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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Bei den Frankfurtern
> In den Krisen-Hauptstädten Athen, Lissabon und Dublin haben sich
> Schattenregierungen eingerichtet. Gelenkt werden sie von der Europäischen
> Zentralbank.
Bild: Bei Mario gibt's jetzt supergünstige Kredite.
Seine letzte Pressekonferenz gab Jean-Claude Trichet im ersten Stock der
Europäischen Zentralbank (EZB). Er intonierte – auf Englisch – das alte
Lied von den "Strukturreformen". Das kann er offenbar auswendig, schon bei
seinem ersten Auftritt als EZB-Präsident im November 2003 hatte er
"Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt" eingeklagt. Diese immer
wiederkehrende Forderung war aber nicht wirklich Trichets eigene Erfindung,
denn schon sein Vorgänger Wim Duisenberg hatte sie gebetsmühlenartig
wiederholt.
An diesem 8. September 2011 aber wurde Trichet, trotz der zuweilen
kryptischen Sprache, etwas konkreter: „Wir sollten vor allem zu einer
Abschaffung der automatischen Lohnindexierungsklauseln und zu einer
Stärkung von Vereinbarungen auf Unternehmensebene kommen, damit die Löhne
und Arbeitsbedingungen auf unternehmensspezifische Bedürfnisse abgestimmt
werden können.
Diese Maßnahmen sollten mit Strukturreformen einhergehen, insbesondere im
Dienstleistungsbereich – einschließlich der Liberalisierung reglementierter
Berufe – und, soweit sinnvoll, mit der Privatisierung von Dienstleistungen,
die heute vom öffentlichen Sektor wahrgenommen werden; auf diese Weise
könnte man Produktivitätszuwächse anstoßen und die Wettbewerbsfähigkeit
stützen."
## Im Takt des Internationalen Währungsfonds
„Man kommt sich vor wie im Politbüro kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion“,
flüsterte der grüne Europa-Abgeordnete Pascal Canfin auf seinem
Zuhörerplatz, „immer dieselbe Litanei, derselbe Jargon, abgehoben von der
Realität.“ Für den stellvertretenden Vorsitzenden des Sonderausschusses zur
Finanz-, Wirtschafts- und Sozialkrise im EU-Parlament ist dies „ein
ideologisches Programm ohne jeden Bezug zu den Ursachen der Krise“.
Canfin kann nicht erkennen, wie eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts,
die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes oder die Umgehung des
Arbeitsrechts durch betriebliche Vereinbarungen eine Antwort auf die
Deregulierung der Finanzmärkte darstellen sollen: „Die EZB-Spitze zieht das
Programm des Internationalen Währungsfonds durch, mit den ganzen
Strukturanpassungsplänen, die fast alle gescheitert sind. Aber egal, es
wird einfach weitergemacht.“
Die alte Leier also, in Frankfurt nichts Neues? Doch – aber nicht in den
Worten, sondern faktisch. Die EZB verfügt nämlich jetzt über die Mittel, um
ihre guten Ideen in die Tat umzusetzen, und zwar nicht nur in der
Geldpolitik. Ihre Experten richten sich zusammen mit den anderen
Abgesandten der „Troika“ – denen des IWF und der EU-Kommission – in Ath…
Lissabon und Dublin als Schattenregierungen ein. Sie beaufsichtigen die
Minister und verkünden ihre „fünfzehn Gebote“: Du sollst Kurzarbeit
einführen, du sollst den Bauern die Renten kürzen, du sollst die
Staatsausgaben verringern und so weiter und so fort.
Bis hin zu jenem Brief, den Trichet zusammen mit seinem Nachfolger Mario
Draghi dem italienischen Regierungschef Berlusconi Anfang August übersandt
hat. Darin verlangten sie nicht nur, „die Kündigungsverfahren flexibler zu
gestalten“, sondern auch „innerbetrieblichen Vereinbarungen den Vorzug
gegenüber nationalen Branchentarifverträgen zu geben“ und „die kommunalen
Betriebe (Personennahverkehr, Müllabfuhr, Stromversorgung) zu
privatisieren“. Dabei offenbarten die beiden Zentralbänker ihr
Demokratieverständnis mit der Empfehlung, „auf dem Verordnungsweg
vorzugehen, mit sofortiger Wirkung, nicht durch einen Gesetzentwurf, dem
erst noch das Parlament zustimmen muss“.
