# taz.de -- Wahlen in Libyen: Auf wackligen Beinen in die Zukunft | |
> Nach 40 Jahren Gaddafi-Diktatur bereiten sich die Libyer auf erste freie | |
> Wahlen vor. Religiöse und säkulare Gruppierungen streben nach der Macht. | |
Bild: Frauen im Wahlkampf: Eine Kandidaten des politischen Arms der Muslimbrüd… | |
TRIPOLIS taz | Einen Moment lang sprachen die Bewohner von Tripolis | |
tatsächlich über etwas anderes als über die bevorstehenden Wahlen zum | |
Parlament: In einem Fußballländerspiel hatte Libyen gegen Saudi-Arabien | |
gewonnen. | |
Jugendliche und Familien zogen feiernd in Autokonvois durch die Straßen. | |
Sie schwangen wie üblich die neuen schwarz-rot-grünen Revolutionsflaggen | |
und hüllten die libysche Hauptstadt in ein ohrenbetäubendes Hupkonzert. | |
Doch entscheidend in der Klangkulisse war, was diesmal fehlte: Kein | |
einziger Freudenschuss war zu hören. | |
Nach 40 Jahren Gaddafi-Diktatur wählen die Libyer am Samstag erstmals | |
landesweit und frei ein vorläufiges Parlament, den Nationalkongress. Die | |
Rebellenmilizen, die noch vor wenigen Wochen das Straßenbild der Hauptstadt | |
bestimmt hatten, wurden in den Tagen vor den Wahlen vor die Stadtgrenzen | |
verbannt. | |
So herrscht dieser Tage in Tripolis eine fast unheimliche Normalität, | |
nachdem noch vor einer Woche eine kleine Bombe vor der tunesischen | |
Botschaft explodierte. Sandsäcke, die zuvor verwendet wurden, um die | |
Straßensperren der Milizen abzusichern, haben eine neue Bestimmung | |
gefunden: Sie beschweren die Ständer von tausenden Wahlplakaten, die jeden | |
freien Platz der Stadt schmücken. | |
## Gaddafi nur noch als Graffiti | |
Gaddafi-Bilder gibt es nur noch als Graffiti, etwa in Form einer fies | |
grinsenden Schmeißfliege oder eines Gaddafi, der verängstigt aus dem | |
Mülleimer der Geschichte blickt. Statt wie früher das Bild des Diktators | |
sind es neun Monate nach dessen Tod nun die Wahlbewerber, die | |
zuversichtlich an jedem Platz der Stadt in Libyens Zukunft blicken. Die | |
meisten preisen sich in kurzen Slogans als Garanten eines patriotischen | |
Neuanfangs. Das Ganze wirkt etwas naiv und chaotisch. | |
„Wir sind gerade einmal aus der Wiege aufgestanden und lernen auf | |
wackeligen Beinen das demokratische Gehen“, beschreibt der Politikexperte | |
Fathi Yussef die Lage. „Die meisten verstehen noch nicht, was der | |
Nationalkongress genau ist. Jeder, der sich für patriotisch hält, hat sich | |
aufstellen lassen“, erklärt er. | |
Viele Libyer sind bis in den letzten Tagen vor der Wahl tatsächlich noch | |
unentschlossen, wem sie ihre Stimme geben. „Ich habe keine Ahnung, wofür | |
die Kandidaten stehen, und jeder spricht so, als hätte er die Kompetenz | |
eines Präsidenten“, lästert ein Taxifahrer. | |
Unter der großen Anzahl von 140 zur Wahl angetretenen Parteien haben sich | |
zwei politische Trends herausgebildet: Auf der einen Seite stehen die | |
liberalen Säkularisten, die sich allerdings in der islamisch-konservativen | |
Gesellschaft kaum als solche bezeichnen. Dazu zählt vor allem die Allianz | |
der Nationalen Kräfte. Sie wird angeführt von Mahmud Dschibril, der im | |
Übergangsrat als Premier gedient hat. | |
Unter Gaddafi wurde Dschibril einst von dessen Sohn Saif al-Islam gefördert | |
und stand dem mächtigen National Economic Development Board vor, bevor er | |
dem Regime später den Rücken zukehrte. Deshalb misstrauen ihm manche | |
Libyer. | |
## Dilemma Religion | |
„Wir stehen für einen demokratischen und zivilen Staat“, erklärt Dschibri… | |
Parteivize Faisal al-Qirakschi im Gespräch mit dieser Zeitung. Allein | |
dieser Satz macht das Dilemma der Liberalen deutlich. Statt sich als | |
säkular zu bezeichnen und offen über die Trennung von Religion und Staat zu | |
sprechen, fordern sie diplomatisch einen „zivilen“ Staat und meinen damit | |
das Gleiche. | |
„Säkular“ gilt in Libyen fast als Schimpfwort, ähnlich wie „Ungläubige… | |
„Aber natürlich sind wir gläubig, wie die Islamisten, aber wir wollen nicht | |
mit der Religion in der Politik spielen“, meint al-Qirakschi dazu. | |
Auf der anderen Seite stellen die Islamisten die größte Konkurrenz der | |
Allianz der Nationalen Kräfte dar. Ähnlich wie in Ägypten gehören dazu | |
allen voran die Muslimbrüder, die als Partei der Gerechtigkeit und des | |
Aufbaus auftreten. | |
Daneben versucht der schillernde Abd al-Hakim Belhadsch mit seiner | |
