# taz.de -- Debatte Verfassungsrecht: Karlsruhe ist keine Opposition | |
> Das Bundesverfassungsgericht trägt die Europapolitik der Bundesregierung | |
> konstruktiv mit – trotz einer falschen Ausgangsposition. | |
War es ein Affront oder ein Freundschaftsdienst? Das | |
Bundesverfassungsgericht erklärte in dieser Woche, dass es die Klagen gegen | |
den Euro-Rettungsschirm (ESM) und den Fiskalpakt (Schuldenbremsen für alle) | |
[1][in einem erweiterten Eilverfahren prüfen wird]. | |
Erst in zwei bis drei Monaten erfährt der Bundespräsident, ob er die | |
umstrittenen Verträge unterzeichnen darf oder ob er auf ein Urteil in der | |
Hauptsache warten muss. | |
Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Affront. Denn die Bundesregierung | |
will jede Unsicherheit über Deutschlands Beteiligung an der Eurorettung | |
vermeiden. Nicht nur im eigenen außenpolitischen Interesse, sondern auch im | |
Interesse hilfsbedürftiger Euroländer, deren Zinsen in der Zwischenzeit | |
wieder ins Horrende zu wachsen drohen. | |
## Falsche Wahrnehmung | |
Tatsächlich ist die gründlichere Prüfung aus Karlsruher Sicht aber ein | |
freundliches Angebot. Schließlich hätte es bei Haftungsrisiken von bis zu | |
190 Milliarden Euro nahegelegen, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, | |
die den Fortgang der Eurorettung bis zu einem Jahr lang blockiert hätte. | |
Denn wenn ein völkerrechtlicher Vertrag erst einmal vom Bundespräsidenten | |
unterzeichnet wurde, dann ist Deutschland gebunden – selbst wenn das | |
Bundesverfassungsgericht später die Zustimmung zu diesem Vertrag für | |
verfassungswidrig erklärt. | |
Verglichen damit, sind zwei bis drei Monate, in denen das Gericht bereits | |
eine grobe Prüfung der Erfolgsaussichten vornimmt, noch halbwegs | |
erträglich. Und es war letztlich auch die Bundesregierung selbst, die | |
dieses erweiterte Eilverfahren angeregt hatte. Insofern ist Karlsruhe hier | |
eindeutig der Regierung entgegengekommen und nicht in den Rücken gefallen. | |
Dass trotzdem manche Karlsruhe eine Unbotmäßigkeit unterstellen, liegt an | |
einer falschen Wahrnehmung des Gerichts, wie sie von vielen Medien (und in | |
der Folge auch von einigen falsch informierten Politikern) vermittelt wird. | |
Es gibt aber keinen Machtkampf zwischen Karlsruhe und Berlin. Das | |
Bundesverfassungsgericht steht nicht in Opposition zur Europapolitik der | |
Bundesregierung. Die verfassungsrechtliche Prüfung ist nur eine zusätzliche | |
Ebene bei der Entscheidungsfindung, wenn es um wichtige Projekte geht: | |
Zuerst entscheidet der Bundestag, dann der Bundesrat, und am Ende prüft das | |
Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlichen Zweifel. | |
Allerdings ist das Verfassungsgericht meist die letzte Hoffnung von Gegnern | |
der bestehenden Europapolitik. Denn wenn es eine ganz große Koalition gibt, | |
bei der CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne zusammenarbeiten, dann hat allenfalls | |
noch der Gang nach Karlsruhe vage Erfolgsaussichten. Immerhin folgt die | |
Karlsruher Entscheidung einer anderen Rationalität. Hier geht es um | |
Verfassungsgrenzen, die zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz stehen, aber | |
von den Richtern in langjähriger Rechtsprechung entwickelt wurden. | |
Doch hat sich Karlsruhe letztlich stets konstruktiv verhalten und in den | |