## Schönredner sprechen Klartext
„Die EZB entmündigt faktisch Italien“, hieß es dazu in Le Figaro. Und der
frühere EU-Kommissar Mario Monti, inzwischen italienischer
Ministerpräsident, sprach sogar von einer „ausländischen Podestá“, also
einer Fremdverwaltung.(1 )
Dabei handelt es sich nicht mehr um „Ratschläge“ oder „nachdrückliche“
Empfehlungen und erst recht nicht um bloße „Botschaften“, wie es die
EZB-Chefs als berufsmäßige Schönredner vorgeben. Aber man kann auch nicht
von „Weisungen“ oder „Diktaten“ sprechen. Genau genommen handelt es sic…
Bedingungen.
„Die EZB hatte bisher keinen wirklichen Einfluss“, erläutert der Politologe
Clément Fontan. „Die Bank konnte ihre Meinung sagen, die Politiker hörten
vielleicht mit halbem Ohr hin und sagten sich: So ist sie halt, die EZB.
Das sind Konservative. Hören wir ihnen zu, dann sind sie schon zufrieden.“
Als dann die Krise kam und Länder der Eurozone von den Finanzmärkten
attackiert wurden, weigerte sich die EZB zunächst, ihnen zu helfen: „Sie
bestand auf dem Dogma ihrer Unabhängigkeit und Neutralität. Erst als die
Marktpanik voll ausgebrochen war, gab sie auf Druck der Regierungen und der
Banken schließlich nach.“
## Wie damals in Argentinien
Die Bank sah sich also gezwungen, Staatsanleihen der Krisenländer zu
kaufen. Aber sie stellte ihnen Bedingungen: Die betroffenen Länder mussten
sich nun zu den „Strukturreformen“ verpflichten, die ihnen die EZB seit
ewigen Zeiten gepredigt hatte. Fontan vergleich die Situation heute mit dem
Verhältnis zwischen Argentinien und dem IWF am Ende der 1990er Jahre: „Der
Schuldner wird massiv unter Druck gesetzt, damit er die Reformen
durchführt, die der Gläubiger für ’richtig und notwendig‘ hält. Letztli…
war die Krise für die EZB eine willkommene Gelegenheit.“
Eine „Gelegenheit“ – das Wort gebrauchen die Beobachter der Zentralbank
immer wieder. Sie alle halten Jean-Claude Trichet für einen „großen
Politiker“. Selbst seine Gegner sehen in ihm „den einzigen wirklichen
europäischen Führer“. Und Trichet hat die „Gelegenheit“ beim Schopf
gepackt, hat den historischen Moment genutzt, um seine persönliche Macht
und die der Institution EZB auszuweiten.
## Der Gerechtigkeitssinn des europäischen Schatzmeisters
Wir erwarten den europäischen Schatzmeister im obersten Stock des
Eurotowers. Von hier hat man einen Panoramablick über das Zentrum der
Bankenstadt Frankfurt. Nicht zufällig ist die EZB gleich neben dem
Commerzbank-Tower, dem Hochhaus der Dresdner Bank und den Zwillingstürmen
der Deutschen Bank angesiedelt. Am selben Morgen haben am runden Tisch im
36. Stock die Präsidenten der 17 Euro-Zentralbanken konferiert und den
Beschluss gefasst, „die Leitzinsen unverändert zu belassen“.
Der EZB-Präsident lässt sich in einem Sessel nieder, steht aber gleich
wieder auf und klingelt mit einem auf dem Tisch stehenden Glöckchen. Wir
beginnen mit dem Hinweis auf die Pressekonferenz, die er gerade gegeben
hat. Dabei hat Trichet Tarifabschlüsse auf Unternehmensebene gefordert,
Privatisierungen im öffentlichen Dienst, die Flexibilisierung der Löhne.
„Das ist ja ein richtiges Regierungsprogramm! Kandidieren Sie bei den
Präsidentschaftswahlen?“
„Nein, natürlich nicht“, sagt Trichet lächelnd. „Das sind einfach die
Methoden, die meine Kollegen und ich für wichtig halten, um in Europa zu
schnellerem Wachstum zu kommen und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.“
## Das volle Programm
„Wenn man von Strukturreformen spricht“, geben wir zu bedenken, „erinnert
das an die Strukturanpassungspläne, die der IWF in den Achtzigerjahren
verordnet hat: Liberalisierung, Deregulierung und so weiter. Das Programm
hat weder in Lateinamerika noch in Afrika funktioniert. Warum sollte es
heute in Griechenland, in Spanien, in Italien oder in Frankreich klappen?“
Statt den Vergleich zurückzuweisen, wartet der Präsident mit einem
zumindest überraschenden Argument auf: Die IWF-Programme hätten sehr wohl
funktioniert. „Was sind denn die Länder, die sich in der Krise
bemerkenswert gut behauptet haben? Das sind die Schwellenländer, die Länder
Lateinamerikas, die jetzt dank ihrer Strukturreformen viel stärkere
Widerstandskräfte besitzen. Wir beobachten außerdem erstaunliche
Entwicklungen in Afrika. Es gibt Reformen, die eine Freisetzung der
Produktivkräfte ermöglichen.“
„Aber warum fordern sie keine Erhöhung der Unternehmenssteuer“, fragen wir
Trichet. „Sie lag in Frankreich in den 1980er Jahren bei 50 Prozent. Heute
sind es offiziell 33,3 Prozent, aber für die Großunternehmen in
Wirklichkeit nur 7 Prozent.“ Trichet gehen derart naive Fragen ein bisschen
auf die Nerven. „Man muss immer das höhere Interesse sehen. Denn was
passiert, wenn die wirtschaftliche Aktivität in Frankreich höher besteuert
wird?
