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# taz.de -- Der Austragungsort des EM-Finales: Ab in die Seniorendisco
> Handzahme Tiere, riesige Frauen, sowjetischer Badeurlaub und viel
> Gastfreundschaft: Zehn Gründe, warum man Kiew, den Endspielort der
> Fußball-EM, lieben muss.
Bild: Metall, Granit und Bronze: Der Bogen der Völkerfreundschaft.
1. Die Hauptstädter haben wirklich großes Vertrauen zueinander. Das kann
man besonders gut in den meist völlig überfüllten Sammeltaxis
(Marschrutkas) studieren. Wer es schafft, einzusteigen, reicht das Fahrgeld
nach vorne zum Fahrer oder Beifahrer durch. Die Scheine kommen immer am
Ziel an, genauso wie das Restgeld wieder beim Fahrgast. Diese Ehrlichkeit
ist deshalb bemerkenswert, weil die Ukraine zu den korruptesten Ländern
weltweit zählt.
2. Ältere Semester (55 plus) treffen sich in Eigenregie an jedem Wochenende
in der zentral gelegenen U-Bahn-Station Teatralnaja zur Seniorendiskothek.
Das ermöglicht einen regen Austausch. Außerdem ist der Eintritt kostenlos.
Das kommt allen entgegen, weil die Hungerrenten kaum zum Leben, geschweige
denn für teure Freizeitaktivitäten ausreichen. In der Unterführung tanzen
mehr Frauen, die ihe männlichen Altersgenossen um zehn Jahre überleben.
3. Die wechselvolle Geschichte wird hier in all ihren Facetten auf engstem
Raum erfahrbar. Orthodoxe Kirchen stehen neben Denkmälern, die an die Siege
des Revolutionärs Wladimir Iljitsch Lenin sowie der Roten Armee im Großen
Vaterländischen Krieg erinnern. Auch der wilde Kapitalismus hat schon seine
Spuren hinterlassen: Überall wachsen moderne 30-stöckige gläserne Gebäude
aus dem Boden. Wenn ein altes Bauwerk dem urbanen Wildwuchs im Weg steht,
kommt allerdings die Abrissbirne.
4. Kiewer Cafés ermöglichen einzigartige psychodelische Erfahrungen und
schulen das Konzentrationsvermögen unter erschwerten Bedingungen: In jeder
Ecke läuft ein Fernseher – ununterbrochen, jedoch ohne Ton. Leise ist es
dennoch nicht. Ohrenbetäubende Musik verhindert jedes Zwie- oder
Gruppengespräch oder bringt es nach kurzer Zeit zum Erliegen.
5. Der Hydro-Park auf dem linken Ufer des Dnjepr verschafft ein veritables
sowjetisches Lebensgefühl und lässt Kindheitserinnerungen wieder wach
werden. Einzelne Abschnitte des Strandes sind bestimmten Personengruppen –
wie Familien mit Kindern, Veteranen oder Behinderten – vorbehalten. In
Kiosken mit Plastikbestuhlung werden Bier und Schaschlik angeboten. Böse
Zungen behaupten allerdings, dass die scharf gewürzten Spieße aus dem
Fleisch der herrenlosen Straßenhunde sind.
6. In Kiew sind Menschen aus aller Welt gern gesehenen Gäste – und das
nicht nur zu Zeiten der EM. Davon zeugt der gigantische „Bogen der
Völkerfreundschaft“ von drei Kiewer Architekten auf einem Hügel im Zentrum.
Das Ungetüm aus Metall, Granit und Bronze von 1982 schillert am Abend in
allen Fragen des Regenbogens. Doch wer darin eine tiefe Verbundenheit mit
Schwulen und Lesben zu erkennen glaubt, irrt. Homosexuelle tun gut daran,
dies nicht offen zu zeigen. Vielleicht ist der Bogen in dieser Hinsicht
auch ein Symbol der Hoffnung.
7. Die viel kritisierte „Anonymität der Großstadt“ ist ein nahezu
unbekanntes Phänomen. In den chronisch überfüllten Verkehrsmitteln ist
ständig ein unmittelbarer Körperkontakt gegeben, der, so man versucht
spontan auszusteigen, noch an Intensität zunehmen kann. Eine spärliche
Ausschilderung erfordert zudem eine ständige Kommunikation zwischen
Fremdlingen und Ortskundigen. Diese können leider oft auch nicht
weiterhelfen.
8. Die Kiewer Hauptstraße Chrestschatik ist das Schaufenster der Ukraine
mit teilweise wechselnder Dekoration. Die monumentalen Bauten im
Stalin-Stil symbolisieren die Utopie eines Landes, in dem alles möglich
scheint. Diese Utopie hat für die Menschen bis heute nichts von ihrer
Anziehungskraft verloren. Hier steht das Leben nie still. Doch es sind
nicht die Anwohner, die die Flaniermeile tagsüber bevölkern. Es sind
Menschen aus den Plattenbausiedlungen in den Außenbezirken und Ukrainer aus
anderen Landesteilen, die versuchen, ein kleines Stück von dem Glanz zu
erhaschen. Nachts gehört der Chrestschatik den Obdachlosen, der Miliz und
all denen, die ihren Zug oder Bus verpasst haben.
9. Die stählerne und 102 Meter hohe Figur „Mutter Heimat“ (Rodina Mat) mit
Schild und Schwert in der Nähe des Höhlenklosters hat alle(s) fest im
Blick. Das Denkmal inspiriert Frauen dazu, anders zu sein: Nicht total
durchgestylt, verkitscht und dabei unterwürfig, sondern einfach und
kämpferisch.
10. Kiew ist mittlerweile ein Eldorado für Tierliebhaber. Überall stößt man
auf herumstreunende ausgehungerte Hunde und Katzen, die Kontakt zu Menschen
suchen. Das ist oft der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Denn nicht
selten nehmen die Hauptstädter einfach einen Vierbeiner mit zu sich nach
Hause.
1 Jul 2012
## AUTOREN
K. Mishchenko
B. Oertel
## TAGS
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
Tribüne
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liegt an der EM.
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