# taz.de -- Erste freie Wahlen in Libyen: Eine unmögliche Mission | |
> Lösungen aus dem Nichts zaubern: Bei den ersten freien Wahlen seit 40 | |
> Jahren stehen die Wahlhelfer vor vielen Herausforderungen. Die | |
> EU-Beobachter halten sich zurück. | |
Bild: In Bengasi zerstörten Demonstranten die Zentrale der Wahlkommission. | |
TRIPOLIS taz | Vor dem schlichtem Bürokomplex an der Schnellstraße zum | |
internationalen Flughafen von Tripolis geschehen täglich Wunder. Ohne jede | |
Verkehrsregelung schieben sich an der großen Kreuzung Tausende Autos | |
kollisionsfrei aneinander vorbei durch den Feierabendverkehr. Irgendwie | |
geht es trotzdem voran, keiner weiß eigentlich, wie. | |
„So wie der Straßenverkehr funktioniert auch die Politik in Libyen | |
zurzeit“, seufzt Mohamed, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. „Die | |
Übergangsregierung hat Glück, dass wir in den letzten 40 Jahren gelernt | |
haben, die unmöglichsten Situationen zu ertragen.“ | |
Mohamed, ein 28-jähriger Ingenieur aus Tripolis, arbeitet mit einem Team | |
hektisch an einem Gegenmodell zur Gesetzlosigkeit im Land. Es muss für die | |
unabhängige Wahlkommission Libyens ein weiteres Wunder vollbringen. | |
Der Auftrag lautete, binnen sechs Wochen demokratische Wahlen zu | |
organisieren, in einem Land voller Bewaffneter ohne funktionsfähige | |
Regierung und auf Basis eines völlig neuen Wahlgesetzes. Am kommenden | |
Samstag wird in Libyen ein neues Parlament gewählt. | |
„Eigentlich eine unmögliche Mission bei all den Unklarheiten“, sagt Huda | |
von der Abteilung für Kandidatenregistrierung. „Wie wählen die 7.000 | |
Gefangenen, wo werden die Kandidaten im Süden ihre Werbespots schalten, da | |
müssen wir täglich Lösungen aus dem Nichts zaubern“, beschreibt Huda ihre | |
Arbeit. | |
## Kein Chaos wie in Ägypten | |
„Ich habe mich trotzdem freiwillig gemeldet, denn die Wahlen müssen einfach | |
gelingen – gegen das Chaos. Ich arbeite hier für mein Land.“ | |
Die bisherige Bilanz des Wahlhelfers ist beeindruckend: 3.707 Kandidaten | |
und 142 Parteien wurden zugelassen, auf jedem zweiten Listenplatz der | |
Parteien steht eine Frau. 80 Prozent der Libyer haben sich in 1.500 | |
Wahllokalen registriert, alle Stimmzettel sind gedruckt. | |
Da es in Libyen weder Wahl- noch Melderegister gibt, hat man anhand der | |
Familienbücher und bei Nachbarschaftstreffen eine Wählerliste | |
zusammengestellt. | |
„Ich hätte nicht gedacht, dass alles so glatt läuft, und ich bin schon | |
jetzt stolz darauf. Wir werden nicht wie die Ägypter im Chaos versinken, | |
das ist schon mal die gute Nachricht“, lächelt Mohamed. | |
## Die Wahlbeobachter der EU | |
Der Mann, der das Urteil über den Ablauf der Wahlen fällen wird, hat | |
kurzfristig zur Pressekonferenz gerufen. Alexander Graf von Lambsdorff ist | |
Leiter der EU-Wahlbeobachtermission. Wie alle Vertreter internationaler | |
Organisationen in Libyen möchte er nicht im Rampenlicht stehen, aber muss | |
Gerüchten vorbeugen. | |
Er spielt die Rolle der EU herunter: „Wir sind keine Beratungsmission, wir | |
analysieren nur und geben Tipps für die nächste Wahl.“ | |
Lambsdorff hat gerade einige Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft | |
hinter sich. „Ich möchte vor allem erklären, was wir nicht leisten können�… | |
sagt er. Sein internationales 21-köpfiges Team ist schon in Bengasi im | |
Osten und Sebha im Süden stationiert. | |
## Schwer gesicherte Gebäude | |
„Die Wahlen sind eine reine libysche Angelegenheit, das ist auch gut so“, | |
sagt er. Helfen könnten die Internationalen sowieso kaum, denn ihre | |
Mitarbeiter sind strengen Sicherheitsauflagen unterworfen, sie dürfen sogar | |
in Tripolis nicht aus ihren schwer gesicherten Gebäudekomplexen wie Palm | |
City, einer Art „Green Zone“ wie in Bagdad, nur in Kleinformat. | |
Terrordrohungen von Islamisten und Anschläge auf das Rote Kreuz haben ihre | |
gewünschte Wirkung gezeigt. | |
Ein Foto von dem Team der Wahlkommission ist dem in der Ecke sitzenden | |
UN-Mitarbeiter offensichtlich unangenehm. „Ich möchte nicht, dass der | |
Eindruck entsteht, dass wir Einfluss auf die Organisation nehmen, auch aus | |
Sicherheitsgründen“, sagt der Italiener, der schon bei Wahlen in vielen | |
Ländern geholfen hat. | |
Die Begeisterung von Mohamed und Huda wird nicht im ganzen Land geteilt. In | |
Bengasi im Osten stürmten Demonstranten, unterstützt von Milizionären, die | |
örtliche Zentrale der Wahlkommission. Ihre Forderung: mehr Sitze für die | |
ölreiche Region im neuen Parlament. | |
3 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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