Die Investoren gehen ins Ausland, und in Frankreich sind die Arbeitsplätze
weg. Soziale Gerechtigkeit ist wichtig. Aber man schafft in Frankreich
keine Arbeitsplätze, indem man die Unternehmen höher besteuert, höher als
in den Schwellenländern.“ Und dass „das höhere Interesse“ zufällig das…
höheren Klassen ist, dafür kann Trichet nun wirklich nichts.
## Gleichbleibend: niedrige Löhne und hohe Bankerboni
Also folgte Trichet nur dem gesunden Menschenverstand, als er sich im
Februar dieses Jahres echauffierte: „Es wäre die größte Dummheit, in Europa
die Löhne anzuheben.“ Der gleichzeitige Anstieg der Gewinne aus Dividenden
um 13 Prozent – oder mehr als 40 Milliarden Euro – konnte seinen heiligen
Zorn dagegen nicht entfachen. Und 2006 war es gewiss nur sein
Gerechtigkeitssinn, der ihn zur Rechtfertigung jenes
„Ersteinstellungsvertrags“ (CPE) motivierte, den die Regierung Villepin
gegen massive Proteste der französischen Jugend durchsetzen wollte.(2)
Oder der ihn zum europäischen Vorkämpfer für „Flexibilität auf dem
Arbeitsmarkt“ werden ließ, während er in der Diskussion über die Bankerboni
den höheren „variablen Gehaltsanteil“ damit rechtfertigte, das diese Leute
eben „in einem schrecklich volatilen Metier“ arbeiten (die Trader als
neuestes Prekariat!). Derselbe Gerechtigkeitssinn brachte ihn auch dazu,
die Heraufsetzung des Rentenalters in Frankreich, Irland oder Portugal für
richtig, eine Finanztransaktionssteuer indes für „nicht wünschenswert“ zu
befinden.
Solche Gegenüberstellungen lässt der EZB-Grande nicht gelten. Diese „rein
politischen Begriffsraster“ gefallen ihm gar nicht. „Ich bin kein
Politiker“, beteuert er und beruft sich auf die „politische Neutralität“
der EZB, die im Dienst von „siebzehn Regierungen und 332 Millionen Bürgern
aller politischen Richtungen“ stehe. Und im Übrigen wünscht er keine Fragen
mehr „zu politischen Themen“.
Wäre Trichet ein Berater im Élysée-Palast geblieben (wie unter Präsident
Giscard d’Estaing 1978–1981) oder Kabinettsdirektor im Ministerium für
Wirtschaft und Privatisierungen (wie 1986 unter Édouard Balladur), würde
man ihn wohl der Rechten zuordnen. Die EZB aber, die sich ihrer
„Unabhängigkeit“ rühmt und ihre Urteile als „wissenschaftlich“ verkau…
konnte sich der öffentlichen Kritik bislang zumeist entziehen. Vor den
internationalen Demonstrationen gegen das Finanzsystem vom 15. Oktober, als
sich tausende Anhänger der Bewegung „Occupy Frankfurt“ vor dem Eurotower
einfanden, hatte es dort noch kaum eine Protestkundgebung gegeben.
## Schreibtischtäter in Nadelstreifen
„Die EZB tut alles, um sich unsichtbar zu machen“, meint der Soziologe
Frédéric Lebaron. „Sie sieht sich als eine Art Sachverständigenrat, der
über den Parteien und den einzelnen Staaten angesiedelt ist.“(3) Aber auch
ihre geografische Distanz und die offenkundige (und bewusst gepflegte)
Komplexität der Themen, mit denen sie sich befasst, sorgen dafür, dass sie
den kritischen Blicken der Bürger entgeht.
