# taz.de -- Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Ab in die Urne! | |
> Das Bundesverfassungsgericht setzt Maßstäbe für die nächsten | |
> Bundestagswahlen und stärkt die Demokratie: Überhangmandate müssen | |
> künftig begrenzt werden. | |
Bild: Komplizierte Rechnung: Wie viele Sitze es im Bundestag gibt, hängt von d… | |
KARLSRUHE taz | Das Bundesverfassungsgericht fordert eine Begrenzung der | |
Überhangmandate bei Bundestagswahlen. Nur noch „etwa 15“ derartige Mandate | |
sollen künftig ohne Ausgleich zulässig sein, entschied der Zweite Senat des | |
Gerichts unter Präsident Andreas Voßkuhle. | |
Das Gericht beanstandete auch zwei weitere Bestimmungen des neuen | |
Wahlrechts, das im November 2011 mit schwarz-gelber Mehrheit beschlossen | |
wurde. Erfolg hatten damit Klagen von SPD, Grünen und Wahlrechtsexperten. | |
Bei Bundestagswahlen haben die Wähler eine Erststimme, mit der sie das | |
Direktmandat in ihrem Wahlkreis vergeben und eine – wichtigere – | |
Zweitstimme, die über die Zahl der Mandate für eine Partei bestimmt. Wenn | |
eine Partei mehr Direktmandate holt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis | |
zustehen, spricht man von Überhangmandaten. | |
Diese kann die Partei behalten. Sie werden bisher auch nicht ausgeglichen | |
und können so das Wahlergebnis verzerren. Zuletzt profitierte allein die | |
Union von Überhangmandaten, früher nützten sie aber auch schon der SPD | |
(siehe Grafik). | |
## Überhangmandate im Prinzip gerechtfertigt | |
Wegen der verzerrenden Wirkung musste sich Karlsruhe schon öfters mit den | |
Überhangmandaten beschäftigen. Bisher hat es sie noch nie beanstandet. Auch | |
dieses Mal fordert Karlsruhe keine völlige Neutralisierung der | |
Überhangmandate, denn diese seien im Prinzip wegen der Persönlichkeitswahl | |
im Wahlkreis gerechtfertigt. Wenn es allerdings zu viele werden, dann könne | |
dies den Charakter der Wahl als „Verhältniswahl“ gefährden. Dann müssten | |
sie ausgeglichen oder verrechnet werden, sonst wäre die „Gleichheit der | |
Wahl“ verletzt, so die Richter. | |
In einem Urteil von 1997 hatte das Bundesverfassungsgericht eine mögliche | |
Grenze bei 30 Überhangmandaten nahegelegt – was aber noch nie erreicht | |
wurde. Jetzt halbierten die Richter die Richtgröße und räumten ein, dass | |
dies eine eher willkürlich gezogene Grenze ist. Anders als 1997 erging das | |
Urteil diesmal aber einstimmig. Ein offensichtlicher Kompromiss. | |
Dazu gehörte wohl auch, dass die bisherige Rechtsprechung nicht kritisiert | |
wurde. Dem Gesetzgeber wurde ebenfalls an diesem Punkt kein Vorwurf | |
gemacht. Es gab bisher also keine Pflicht, die Überhangmandate auf 15 zu | |
begrenzen oder auszugleichen. | |
Allerdings habe sich im Lauf der Jahre gezeigt, dass die Zahl der | |
Überhangmandate im Fünf- oder Sechsparteiensystem immer mehr zunehme. | |
Deshalb habe der Gesetzgeber „nunmehr eine Handlungspflicht“. | |
## Zeitdruck wegen kommender Bundestagswahl | |
Jetzt allerdings muss es schnell gehen. Das Verfassungsgericht setzte dem | |
Bundestag zwar keine Frist. Aber im September 2013 sind die nächsten | |
Bundestagswahlen, und spätestens dann muss klar sein, wie die Wählerstimmen | |
in Mandate umgerechnet werden. | |
Das Gericht erließ keine Übergangsregelung und machte dem Bundestag auch | |
kaum Vorgaben. Angesichts der vielen Möglichkeiten sei es „primär Aufgabe | |
der Politik, hier tätig zu werden“, sagte Voßkuhle. | |
Eine übergangsweise Anwendung der bisherigen Gesetze lehnte Karlsruhe ab. | |
„Angesichts der Vorgeschichte sieht der Senat keine Möglichkeit, den | |
verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren“, | |
erklärte Voßkuhle. Tatsächlich hatte das Gericht bereits im Juli 2008 das | |
Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt und für die Neuregelung eine | |
Frist bis Juni 2011 gesetzt, die der Bundestag dann um fünf Monate | |
überschritt. | |
## Schluss mit „negativen Stimmgewichten“ | |
2008 ging es um das sogenannte „negative Stimmgewicht“. Gemeint ist, dass | |
ein Wähler der Partei, die er wählt, nicht nützt, sondern schadet. So etwas | |
konnte bei der Verrechnung von Stimmen zwischen Ländern vorkommen. Deshalb | |
hat Schwarz-Gelb in der Neuregelung diese Verrechnung abgeschafft. | |
Allerdings entstanden bei der Neuregelung neue Möglichkeiten für „negative | |
Stimmgewichte“, weshalb jetzt auch diese für verfassungswidrig erklärt | |
wurde. Jedes Bundesland sollte nämlich ein Stimmenkontingent entsprechend | |
seiner Wahlbeteiligung bekommen. | |
Dies hätte dazu führen können, dass die Stimmabgabe für die Partei A dem | |
jeweiligen Bundesland ein zusätzliches Mandat verschafft, das dann aber | |
nicht die Partei A bekommt, sondern die gegnerische Partei B, weil ihr das | |
nächste zu verteilende Mandat zusteht. | |
Karlsruhe schlug deshalb vor, die Zahl der Mandate pro Bundesland nicht | |
mehr an der Wahlbeteiligung, sondern an der (festen) Zahl der | |
Wahlberechtigten oder Einwohner eines Landes zu bemessen. Dann könne es | |
keine „negativen Stimmgewichte“ mehr geben. | |
Beanstandet wurde – drittens –die Reststimmenverwertung, die der FDP die | |
Zustimmung zum Wahlrecht mit getrennten Wahlgebieten erleichtern sollte. | |
Rundungsverluste in einzelnen Ländern sollten zu zusätzlichen Mandaten auf | |
Bundesebene führen und so der Wahl kleiner Parteien in kleinen Ländern mehr | |
Sinn geben. Karlsruhe hält die konkrete Regelung aber für eine Verzerrung | |
des Wahlergebnisses, weil dabei keine Rundungsgewinne berücksichtigt | |
wurden. (Az. 2 BvF 3/11 u.a.) | |
25 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
## TAGS | |
Wahlrecht | |
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