkturprogramme mit dem „Renner“ der | |
| Abwrackprämie für die Automobilkonjunktur geschafft worden. | |
| ## Hier geht’s ins Prekariat | |
| Durchschlagend sind die Ergebnisse der Hartz-Reformen in anderer als der | |
| propagierten Richtung. Etwa die Hälfte der neu entstandenen Arbeitsplätze | |
| sind prekäre Beschäftigung in Leiharbeit mit etwa 1 Million, geringfügige | |
| Beschäftigung (400-Euro-Jobs) mit 7,4 Millionen, befristete Tätigkeit mit 3 | |
| Millionen. Zugenommen haben ebenfalls unsichere Selbstständigkeit und in | |
| jüngster Zeit auch Werkverträge. | |
| Verschärft wurde zudem der Druck durch die drastische Verringerung der | |
| Zeitdauer für die Arbeitslosenunterstützung sowie die gleichzeitige | |
| Absenkung der finanziellen Leistungen. | |
| Nur noch ein Drittel der Arbeitslosen erhalten Arbeitslosenversicherung | |
| (Alg I); zwei Drittel sind bereits in das Hartz-IV-System (Alg II) und | |
| damit unter die Armutsgrenze abgerutscht, obwohl viele von ihnen | |
| jahrzehntelang Beiträge für die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben. | |
| ## Spitze bei Spaltung | |
| Die Bundesrepublik hält inzwischen einen europäischen Spitzenplatz bei der | |
| sozialen Spaltung mit etwa einem Viertel der Beschäftigten in | |
| Niedriglohnsektoren; 7 Millionen Menschen in Hartz IV, davon 2 Millionen | |
| Kinder und Jugendliche. | |
| Beigetragen zu dieser Verschlechterung der Lebenslage breiter | |
| Bevölkerungsschichten hat auch die „moderate“ Lohnpolitik der | |
| Gewerkschaften; zwischen 2000 und 2010 sind die Nettolöhne sogar um 1,7 | |
| Prozent gefallen; Unternehmens- und Vermögenseinkommen haben hingegen um 38 | |
| Prozent zugenommen. | |
| Seit Jahren liegt Deutschland bei der Steigerung der Löhne am unteren Ende | |
| im EU-Vergleich, während die Lohnsteigerungen in den EU-Krisenländern bis | |
| zu 30 Prozent erreichten. Dies hat Wettbewerbsfähigkeit und Exporte für die | |
| Bundesrepublik innerhalb und außerhalb der EU – vor allem nach China – | |
| erheblich befördert. | |
| Die Sparpolitik à la Hartz ist weder ein geeignetes Konzept für die | |
| Bundesrepublik noch für Europa. Die bitteren Konsequenzen der den | |
| Krisenländern als Gegenleistungen für die EU-Rettung aufgezwungenen | |
| Sparprogramme sind Wirtschaftsrezession, bedrohliche Arbeitslosigkeit, | |
| Armut und soziale Spaltung. | |
| ## Paradigmenwechsel ist überfällig | |
| Gleichzeitig schaffen die Wohlhabenden und Reichen ihr Vermögen weiter | |
| ungeniert über die Grenzen. Längst überfällig ist daher ein gegenläufiger | |
| Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehören | |
| für die Bundesrepublik zuallererst die Steigerung der Löhne einschließlich | |
| existenzsichernder gesetzlicher Mindestlöhne, die „Reregulierung“ des | |
| Arbeitsrechts und die Wiederherstellung der sozialen Sicherung. | |
| Für die Krisenländer sind umfassende wirtschafts-, sozial- und | |
| arbeitsmarktpolitische „Marshallpläne“ erforderlich. Sich „am eigenen | |
| Schopf aus dem Sumpf zu ziehen“ ist noch niemandem gelungen. | |
| Der von der Gipfelkonferenz Ende Juni beschlossene Wachstumspakt von 130 | |
| Milliarden Euro, wobei der größte Teil aus bereits verplanten Mitteln der | |
| EU-Strukturfonds kommen soll, bleibt „Augenwischerei“, solange er keine | |
| überzeugenden finanziellen und personellen Ressourcen enthält. | |
| 23 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ursula Engelen-Kefer | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
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