# taz.de -- Soziologe über Graffiti-Kunst: „Pixação ist ein ästhetischer … | |
> Kurator Zmijewski gibt sich offen – doch bei der Biennale kamen | |
> Aktivisten, die sich nicht an die Spielregeln hielten. Soziologe Sergio | |
> Franco spricht über echte Gefühle. | |
Bild: In Brasilien sollen die Graffitis Schieflagen zeigen – hier bitte brav … | |
BERLIN taz | Die Besucher eines Graffiti-Workshops im Rahmen der Berlin | |
Biennale wurden im Juni Zeugen eines ungewöhnlichen Zwischenfalls: Nachdem | |
einer der brasilianischen Sprüher, der „Pixadores“, die den Workshop leiten | |
sollten, sein Kürzel an das Gemäuer der St.-Elisabeth-Kirche in der | |
Invalidenstraße gesetzt hatte, kam es zu Auseinandersetzungen der Sprüher | |
mit Biennale-Kurator Artur Zmijewski und der herbeigerufenen Polizei. | |
Im Anschluss an den Zwischenfall fand man sich im Stuhlkreis zur Aussprache | |
zusammen. Der Soziologe Sergio Franco, der die Sprüher aus ihrer Heimat | |
nach Berlin begleitet hatte, erklärt, warum es kaum einen besseren | |
„Workshop“ zum Thema „Pixação“, dieser besonders radikalen Form des | |
Graffiti aus São Paulo, hätte geben können. | |
taz: Herr Franco, Künstler und Kurator gehen mit Farbflaschen aufeinander | |
los, am Ende ist der eine blau gesprenkelt, der andere trägt einen gelben | |
Streifen auf dem Anzug: Was sich in der St.-Elisabeth-Kirche abgespielt | |
hat, wirkte wie eine Performance zum Verhältnis von Kunst und Kunstmarkt. | |
Ist das Publikum einer Inszenierung auf den Leim gegangen? | |
Sergio Franco: Es sah tatsächlich so aus, aber ich kann Ihnen versichern, | |
dass nichts davon geplant war. Das war eine echte physische | |
Auseinandersetzung, nur eben mit Farbe statt mit Fäusten. Hier waren echte | |
Gefühle im Spiel. Der Zorn der Kurators über die Respektlosigkeit seiner | |
Gäste. Und der verletzte Stolz des Künstlers. | |
Es ging ja alles sehr schnell. Wie kam es in Ihren Augen zu dem | |
Zwischenfall? | |
In der Kirche waren Holzwände aufgestellt, die bereits im Rahmen von | |
anderen Workshops bemalt worden waren. Die Pixadores sahen keinen Sinn | |
darin, die Werke anderer Künstler zu übermalen. Für sie stellte das Gemäuer | |
darüber die viel interessantere Fläche für ihre Tags dar: ein Freiraum, den | |
es zu besetzen gilt. Zwei von ihnen kletterten sofort hoch und einer von | |
ihnen sprühte sein Kürzel unter Protest der Biennale-Mitarbeiter dorthin. | |
Genau das ist Pixação: Gesprüht wird grundsätzlich da, wo es nicht erlaubt | |
ist, selbst in einer Kirche. Als Biennale-Kurator Artur Zmijewski dann zu | |
einem Eimer griff und einen der Sprüher mit Wasser übergoss, sprach aus ihm | |
der Zorn des Hausherrn, dessen Eigentum beschädigt wurde. Das ist exakt der | |
Zorn, dem die Pixadores auch auf den Straßen von São Paulo begegnen und der | |
sie zusätzlich radikalisiert. | |
Die Polizei wurde gerufen, weil die Pixadores dann weiter das | |
Kirchengemäuer besprühten. Es kam zum Handgemenge mit den Beamten. Warum | |
eskalierte die Situation derart? | |
Die Wände dann weiter zu besprühen, entspricht der Logik des Pixação. Das | |
kann man verurteilen – und es ist ja unstrittig eine Sachbeschädigung. | |
Wissen Sie, Pixação macht man nicht einfach so, zum Zeitvertreib. Pixação | |
ist eine Form von ästhetischem Übergriff überwiegend männlicher | |
Jugendlicher, entstanden in den Vorstädten von São Paulo. Heute findet man | |
die Zeichen der Gangs in vielen brasilianischen Städten. Es sind | |
Revierbehauptungen innerhalb einer Gesellschaft, an deren wachsendem | |
Wohlstand diese jungen Männer nicht teilhaben dürfen. | |
