| # taz.de -- Serghij Zhadan im Interview: "Fußball ist das Einzige, was uns ein… | |
| > Der ukrainische Schriftsteller Serghij Zhadan über das 90-minütige | |
| > Nationalgefühl seiner Landsleute und seine Hoffnung auf ein Ende des | |
| > Regimes von Janukowitsch. | |
| Bild: "Fußball ist nicht politisch, jedoch leicht für politische Ziele zu ins… | |
| taz: Herr Zhadan, was ist für Sie das Wichtigste an dieser EM? | |
| Serghij Zhadan: Dass tausende Ausländer, die hierher kommen, die Ukraine | |
| für sich entdecken. Wir führen doch immer noch ein Schattendasein Über die | |
| Ukraine wissen die meisten fast nichts. Und wenn doch, dann nur negative | |
| Dinge. | |
| Was macht Si da so sicher? | |
| Ich habe mit vielen ausländischen Fans und Journalisten in der Ukraine | |
| gesprochen. Einerseits sagen sie, wie sehr ihnen das Land gefällt und wie | |
| freundlich die Menschen sind. Anderseits kritisieren sie viel: Hotels, den | |
| Service, die Eisenbahn, Flugzeuge. Das alles sind Dinge, die nichts mit der | |
| Mentalität zu tun haben, sondern mit dem Funktionieren der Ukraine als | |
| Staat. | |
| A propos die Ukraine als Staat: Es wurde und wird ja immer viel davon | |
| geredet, dass es in der Ukraine keine nationale Identität gibt. | |
| Wir suchen immer noch nach unserer Identität. Es gibt mehrere Identitäten. | |
| Die postsowjetische, die neue ukrainische Identität, ein Teil der | |
| Gesellschaft orientiert sich an neoliberalen Werten, andere wieder würden | |
| sich lieber heute als morgen mit Russland vereinigen und die Putin’sche | |
| Variante der Entwicklung wählen. Es gibt verschiedene Positionen, aber auch | |
| manches, was das Land verbindet. Sonst hätte die Ukraine schon längst | |
| aufgehört zu existieren. | |
| Ist der Fußball so ein einigendes Band? | |
| Das ist heutzutage der einzige Faktor, der alle verbindet. Ich habe das | |
| Spiel Ukraine gegen Schweden in Kiew im Station verfolgt. Dort waren | |
| Ukrainer aus allen Regionen des Landes. Sie sprechen verschiedene Sprachen | |
| (Ukrainisch und Russisch), gehen in verschiedene Kirchen und stimmen bei | |
| Wahlen für verschiedenen Kandidaten. Doch das Spiel ihrer | |
| Nationalmannschaft vereint sie alle. Sie singen die Nationalhymne, tragen | |
| alle die gelb-blauen Nationalfarben der Mannschaft und 90 Minuten lang | |
| fühlen sie sich als vereinigtes Ganzes. | |
| Und danach? | |
| Wenn die Fans das Stadion verlassen, verflüchtigen sich diese Einheit und | |
| diese Solidarität wieder. Das ist überhaupt eines der größten Probleme der | |
| heutigen ukrainischen Gesellschaft. Der Mangel an Solidarität. Es fehlt das | |
| Gefühl von Einheit, dass wir ein Land, eine Gesellschaft sind, wir uns | |
| gegenseitig unterstützen und unsere Interessen vertreten müssen. | |
| Der Name der Oppositionsführerin Julia Timoschenko war ja vor der EM fast | |
| täglich in der deutschen Presse. Finden Sie, dass hier ein zu negatives | |
| Bild der Ukraine gezeichnet wurde? | |
| Ja, es wurde viel geschrieben und dabei auch immer Politik und Fußball | |
| miteinander vermischt. Das ist nicht gut. Doch andererseits: Julia | |
| Timoschenko sitzt im Knast. Sie ist eine politische Gefangene. Und da ist | |
| sie nicht die Einzige. Doch es wäre wohl ehrlicher, eindeutiger und | |
| prinzipieller gewesen, wenn die westlichen Politiker nicht erst am Vorabend | |
| der EM begonnen hätten, über einen Boykott zu reden, sondern vor zwei | |
