# taz.de -- Debatte Syrien: Hinsehen statt zusehen | |
> Ignoranz oder militärische Intervention? In Deutschland verkennt man die | |
> Situation im Land. Denn es gibt längst einen richtigen „dritten Weg“ in | |
> Syrien. | |
Bild: Die syrische Bevölkerung braucht zivile Unterstützung des Westens. | |
Mit den schrecklichen Bildern der jüngsten Massaker hat die Frage nach | |
einer militärischen Intervention der westlichen Staaten die | |
Syrien-Diskussion voll im Griff. Auch Merkel und Westerwelle nehmen den | |
Gedanken dankbar auf, nur um die Option sofort wieder auszuschließen. | |
Inhaltlich ist das richtig, doch das Problem ist die Debatte selbst. | |
Denn einerseits lässt sich durch das ständig wiederholte „Dampfgeplauder“ | |
(de Maizière) über eine militärische Intervention das tatenlose Zuschauen | |
der Weltgemeinschaft bestens rechtfertigen. Statt einen genaueren Blick auf | |
die Lage in Syrien zu werfen, verengt sich die Debatte auf die große | |
Politik mit den zwei Optionen Militärintervention oder tatenlose Zusehen – | |
und der schwarze Peter wird Russland zugeschoben. | |
Andererseits fehlt der Debatte die realpolitische Grundlage: Von Beginn des | |
Aufstands an haben Nato wie Arabische Liga einer Offensive eine Absage | |
erteilt. Und trotz politischer Debatte fehlt jedes Anzeichen, dass sich | |
daran etwas ändern könnte. Selbst hohe Militärs raten öffentlich vom Kampf | |
mit der hochgerüsteten syrischen Armee ab, würde der doch nur noch mehr | |
zivile Opfer fordern. | |
## Scheindebatte in Endlosschleife | |
Dass die Diskussion eine Scheindebatte ist, macht sie nicht weniger | |
gefährlich. Denn erst dadurch erscheint die zweite militärische Option, die | |
Bewaffnung der Freien Syrischen Armee, als vernünftige Alternative. Aber | |
unkontrolliert Waffen in das multikonfessionelle Syrien zu schicken, würde | |
spätestens nach dem Ende des Assad-Regimes das Land massiv destabilisieren. | |
Die Rebellenarmee verfügt nicht einmal über eine zentrale Kommandostruktur. | |
So kann sie die Verbreitung der Waffen nicht kontrollieren, geschweige denn | |
die offizielle Armee militärisch bezwingen. | |
Reicht angesichts dieser Bilanz in der Syrien-Frage der Blick auf die große | |
Politik? Bleibt bei der richtigen Ablehnung einer militärischen | |
Intervention nur das tatenlose Zusehen? Ist vielleicht bereits der viel | |
beschworene Bürgerkrieg ausgebrochen, der die Zivilgesellschaft längst | |
marginalisiert? | |
Antworten geben die SyrerInnen selbst: Die direkte Reaktion auf das | |
Massaker von Hula war ein landesweiter Streik. Die konservativen | |
HändlerInnen, die bisher auf Assad als Garant für wirtschaftliche | |
Stabilität gesetzt hatten, ließen ihre Geschäfte geschlossen. Fast | |
verzweifelt klingt die Erklärung des Innenministers, die Geschäftsleute | |
seien zum Flughafen gefahren, um die ausgewiesenen Botschafter in Empfang | |
zu nehmen. | |
Auch die täglichen Demonstrationen und Proteste weiten sich ständig aus: In | |
der Innenstadt von Aleppo fand das erste Mal eine Massendemonstration | |
statt, nachdem es bei Angriffen auf protestierende StudentInnen an der | |
Universität vier Tote gegeben hatte. Die wohlhabenden HändlerInnen der | |
Stadt drückten ihre Solidarität aus, schwenkten die Revolutionsfahne und | |
machten in Sprechchören keinen Hehl daraus, dass das Regime ihre | |
Unterstützung endgültig verloren hat. Der Dank der AktivistInnen folgte | |
eine Woche später, als das Motto für die landesweiten | |
Freitagsdemonstrationen lautete: „Revolutionäre und Händler Hand in Hand“. | |
## Das Rückgrat der Proteste | |
Aber ja, es gibt auch weiter bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen | |
Rebellen und offiziellen Sicherheitskräften. Doch zahlenmäßig sind sie im | |
