# taz.de -- Schweden-Camp in Kiew: Nicht mehr als eine kleine Geschichte | |
> Die Truchanow-Insel beherbergte während der EM 6.000 Schweden. Für die | |
> Historie des Ortes aber haben sich die Fans nicht interessiert. | |
Bild: Die Schweden brachten gute Laune mit. Und Bier. | |
KIEW taz | Es ist ein Aufeinandertreffen der Autoritäten. Fünf mit frisch | |
aufgeblasenen Muskeln wohl ausgestattete Riesen stellen sich einem dürren, | |
alten Männlein in den Weg. „Hier wird abgebaut, weg da! Verschwinde! Das | |
ist zu gefährlich“, sagt einer dieser sehr starken Security-Leute und kommt | |
mit schnellen Schritten auf den Alten zu. | |
Der will nicht folgen. Er zeigt auf seinen Orden, mit dem er für seinen Mut | |
als Partisan im Kampf gegen die Deutschen in Zweiten Weltkrieg | |
ausgezeichnet worden ist. Die Riesen schert das zunächst wenig. Dann zeigt | |
der Alte einen Ausweis. „Ich bin der Bürgermeister dieser Insel“, sagt er | |
und zeigt noch einmal auf seinen Orden. | |
Die Riesen erschrecken. Erst jetzt nehmen sie wahr, wer da mitten auf der | |
Truchanow-Insel im Dnjepr vor ihnen steht. Ganz klein scheinen sie jetzt zu | |
sein und entschuldigen sich. Der Alte darf dennoch nicht weitergehen. Ein | |
paar Arbeiter zerlegen gerade das Kantinenzelt des schwedischen Fanlagers, | |
in dem in der ersten Woche des Turniers so viel gesoffen und gelacht worden | |
ist. Die großen Metallträger könnten Passanten treffen. Also doch außenrum. | |
Jewgenij Tomarow schüttelt den Kopf. Vier Wochen lang war er nicht mehr auf | |
seiner Insel, deren Verwaltung er zu Sowjetzeiten angeführt hatte. Heute | |
bezeichnet sich der 85-Jährige immer noch als Bürgermeister der Kiewer | |
Erholungsoase im Dnjepr und zeigt jedem, der ihm in den Weg kommt, seinen | |
Ausweis mit den Insignien der UdSSR. Er geht über sein Gebiet und wundert | |
sich über die Metallzäune, die bei seinem letzten Besuch noch nicht | |
standen, über die Holzböden der Versorgungszelte, die immer noch auf den | |
Wiesen liegen, und versucht, sich zu orientieren. | |
## Gute-Laune-Invasion | |
Es fällt ihm schwer. Die schwedische Gute-Laune-Invasion hat er nicht | |
mitbekommen. Als er davon hört, erschrickt er. 6.000 Schweden waren da. | |
„Die Schweden haben die Insel besetzt?“ Als er hört, dass es Fußballfans | |
waren, die auf der Truchanow-Insel campiert haben, beruhigt er sich und | |
sucht weiter nach dem richtigen Weg. | |
Dabei erzählt er die Geschichte der Insel, die auch seine Geschichte ist. | |
Er ist auf dem Eiland geboren. Da gab es noch ein Dorf auf der Insel. 5.000 | |
Einwohner hat es gehabt, eine Schule und eine Kirche hat es gegeben. „Ein | |
Geschenk des Zaren“, sagt Tomarow. An der Stelle, an der die große | |
Fußgängerbrücke von der Kiewer Altstadt auf der Insel endet, war der Markt. | |
Das Dorf gibt es nicht mehr. Die Deutschen, die Kiew 1941 eingenommen | |
haben, wollten freie Sicht haben auf die der Stadt gegenüber liegende | |
Dnjeprseite und jagten die Siedlung in die Luft. | |
Es gibt zwei Stätten, die daran erinnern. Jewgenij Tomarow hat ihre | |
Einrichtung vor 25 Jahren initiiert. Die eine zeigt im typisch sowjetischen | |
Memorialstil einen nach dem Krieg heimkehrenden Soldaten, der nichts mehr | |
vorfindet als ein zerstörtes Fischerboot. Das andere ist das Grab zweier | |
Inselbewohner. Großmutter und Enkel. Der Achtjährige hatte sich, als die | |
Deutschen kamen, so erzählt es der Veteran, vor seine Oma gestellt. Beide | |
wurden erschossen. | |
## Ein Panzer als Spielzeug | |
Als das schwedische Fußballfanleben die Insel zum Kochen brachte, wurden | |
die Denkmäler nicht weiter beachtet. Das Panzerfahrzeug aus sowjetischen | |
Armeebeständen, das sich Inselgäste ausleihen können, um damit durch die | |
grüne Lunge der Stadt zu brettern, war zwar eines der beliebtesten | |
Spielzeuge für die skandinavischen Fußballtouristen, für die Geschichte des | |
Orts hat sich indessen kaum einer von ihnen interessiert. Ein bisschen | |
Eventtourismus nach Tschernobyl, Bier und WLAN. Die Zettel, die auf dem | |
Zaun kleben, der das schwedische Gebiet vom Rest der Insel abgegrenzt hat | |
und immer noch steht, zeugen von diesem Turnierzeitgeist. | |
Jewgenij Tomarow beachtet die aufgeklebten Zettel nicht. Über die | |
Absperrung wundert er sich zwar zunächst, aber er weiß, wie sich die Zeiten | |
geändert haben. „Vielleicht wollen sie jetzt Eintritt nehmen für den | |
Strand“, vermutet er achselzuckend und sucht nach dem Weg zu seinen | |
Denkmälern. „Da war doch immer ein Baum, und da musste man rechts | |
abbiegen“, überlegt er. | |
Nur einmal im Jahr wird des Krieges auf solche Weise gedacht, wie Tomarow | |
es sich vorstellt. Am 9. Mai, wenn das ganze Land an den Sieg über | |
Deutschland erinnert, dann kommen schon mal 200 Schulkinder zu seinen | |
Denkmälern und singen. Dann trägt Tomarow, der sich als 16-Jähriger den | |
Partisanen anschloss, alle Orden, die ihm verliehen wurden. „1,5 Kilo | |
Orden“, sagt er stolz. An allen anderen Tagen des Jahres ruht die | |
Geschichte. Da trägt er nur den Partisanenorden. „Mit dem darf ich umsonst | |
U-Bahn fahren.“ | |
Am Ende des Rundgangs steht er am Eingang zum „Camp Sweden“. Da prangt das | |
Motto dieser EM: „Gemeinsam Geschichte schreiben“. Nimmt er etwas mit von | |
diesem Sportfest? „Es war ein Tor.“ Das Spiel England gegen die Ukraine hat | |
er im Fernsehen gesehen. Danach war die EM für ihn vorbei. Geschichte. Eine | |
kleine Geschichte. | |
1 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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