Neben den währungspolitischen Zielen – wie ein starker Euro oder die
Bekämpfung der Inflation – liegen mittlerweile auch zentrale Entscheidungen
der Haushalts-, Finanz- und Sozialpolitik im Kompetenzbereich von
Fachleuten, die vor allem in Frankfurt sitzen. Und die setzen ihre
Entscheidungen durch, indem sie uns versichern: Wir haben keine andere
Wahl.
Gleichwohl bekam es Jean-Claude Trichet am Ende seiner Amtszeit mit einer
„Opposition“ zu tun. Die kam allerdings nicht von Arbeitnehmerseite,
sondern aus dem Dunstkreis der Banker und Broker. Etwa von
Wirtschaftsjournalisten, die normalerweise niemanden mit Fragen zur
Arbeitslosenrate in Portugal belästigen oder zum Zustand der griechischen
Krankenkassen, die den Zuckerkranken nicht mehr das Insulin bezahlen
können. Am 8. September 2011 aber vergrätzte der Korrespondent der
Frankfurter Börsen-Zeitung den scheidenden Zentralbankchef mit der Frage,
ob er nicht die Gefahr sehe, dass die EZB durch den Ankauf fauler
Staatsanleihen vom „Hüter der Stabilität“ zur „Bad Bank“ werden könn…
## Und dienstags ist große Kreditauktion
Tags darauf verkündete Jürgen Stark, Chefökonom der EZB und Sprachrohr der
neoliberalen Orthodoxen, seinen Rücktritt. Bereits im Februar hatte der
deutsche Bundesbankpräsident Axel Weber seinen Unmut über die für seinen
Geschmack zu lockere Kreditpolitik bekundet, indem er seinen Posten und
damit seinen Sitz im EZB-Rat aufgab. Damit verzichtete er zugleich auf die
Nachfolge von Trichet. Was dem europäischen Zentralbankchef von dieser
Seite vorgeworfen wurde, war also – so komisch das klingt – seine nicht
hinreichend orthodoxe Haltung.
Die Handelsräume der EZB liegen im ersten Stock des Eurotowers. Man führt
uns in ein schlichtes Großraumbüro mit hunderten PCs, vor denen Männer im
Anzug und Frauen im Business-Kostüm sitzen. Auf einem Bildschirm laufen die
Kolonnen der Börsenkurse. „Wir organisieren hier die Kreditvergabe für die
Geschäftsbanken“, erklärt Paul Mercier, der Principal Advisor für
Marktoperationen. Im Klartext: Hier wird das Geld im Euroraum ausgegeben.
„Jeden Dienstag gibt es hier eine große Kreditauktion. Wie viel wir auf den
Markt bringen, darüber entscheidet der Board“, also der Rat der
Zentralbankgouverneure.
Mercier beeilt sich zu sagen: „In der jetzigen Situation haben wir jedoch
beschlossen, dass die Banken selbst entscheiden können, wie viel sie
aufnehmen wollen. Das sind etwas spezielle Maßnahmen, die wir wegen der
Finanzkrise ergreifen mussten. Ivan Fréchard, ein Experte der
Devisenmarkt-Kontaktgruppe, bestätigt diese Auskunft: „Ganz einfach: Wir
geben den Banken jede Liquidität, die sie von uns fordern.“ Er nennt es die
Politik des „full allotment“.
## 54 Milliarden gehen direkt an die Gläubiger
Statt „volle Zuteilung“ könnte man auch sagen: „bis sie den Hals voll
haben“. Während man nämlich den Staaten die Kredite nur zu bestimmten – u…
zwar strengsten – Konditionen gewährt, gilt für die Banken das
Selbstbedienungsprinzip. Der Deutschen Bank oder der französischen
BNP-Paribas haben Trichet – oder jetzt Draghi – nicht damit gedroht, dass
ihnen die EZB nur dann unter die Arme greift, wenn sie sich aus den
Steueroasen zurückziehen, die Spekulation mit Staatsobligationen einstellen
und sich auf die Finanzierung der Realwirtschaft konzentrieren. Kein
Anzugträger von der EZB ist bei der Commerzbank oder der Crédit Agricole
aufgetaucht und hat die Bilanzen so genau unter die Lupe genommen wie im
Athener Gesundheitsministerium und anschließend genauso arrogante
Ermahnungen erteilt.