| Jahren, als Janukowitsch Präsident wurde. Sich jetzt darüber aufzuregen, | |
| das ist einfach unredlich. | |
| Gerade die deutschen Politiker haben sich vor der EM vehement für einen | |
| Boykott des Wettbewerbs ausgesprochen. Bei den Vorrundenspielen waren sie | |
| nicht anwesend. Halten Sie das für überzogen? | |
| Vonseiten der Politiker ist das vollkommen richtig. Ich bin für einen | |
| Boykott der ukrainischen Staatsmacht und des ukrainischen Präsidenten. Aber | |
| ich bin gegen eine Boykott der Ukraine. | |
| Warum? | |
| Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin bleibt, dann kann sie es sich | |
| wohl nicht erlauben, sich mit dem Präsidenten der Ukraine zu treffen. Denn | |
| das würde wie ein fauler Kompromiss aussehen. Darin kann ich ihr folgen. | |
| Etwas anderes ist es jedoch, wenn tausende deutsche Fans in die Ukraine | |
| kommen, dieses Land und seine Bewohner kennenlernen, dann gibt es keinen | |
| Grund, sie davon abzuhalten. | |
| Wie politisch ist Fußball? | |
| Fußball als solcher ist nicht politisch, jedoch ganz leicht für politische | |
| Ziele zu instrumentalisieren. So kann die Anwesenheit von Präsident | |
| Janukowitsch im Stadion ihm zusätzliche Unterstützung bringen. Manchmal | |
| passiert aber auch das Umgekehrte. Wenn er jetzt ins Stadion kommt, wird | |
| seine Anwesenheit dort nicht bekannt gegeben. Wäre das anders, würden alle | |
| anfangen zu pfeifen. Das zeugt von einem totalen Bankrott des Systems | |
| Janukowitsch. | |
| Sie sind Schriftsteller. Hat sich seit dem Machtantritt von Janukowitsch | |
| vor zwei Jahen an Ihren Arbeitsbedingungen etwas geändert? | |
| Es wird versucht, die Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken. | |
| Unabhängige Zeitungen und Fernsehsender werden geschlossen. Die Staatsmacht | |
| übt ständig Druck aus. Von einer totalen Zensur kann man jedoch noch nicht | |
| sprechen. Ich als Schriftsteller kann schreiben, was ich will. Ich kann die | |
| Staatsmacht kritisieren und alles sagen, was ich über sie denke. | |
| Und Sie werden gehört? | |
| Etwas anderes ist, dass es nicht so viele Kanäle gibt, um diese | |
| Informationen an die Leser zu bringen. Ich kann nur mit unabhängigen | |
| Internetseiten, Verlagen und Magazinen zusammenarbeiten, weil die Mehrheit | |
| der Medien in der Ukraine Oligarchen gehören. Die sind alle pro | |
| Janukowitsch. | |
| Welche Perspektiven sehen Sie für die Ukraine? | |
| Eine Perspektive haben wir nur bei einem Regierungswechsel. Je länger | |
| Janukowitsch und seine Leute an der Macht bleiben, desto weniger Chancen | |
| gibt es für reale Veränderungen. Doch ich hoffe, dass die Parlamentswahlen | |
| im Oktober den Anfang vom Ende dieses Regimes markieren. | |
| Ist diese Hoffnung nicht etwas naiv? | |
| Ganz und gar nicht. In der Gesellschaft herrscht große Unzufriedenheit. Von | |
| außen ist das so nicht gleich zu erkennen. Wenn irgendwelche | |
| Protestaktionen stattfinden, geht dort kaum jemand hin. Da könnte der | |
| Eindruck entstehen, die Situation sei stabil. Das versucht uns auch die | |
| Staatsmacht weiszumachen, die ständig von wirtschaftlichen Erfolgen redet. | |
| Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. | |
| Wer wird Europameister? | |
| Das ist nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass es interessanten Fußball zu | |
| sehen gibt. | |
| 19 Jun 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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