# taz.de -- Debatte Finanzsystem: Gefährliche Geldhüter | |
> Der niedrige Leitzins in Europa trägt kaum dazu bei, die Konjunktur | |
> anzukurbeln. Stattdessen gewinnen nur die Banken – und es droht schon der | |
> nächste Crash. | |
Bild: Die EZB sitzt in der Falle. In der Niedrigzinsfalle. | |
The same procedure as every month: Die Ratsmitglieder der Europäischen | |
Zentralbank (EZB) treffen sich am Mittwoch, wie in jedem Monat, um die | |
geldpolitische Lage in der Eurozone zu erörtern. Und wieder einmal dürfte | |
das Ergebnis so sicher ausfallen wie das Amen in der Kirche – der Leitzins | |
bleibt auf seinem historischen Tief bei einem Prozent. Zu befürchten ist | |
sogar eine weitere Zinssenkung, wie einige Analysten bereits vorausorakeln. | |
Seit vier Jahren hält die EZB dogmatisch an ihrem Niedrigzinskurs fest. | |
Weder konnten damit die Schuldenprobleme Griechenlands gelöst, noch der | |
implodierende Arbeitsmarkt in Spanien gerettet werden. Das | |
Wirtschaftswachstum der EU lag trotz der Tiefzinsen im vergangenen Jahr bei | |
mageren 1,5 Prozent. | |
Von ihrer vorrangigen Aufgabe, die Preisstabilität im Euroraum zu sichern, | |
hat sich die EZB längst verabschiedet. Dabei ist noch nicht einmal die | |
Inflationierung der Verbraucherpreise das größte Problem. Seit der Pleite | |
der US-Bank Lehman vor rund vier Jahren hat die EZB durch ihre hastigen | |
Zinssenkungen eine bedrohlich anwachsende Inflation der Vermögenspreise in | |
Gang gesetzt - und damit den Sprengstoff für weitere Knaller an den | |
Finanzmärkten geschaffen. | |
Die Spekulationspreise für Gold und DAX-Aktien haben sich zwischenzeitlich | |
verdoppelt. Noch schlimmer: „Die Märkte“ stürzen sich auf deutsche | |
Staatsanleihen wie bei einem Räumungsverkauf zu Schnäppchenpreisen. | |
## Wie im Räumungsverkauf | |
Längst werden die Bundespapiere an der Börse bis zu 65 Prozent über ihrem | |
Rückzahlungswert gehandelt. Jegliche Bodenhaftung scheint verloren, | |
Verluste nehmen die Anleger planmäßig in Kauf, weil sie einen „sicheren | |
Hafen" suchen. | |
So war die Rendite für zehnjährige Anleihen im Mai auf 1,3 Prozent gefallen | |
und lag damit weit unterhalb der Inflationsrate. Bundesfinanzminister | |
Wolfgang Schäuble konnte jüngst sogar den ratlosen Geldeigentümern | |
Bundesschatzanweisungen im Umfang von 4,6 Milliarden Euro für einen glatten | |
Nullzins andrehen. | |
So wertlos und inflationär ist Geld in seiner Eigenschaft als Vermögensgut. | |
Die EZB verschleudert es zu Discountpreisen an die Banken. Anstatt dass | |
diese jedoch mit dem Geld die Unternehmen großzügig mit günstigen Krediten | |
versorgen und auf diese Weise Investitionen in die reale Wertschöpfung | |
ankurbeln, verschieben die Banken ihre geborgten Geldmassen weiter an die | |
Staatskassen, von denen sie frische Schuldscheine mit einem mitunter noch | |
weit über dem Leitzins liegenden Kupon - so nennt man traditionell den | |
Abschnitt eines Wertpapiers, der zur Einlösung des Zinses berechtigt - | |
einstreichen: | |
Kauft eine Bank beispielsweise italienische Anleihen, erhält sie immerhin | |
6,4 Prozent Zinsen für ihr Geld, das sie bei der EZB für nur ein Prozent | |
geliehen hat. Auf diese Weise subventioniert die EZB mit ihrem niedrigen | |
Leitzins künstlich die Abhängigkeit der europäischen Staaten von den | |
Privatbanken, anstatt den Mitgliedsländern die günstigen Kredite ohne | |
