# taz.de -- Türkei emanzipiert sich von Europa: Welche Krise? | |
> Lieber Regionalmacht im Nahen Osten als dauerhaft Schmuddelkind Europas | |
> sein: Unbemerkt von vielen wendet sich die boomende Türkei von der EU ab. | |
Bild: 2011 überholte die türkische Wirtschaft mit Wachstumszahlen von fast 10… | |
BERLIN/ISTANBUL taz | Welche Krise? Im Süden und Südosten herrschen | |
Bürgerkrieg und Verwüstung, im Westen wackelt die Wirtschaft, direkt vor | |
der Haustür schlittert gerade ein Nachbarland in die Pleite. Doch die | |
Türkei steckt das glänzend weg: 2011 überholte die Wirtschaft mit | |
Wachstumszahlen von fast 10 Prozent selbst die Chinesen, auch in diesem | |
Jahr geht das Bruttoinlandsprodukt noch um 3 Prozent in die Höhe, 2013 | |
sollen es 4,5 Prozent sein. Diese Jubelzahlen legte am Mittwoch die | |
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) in Berlin vor. | |
Auch viele rückständige Gebiete in Zentral- und Südostanatolien boomen; das | |
fast 15 Millionen Einwohner zählende Istanbul gilt vielen als coolste City | |
Eurasiens, der anatolische Tiger strotzt vor Kraft: Inmitten aller Krisen | |
hat sich die Perspektive der Türkei radikal verändert – unbemerkt von | |
vielen Europäern. Jahrzehntelang galt die EU-Vollmitgliedschaft als eines | |
der wichtigsten Ziele Ankaras. Doch nun rückt die Türkei von Brüssel ab, | |
will lieber Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten als dauerhaft | |
Schmuddelkind Europas sein. | |
Der Beitritt bleibe zwar ein „langfristiges strategisches Ziel“, habe aber | |
„keine sehr hohe Priorität“, sagte unlängst Vizepremier Ali Babacan. Um d… | |
zu dokumentieren, boykottieren die Türken während der | |
EU-Ratspräsidentschaft Zyperns die diplomatischen Beziehungen – Relikt des | |
Streits um das von Ankara kontrollierte Nordzypern. Ein Affront. | |
„Die Kosten wären für beide Seiten hoch, wenn sich die Türkei dem Osten | |
zuwenden würde“, sagt Bahri Yilmaz, Ökonom und Europaexperte von der | |
Istanbuler Sabanci-Universität. Die EU solle dringend die Türken aufnehmen, | |
bevor diese sich enttäuscht abwenden, meint Yilmaz. Der Grund: Der Staat | |
ist gerade dabei, sich vom Schwellenland zum Industriestaat zu mausern. Mit | |
gut 10.000 Euro pro Kopf erwirtschaften die Türken derzeit knapp die Hälfte | |
des EU-Durchschnitts. 2030 dürften es schon 70 Prozent sein, schätzen | |
Wirtschaftswissenschaftler. Dann wäre die Türkei viertgrößte | |
Wirtschaftsnation Europas – noch vor Italien oder Spanien. | |
## Mehr Autos als in Italien gebaut | |
Gar nicht so unwahrscheinlich. Längst werden hier mit 1,2 Millionen | |
jährlich schon mehr Autos als in Italien gebaut. Maschinen, Textilien, | |
Gemüse und Obst „made in Turkey“ sind Exportschlager. In den vergangenen | |
zehn Jahren wuchs das BIP im Schnitt um gut 4 Prozent. Gleichzeitig | |
schnellt die Bevölkerungszahl in die Höhe: Derzeit sind es rund 74 | |
Millionen, im Jahr 2025 sollen es nach dem Geschmack des konservativen | |
Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan 90 Millionen sein. Ein riesiger | |
Markt. | |
„Eigentlich hindert uns ökonomisch nur noch die Inflation, sonst würden wir | |
alle Eurokriterien erfüllen“, sagt Yilmaz. Er hält die Türkei längst für | |
europafit. Trotz der engen Verflechtungen hat das Schwächeln nahezu aller | |
Ökonomien des Alten Kontinents bislang kaum Schrammen in den türkischen | |
Bilanzen hinterlassen – zu stark ist der binnenorientierte, vom Konsum | |
getriebene Aufschwung. | |
Probleme gibt es: hohes Leistungsbilanzdefizit, die Abhängigkeit von | |
Energieimporten, einen großen informellen Sektor und die schlechte | |
Ausbildung breiter Schichten. Für Yilmaz ist der Beitritt zu der | |
schwächelnden Gemeinschaft – seit 2005 wird verhandelt – dennoch | |
folgerichtig: „Die EU sollte die Mitgliedschaft nicht nur versprechen, | |
sondern auch durchziehen“, warnt der Ökonom. | |
Lange galt die Türkei vor allem vielen Konservativen in Berlin oder Brüssel | |
als zu groß, zu fremd, zu arm und zu muslimisch. Ob die Türkei eher die EU | |
braucht oder umgekehrt – das ist heute längst nicht mehr ausgemacht: | |
„Momentan ist der EU-Beitritt kein Thema für uns“, sagt der türkische | |
Siemens-Chef Hüseyin Gelis, mit 6.500 Mitarbeitern einer der wichtigsten | |
Wirtschaftsbosse im Land. | |
## Role Model für Muslime überall | |
Arabellion und Eurokrise – Gelis glaubt, die Türkei solle angesichts der | |
derzeitigen Instabilität mehrere Optionen haben: „Don’t put all your eggs | |
in one basket“, warnt Gelis: Packe nicht alle Eier in einen Korb. Für viele | |
Muslime in den ärmeren Ländern im Süden und Osten ist die Türkei längst | |
Role Model in Sachen Wohlstand und Demokratie. Der Handel mit den Staaten | |
des Ostens, Mittelasiens und Nordafrikas wächst: Der Irak dürfte | |
Deutschland als Exportland Nummer 1 bald überflügeln. | |
Ja, es gibt immer noch Defizite bei Menschenrechten, Frauenrechten, | |
Minderheitenrechten, die die Türkei wenig beitrittswürdig erscheinen | |
lassen. Aber alte Malaisen wie ein labiler Bankensektor, Protektionismus | |
und Staatsverschuldung sind seit der großen Krise 2001 geheilt: Ankara ging | |
damals Reformen an, die die Auswirkungen der Agenda 2010 in Deutschland | |
locker toppen. „Die Eigenkapitalvorschriften der türkischen Banken sind | |
heute strenger als die in Europa“, sagt Marcus Slevogt vom | |
Unternehmerverband Tüsiad. | |
Irgendwie, scheint es, sind die Türken den unflexiblen Alten Kontinent | |
satt: Wollten 2004 noch 7 von 10 in die EU, sind es jetzt nur noch 38 | |
Prozent. Siemens-Chef Gelis sagt es wenig diplomatisch: „Die EU muss sich | |
erst mal umstrukturieren.“ | |
25 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Kai Schöneberg | |
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Präsidentschaftswahl | |
Schwerpunkt Syrien | |
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