Also eignen sie sich die höchsten Punkte der Stadt symbolisch an. Sie | |
dringen in Hochhäuser ein oder klettern in waghalsigen Aktionen an Fassaden | |
hoch, um ihre Zeichen weithin sichtbar anzubringen. Die Generation ihrer | |
Großväter kam als Wanderarbeiter vom Land und hat die ersten dieser | |
Hochhäuser in den 1920ern und 1930ern mit aufgebaut. Generationen später | |
lebt diese Schicht noch immer in den unwirtlichen Vorstädten. Die | |
Markierungen der Pixadores sind gewissermaßen eine Reaktion auf diesen | |
Umstand.Pixação ist die Stimme derer, die keine Stimme haben. | |
Dann müssten die Pixadores viele Fans in Brasilien haben. Nein, sie sind | |
bei den Menschen verhasst. Die Medien beschimpfen sie, Passanten jagen sie | |
fort und Polizisten knüppeln sie nieder. Weil sie so viele Feinde haben, | |
müssen sie jeden Angriff mit einem Gegenangriff beantworten, um sich vor | |
der eigenen Demoralisierung zu bewahren. Das ist wie im Krieg. Als die | |
Berliner Polizisten ihre Pässe sehen wollten, dachten die Jungs, sie | |
bekämen ihre Papiere nicht wieder – und haben sich zur Wehr gesetzt. Sie | |
sind eben die Willkür der Polizei von São Paulo gewöhnt. Bei so vielen | |
Missverständnissen helfen auch keine Übersetzer. | |
Warum sind die Pixadores nicht beliebter, immerhin schreiben Sie ihnen ja | |
eine Art Robin-Hood-Image zu. | |
Ein Grund für die Ablehnung ist, dass ihre Zeichen für die Mehrheit | |
unverständlich sind. Manchmal formulieren sie soziale Forderungen, doch | |
selbst die sind meistens sehr verschlüsselt. Meistens hinterlassen sie | |
einfach ihre Signaturen, die an Runen erinnern. Für sie sind die Fassaden | |
der Stadt wie eine Tageszeitung, nach dem Motto: Wer, wo und mit wem? Wer | |
nicht dazugehört, steht kopfschüttelnd vor diesen Zeichen. | |
Auch Joanna Warsza, die die Pixadores nach Berlin eingeladen hat, reagierte | |
mit Unverständnis auf die Aktion. Auf der Straße zu malen, sagte sie, sei | |
radikal. Das gleiche Schema in der Galerie abzuspulen, nannte sie eher | |
einfallslos. Machen die Pixadores es sich zu einfach? | |
Ihre Frage spiegelt das große Missverständnis, das hier stattgefunden hat. | |
Die Berlin Biennale forderte unter dem Titel „Forget Fear“ die Einmischung | |
der Kunst in die Politik – ein Kunstverständnis, in das die Pixadores gut | |
passen, weil sie soziale Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Doch zugleich | |
sind sie ein Produkt dieser Ungleichheit. Ihre Radikalität ist nicht | |
konstruiert, sie ist zutiefst originär. Diese Jungs sind unter schwierigen | |
Verhältnissen groß geworden, sie haben nicht viel Bildung genossen, einer | |
von denen, die mit in Berlin waren, ist Semi-Analphabet. Er beherrscht vor | |
allem das Pixação-Alphabet. | |
Das muss man wissen, um zu begreifen, wie weit die Unkontrollierbarkeit der | |
Pixadores geht. Sie ist Teil ihrer Identität. Das haben sie schon auf | |
mehreren Ausstellungen in São Paulo bewiesen, die sie gestürmt haben, um | |
ihre Zeichen im laufenden Betrieb auf die weißen Wände zu sprühen. Insofern | |
war dieser Vorfall fast vorherzusehen, aber offenbar haben die Kuratoren | |
unterschätzt, wen sie sich hier eingeladen hatten. Das Vorgehen der | |
Pixadores kann man simpel nennen, aber so sind sie eben. Sie lassen sich in | |
keinen Käfig sperren. Es ist Ihr Wesen, die Regeln zu brechen. In meinen | |
Augen ein spannender Beitrag zum Thema „Autonomie des Künstlers“. | |
28 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Mathias Becker | |
## TAGS | |
Graffiti | |
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