Umwege direkt zu gewähren. | |
## Bankensystem am Abgrund | |
Welcher Anteil der deutschen Staatsanleihen von Banken gehalten wird, | |
darüber gibt es keine eindeutigen Informationen. Jens Berger schätzt in | |
seinem Buch „Stresstest Deutschland", dass 86 Prozent der zwei Billionen | |
Euro deutscher Staatsschulden als Rentenpapiere in den eigenen Depots der | |
Kreditinstitute liegen. | |
Die Differenz zwischen Leitzins und Kupon, also die Möglichkeit, mit den | |
Papieren Gewinn zu machen, reduziert sich aufgrund der hohen Kurse | |
inzwischen auf Dezimalstellen hinter dem Komma. Und damit sitzt die EZB in | |
ihrer eigenen Zinsfalle. Würde sie den Leitzins erhöhen, könnte die | |
deutsche Anleiheblase platzen wie einst die Dotcom-Bubble an der Nasdaq. | |
Das gesamte Bankensystem stünde am Abgrund und die von ihm abhängigen | |
Staaten ebenfalls. | |
Je weiter die Kurse der Bundesanleihen an den Börsen in schwindelige Höhe | |
klettern, umso mehr gerät die EZB unter Druck, mit weiteren Zinssenkungen | |
die Anleiheblase künstlich in der Luft zu halten. Sie untergräbt damit | |
zugleich das neoliberale Modell der privaten Vorsorge: die rot-grüne | |
Riester-Rente und all die vielgepriesenen, kapitalgedeckten | |
Zusatzversicherungen. | |
Denn die Kapitaldecke kann nur schrumpfen, wenn die Mindestverzinsung von | |
Lebensversicherungen in Höhe von 1,75 Prozent durch die Inflation verzehrt | |
wird und weder Anleihen noch Sparkonten einen Zuwachs ermöglichen. | |
## Immer neue Zockerinstrumente | |
Trotzdem ist aufgrund der zunehmend polarisierten Einkommensverteilung das | |
deutsche Geldvermögen in den vergangenen zehn Jahren um ein Drittel auf | |
rund 4,7 Billionen Euro angewachsen, wovon über 60 Prozent dem obersten | |
Zehntel gehören. Diese Kapitalmasse sucht verzweifelt nach Anlagemärkten. | |
Das macht Investmentbanken erfinderisch. Sie zaubern immer noch neue, | |
hochkomplexe Zockerinstrumente herbei und nehmen damit neue Katastrophen in | |
Kauf: undurchschaubare Bonus-Zertifikate und Hebelderivate, eine Flut | |
börsengehandelter ETF-Fonds, die über riskante Wettgeschäfte ihren | |
virtuellen Basiswert verbriefen, und neuerdings sogenannte „Contracts for | |
Difference", mit denen sogar Privatanleger außerbörslich mit dem Zigfachen | |
ihres Eigenkapitals spekulieren dürfen. | |
Die paradoxe Kombination aus politisch erzwungenem Vorsorgesparen, | |
schiefliegender Vermögensverteilung und niedrigem Zins bei gleichzeitig | |
schwachem Wirtschaftswachstum führt zwangsläufig zu Spekulationsexzessen | |
und dem Platzen überdehnter Blasen. | |
Vielleicht hätte die EZB jetzt noch die Chance, durch vorsichtige | |
Zinserhöhungen schrittweise den Druck aus „den Märkten“ zu nehmen. Ihren | |
Einfluss auf die realwirtschaftliche Konjunktur haben die Leitzinsen in | |
Europa durch die zunehmende Kluft zwischen Nord und Süd ohnehin weitgehend | |
eingebüßt. | |
Für Deutschland sind die Zinsen viel zu niedrig, für das schwächelnde | |
Südeuropa theoretisch immer noch zu hoch. So lange niedrige Zinsen an den | |
Finanzmärkten verpuffen, statt in der Realwirtschaft Investitionen und | |
Kaufkraft zu stärken, werden sie zur systemrelevanten Gefahr. | |
5 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Rainer Kreuzer | |
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