vergangenen zwei Jahrzehnten alle größeren politischen EU-Projekte | |
abgesegnet: von der Währungsunion über den Lissabonner Vertrag und die | |
vertiefte EU-Zusammenarbeit bis zum vorläufigen Euro-Rettungsschirm EFSF. | |
## Kein Machtkampf | |
Und wer in der Verhandlung am Dienstag in Karlsruhe gut zugehört hat, | |
konnte heraushören, dass auch die Klagen gegen den ESM-Vertrag und den | |
Fiskalpakt voraussichtlich abgewiesen werden. Das ist nun sicherlich kein | |
Machtkampf, sondern eher eine interessante Arbeitsteilung der | |
Verfassungsorgane. | |
Neben dieser operativen Loyalität hat das Gericht aber strategisch einen | |
extremen Ausgangspunkt gewählt, der stetig für Irritationen und Turbulenzen | |
sorgt. Die Verfassungsrichter gehen nämlich seit ihrem Urteil zum | |
Lissabon-Vertrag 2009 davon aus, dass das Grundgesetz einen Beitritt zu | |
einem europäischen Bundesstaat verbietet und dass die deutsche | |
Eigenstaatlichkeit auch durch eine Verfassungsänderung nicht aufgegeben | |
werden dürfte. | |
Das war und ist eine Unverschämtheit gegenüber allen überzeugten Europäern. | |
Wer sich für die Vereinigten Staaten von Europa einsetzt, wird hier | |
verfassungsrechtlich mit Leuten auf eine Stufe gestellt, die die Demokratie | |
abschaffen und eine Diktatur einführen wollen. | |
## Europa per Volksentscheid | |
Juristisch war dies keineswegs zwingend. Im Gegenteil. Das Grundgesetz gibt | |
der deutschen Politik den Auftrag „zur Verwirklichung eines vereinten | |
Europas“. Eine ausdrückliche Integrationsgrenze ist im Grundgesetz an | |
keiner Stelle enthalten. Sie ist eine Erfindung der Karlsruher Richter, die | |
dafür in der juristischen Fachwelt und der Politik zu Recht viel verbale | |
Prügel eingesteckt haben. | |
Diese verhängnisvolle Karlsruher Rechtsansicht war nun aber leider kein | |
punktueller Ausrutscher, der im Alltagsgeschäft keine Rolle spielt. | |
Vielmehr prägt der vermeintliche Gegensatz „Grundgesetz oder europäischer | |
Bundesstaat“ die öffentliche Debatte. Kläger gegen die Eurorettung sprechen | |
von einem Staatsstreich und vom Ausverkauf des Grundgesetzes. Und die | |
Verfassungsrichter können solche Zerrbilder nicht einmal als | |
„offensichtlich unbegründet“ zurückweisen, weil sie sich sonst selbst | |
infrage stellen würden. | |
Indem Karlsruhe den öffentlichen Diskurs in eine falsche Richtung lenkt, | |
macht das Gericht auch atmosphärisch mehr kaputt, als es durch die | |
Absegnung der konkreten EU-Projekte an Legitimation schafft. | |
Wenn das politische Klima nicht weiter vergiftet werden soll, muss | |
Karlsruhe seine Lissabon-Rechtsprechung aufgeben. Stattdessen sollte es der | |
Politik empfehlen, per Grundgesetzänderung das Verfahren für einen | |
förmlichen Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat zu regeln. | |
Dieses Verfahren könnte – und sollte! – dann durchaus auch eine | |
Volksabstimmung vorsehen. Europa muss wieder – wie eigentlich im | |
Grundgesetz vorgesehen – zu einem legitimen Schritt in der | |
Verfassungsentwicklung werden. Den Weg dahin muss die Politik bestimmen, | |
nicht das Verfassungsgericht. So ist es üblich in der Demokratie. | |
15 Jul 2012 | |
## LINKS | |
[1] /Rettungsschirm-und-Fiskalpakt/!96554/ | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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