„Um das System zu retten, hat die EZB den Liquiditätshahn aufgedreht“,
erklärt uns Pascal Canfin, der für die Grünen im Europäischen Parlament
sitzt. „Das Problem ist aber, dass die Leitung Löcher hat: Der Geldstrom
kommt nicht in der Realwirtschaft an. Dazwischen sitzen nämlich die
Geschäftsbanken, und denen sind auch heute noch spekulative Finanzgeschäfte
wichtiger als Investitionen. Die EZB hat eigentlich dafür zu sorgen, dass
der Strom in die richtige Richtung fließt – und das haben sie seit zwei
Jahren nicht mehr getan.“
Auch Miguel Portas aus Portugal, der für die Vereinigten Europäischen
Linken im EU-Parlament sitzt, klagt über die falschen Prioritäten der
EZB-Politik: „Man hat Portugal einen Rettungsplan verordnet. Aber von den
78 Milliarden Euro an EZB-Krediten gehen 54 Milliarden direkt an die
Gläubiger. Man hat uns erklärt, die Banken, bei denen die Staatsschulden
liegen, hätten Vorrang. Und um das zu finanzieren, werden bei uns die Löhne
gedrückt – bei einem Mindestlohn von 485 Euro – und die Renten gekürzt –
bei einer durchschnittlichen Rente von rund 300 Euro. Die Wasser-, Gas- und
Strompreise wurden um 17, 18 und 20 Prozent erhöht, die Mehrwertsteuer auf
inzwischen 23 Prozent. Und bei alledem wird das Großkapital völlig
verschont – im Namen der Notwendigkeit, Investoren anzulocken.“
## Eng verbandelt mit Goldman Sachs
Auch in Irland hat die EZB ihr wahres Gesicht gezeigt. Paul Murphy, ein
Fraktionskollege von Miguel Portas, zitiert den Slogan der irischen
Labour-Partei bei den Wahlen im Frühjahr: „It will be labour’s way, or
Frankfurt’s way.“ Der Kurs der Labour-Partei sah vor, dass die Banken, die
privaten Gläubiger, mit herangezogen werden – und nicht nur die Bürger.
„Aber die Europäische Zentralbank bestand darauf, dass kein Gläubiger
benachteiligt werden dürfe. Und kurz nach den Wahlen haben die angeblichen
Sozialdemokraten in Irland kapituliert, wie die Sozialdemokratie in ganz
Europa. Sie ist vor den Märkten, der EZB und der Troika eingeknickt.“
Die EZB wird nicht müde, ihre „Unabhängigkeit“ zu betonen, und verweist m…
Vorliebe auf Artikel 107 des Maastrichter Vertrags, der besagt, dass „weder
die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer
Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft,
der Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderer Stellen entgegennehmen
darf“. Zumindest gegenüber der Politik ist die Unabhängigkeit also total.
Vom neuen EZB-Chef Mario Draghi dürften die Mächtigen der Finanzwelt im
Übrigen genauso wenig zu fürchten haben wie von dessen Vorgänger Trichet.
Draghi war von 2001 bis 2005 bei Goldman Sachs als Vizepräsident der
Europa-Abteilung tätig. Umgekehrt machte es Otmar Issing, EZB-Chefvolkswirt
von 1998 bis 2006 und geistiger Vater des Euro. Er ging von Frankfurt nach
New York und wurde International Advisor bei Goldman Sachs. Auch Axel
Weber, der als Bundesbankpräsident für Deutschland im EZB-Rat saß, hat sich
für den Privatbanksektor entschieden. Nachdem er im April 2011 sein EZB-Amt
vorzeitig aufgegeben hat, soll er im Mai 2012 bei der Schweizer Großbank
UBS zum Präsidenten des Verwaltungsrats berufen werden. Die UBS wird der
Begünstigung von Steuerbetrug verdächtigt.
Keiner der Gralshüter des Euro hat sich nach seiner EZB-Karriere zum
Eintritt in eine französische, deutsche oder italienische Gewerkschaft
entschlossen. In dieser Richtung bleibt ihre „Unabhängigkeit“ gewahrt.
Fußnoten:
(1) Alle Zitate aus Richard Heuzé, „La BCE met de facto l’Italie sous
tutelle“, "Le Figaro, 8. August 2011.
(2) Der „Ersteinstellungsvertrag“ für Jugendliche unter 26 Jahren wurde im
März 2006 eingeführt, nach massiven Protesten im April aber schon wieder
einkassiert. Nach diesem Vertrag konnte man in den ersten zwei Jahren der
Beschäftigung ohne Kündigungsgrund entlassen werden.
(3) Frédéric Lebaron, „Ordre monétaire ou chaos social? La BCE et la
révolution néolibérale“, Bellecombe-en-Bauges (Éditions du croquant) 2006.
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien
[1][Le Monde diplomatique] vom 9.12.2011
18 Dec 2011
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
A. Dumini
F. Ruffin
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