Verhältnis zur Masse der zivilen Aktionen eine Randerscheinung. Dass | |
hierzulande die Berichterstattung über die Kämpfe dennoch überwiegt, | |
verzerrt unser Syrienbild massiv: Das Rückgrat des Aufstands ist der zivile | |
Widerstand, und erst der hat dazu geführt, dass die Proteste gegen das | |
Assad-Regime 15 Monate lang durchgehalten haben. | |
Den Demonstrationen und kreativen Protestaktionen haben sich im Lauf der | |
Zeit immer mehr Menschen angeschlossen, der Zulauf der bewaffneten Kämpfer | |
hält sich in Grenzen. Während Letztere nur in einigen wenigen Regionen des | |
Landes aktiv sind, gibt es Demonstrationen und Proteste fast landesweit, | |
etwa am letzten Freitag an über 540 Orten. | |
Wer den zivilen Widerstand nicht wahrnimmt, spielt der riskanten | |
Entweder-oder-Logik in die Hände. Denn auch das Regime versucht bereits | |
seit Beginn des Aufstands, die Menschen durch brutale Gewalt in die | |
Bewaffnung zu treiben. Ein Bürgerkrieg würde noch dem letzten | |
Militärstrategen einen Einmarsch in Syrien versauern – während gleichzeitig | |
schutzsuchende Minderheiten die Machtbasis der Regierung stabilisieren | |
würden. | |
Die gut ausgebildete syrische Armee kann mit bewaffneten Konflikten | |
umgehen, und Legitimität für brutales Vorgehen gegen schießwütige Rebellen | |
ist billig. Dagegen muss das Militär mit seinen Mitteln und Methoden den | |
Kampf um die Köpfe verlieren: Der Umgang mit unbewaffneten Protesten ist | |
schwieriger und die Reaktion auf die blutig niedergeschlagenen | |
StudentInnenproteste in Aleppo zeigt, welche Solidarisierungsprozesse das | |
auslöst. | |
## Zivile Unterstützung ist gefragt | |
Im letzten Jahr hat das Regime viele Wege versucht – von halbherzigen | |
Reformen über Versuche der ethnischen Spaltung bis zur brutalen Verfolgung | |
– doch gegen den zivilen Aufstand hat es keinen Weg gefunden. | |
Anstatt Handlungsunfähigkeit einerseits und die gefährliche Scheindebatte | |
um eine Militarisierung andererseits als die einzigen Alternativen | |
darzustellen, sollten wir dringend einen dritten Weg der zivilen | |
Unterstützung des zivilen Aufstands einschlagen. Dieser muss eine | |
Aufstockung der UN-Beobachtermission auf mindestens 3.000 Blauhelme | |
beinhalten. | |
Vor allem aber braucht es eine direkte Unterstützung des zivilen | |
Widerstands: Kommunikationsmittel (abhörsichere Mobiltelefone, Empfänger | |
für Satelliteninternet), Wissenstransfer und Trainings in verschiedenen | |
Methoden zivilen Ungehorsams und die medizinische Versorgung von verletzten | |
AktivistInnen werden dringend benötigt. | |
Wie dringend, zeigt sich etwa daran, dass die Union Freier StudentInnen in | |
Syrien nicht einmal die medizinische Behandlung eines zusammengeschlagenen | |
Aktivisten sicherstellen kann – von der Einrichtung eines Büros als | |
Arbeitsplatz ganz zu schweigen. Natürlich kann diese Unterstützung die | |
Angriffe und das Töten durch Militär und Rebellengruppen nicht sofort | |
beenden. Doch die Streiks, Demonstrationen und kreativen Proteste haben | |
einen unschätzbaren Wert, wenn es darum geht, dem Bürgerkrieg und der | |
konfessionellen oder ethnischen Spaltung etwas entgegenzusetzen. | |
Für die kommenden Wochen und Monate haben die StudentInnen zu einem Boykott | |
ihrer Prüfungen aufgerufen, Mitte Juli beginnt der Ramadan, und | |
BeobachterInnen erwarten tägliche Massendemonstrationen. Wir müssen nicht | |
zusehen, wie Syrien in einen Bürgerkrieg rutscht, und militärisch werden | |
wir nicht intervenieren. Es gibt einen dritten Weg – wir müssen ihn nur | |
gehen. | |
17 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Elias Perabo | |
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