Watan-Partei das Rennen zu machen. Einst war er Chef einer militanten | |
islamistischen Kampftruppe, die al-Qaida zugerechnet wurde. Er wurde in | |
Großbritannien verhaftet und 2004 den Gaddafi-Behörden überstellt. | |
Belhadsch kommandierte 2011 die Rebellenmiliz in Tripolis bei der Übernahme | |
von Gaddafis Festung Bab al-Asisija. | |
In einem Gespräch mit der taz spricht Belhadsch in leeren | |
Wahlkampfworthülsen. „Wir sind keine ideologische oder islamistische | |
Partei, die einen theokratischen Staat will.“ Aber er wolle dem Land eine | |
„islamische Ausrichtung geben“, meint er, ohne dies weiter zu definieren. | |
## Zufällige Farbgleichheit | |
Belhadsch schreitet über den fliederfarbenen Teppich auf seiner | |
Wahlkampfveranstaltung am Hafen von Tripolis. Seine Partei betreibt den mit | |
Abstand professionellsten und wahrscheinlich auch teuersten Wahlkampf aller | |
libyschen Parteien. Mit zwei großen Leinwänden, Musik und Kameras aus drei | |
Richtungen wirkt das Ganze nach hoch bezahlter PR-Beratung. | |
Böse Zungen behaupten, das Geld dazu komme aus den Golfstaaten. Das | |
fliederfarbene Logo der Partei gleiche nicht zufällig der Farbe der | |
Nationalflagge des Golfemirats Katar. Belhadsch winkt ab. Seine Partei sei | |
von befreundeten libyschen Geschäftsleuten finanziert, die Farbgleichheit | |
reiner Zufall. | |
„Die Islamisten haben die beste Propagandamaschine, und sie werden gut | |
abschneiden“, glaubt Politikexperte Jussuf: „Die meisten Libyer stehen für | |
einen konservativen moderaten Islam. Mit dem Geld aus den Golfstaaten | |
versucht man hier einen extremeren ostarabischen Islam einzuführen, den die | |
Menschen bisher nicht kennen.“ Mögen die islamisch konservativen Werte der | |
Libyer den Islamisten auch eine gute Ausgangslage verschaffen – in vieler | |
Hinsicht werden die Traditionen der libyschen Gesellschaft bei diesen | |
Wahlen herausgefordert. | |
Gemäß dem Wahlgesetz müssen auf den Parteilisten 50 Prozent Frauen | |
aufgestellt werden – in abwechselnder Reihenfolge, auf jeden zweiten | |
Listenplatz eine. Bei den 80 Sitzen, die für die Parteien reserviert sind, | |
werden also sicher 40 Frauen ins Parlament ziehen. Unter den 2.500 | |
parteiunabhängigen Kandidaten, die sich um die verbliebenen 120 Sitze | |
streiten, sind gerade einmal 85 Frauen angetreten. | |
## Frauen in die Politik | |
Aber die weibliche Präsenz auf den Wahlplakaten ist unübersehbar. Eine der | |
Kandidatinnen ist Wafa Taybe Naas. Sie tritt für die Partei der | |
Muslimbrüder an. Es gebe keine Gleichheit von Mann und Frau, dennoch gelte | |
es für die libyschen Frauen viele Rechte zu erkämpfen, sagt sie. | |
Frauen bildeten die Hälfte der Bevölkerung und, noch wichtiger, sie hätten | |
entscheidend beim Aufstand gegen Gaddafi mitgeholfen. „Jetzt geht es darum, | |
ihr Recht auf Arbeit abzusichern und klarzustellen, dass es nicht | |
verwerflich ist, wenn Frauen in der Politik laut mitdiskutieren“, erklärt | |
die Muslimschwester. | |
„Ich bin nicht der Typ, der mit den Männern in eine direkte Konfrontation | |
geht. Aber durch unsere Teilnahme an der Revolution und durch unsere | |
Erfolge haben die Männer begonnen, auf uns zu hören“, erläutert sie. | |
## Ein paar Zurückgebliebene | |
Intisar Beit al-Mal kommt aus der anderen, der liberalen Ecke. Die | |
Elektroingenieurin hat bei ihrer Arbeit gelernt, sich in einer Männerwelt | |
durchzusetzen. Sie tritt als unabhängige Kandidatin an, fordert Gesetze | |
gegen häusliche Gewalt und ein für die Frauen günstigeres Scheidungsrecht. | |
Witwen oder geschiedene Frauen müssten entweder Arbeit finden oder vom | |
Staat versorgt werden, verlangt sie. | |
Offenbar ist nicht jeder hier mit der Teilnahme von Frauen an den Wahlen | |
einverstanden. Die Gesichter einiger Kandidatinnen auf den Wahlplakaten | |
sind mit Farbe beschmiert, manchmal sogar herausgeschnitten. „Das sind ein | |
paar Zurückgebliebene, die die Teilnahme der Frauen an den Wahlen | |
bekämpfen“, lacht Beit al-Mal. „Die ignorieren wir einfach und marschieren | |
weiter auf unserem Weg.“ | |
Aber bei einem ist sich die selbstbewusste Kandidatin des Wahlbezirks | |
Tripolis-Zentrum sicher: „Wenn wir den Menschen im ersten frei gewählten | |
Parlament zeigen, was wir können, dann werden sie beim nächsten Mal noch | |
mehr Frauen die Stimme geben.“ | |
6 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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