# taz.de -- Wahlrecht vor dem Verfassungsgericht: Nicht länger willkürlich | |
> SPD und Grüne finden wenig Gutes am neuen Wahlrecht der schwarz-gelben | |
> Regierung. Nun klärt das Verfassungsgericht, ob die Neuregelung | |
> rechtmäßig ist. | |
Bild: „Großes Bedauern“: Verfassungsrichter Voßkuhle eröffnet die Verhan… | |
BERLIN taz | Der Grüne Volker Beck probierte es mit dramatischen Worten: | |
„Geben Sie dem Volk das Recht zur Bestimmung seiner politischen Geschicke | |
im Rahmen des Wahlrechts zurück“, appellierte er am Dienstag an die Richter | |
des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht verhandelte über die Klage von | |
SPD, Grünen und rund 3.000 Bürgern gegen das geltende Bundestagswahlrecht. | |
Thomas Oppermann, der SPD-Fraktionsgeschäftsführer, schoss sich vor allem | |
auf die Überhangmandate ein. Diese entstehen, wenn eine Partei mehr direkt | |
gewählte Abgeordnete erhält, als ihr nach den Zweitstimmen zustehen. Bei | |
der letzten Wahl 2009 gab es 24 Überhangmandate, alle fielen diesmal an die | |
CDU/CSU. „Das entspricht 4 Prozent aller Sitze im Bundestag oder 1,6 | |
Millionen Wählerstimmen“, rechnete Oppermann vor. Durch die Überhangmandate | |
werde der Erfolgswert der Wählerstimmen verzerrt. | |
Zwar hatte Schwarz-Gelb auch ohne die Überhangmandate eine Mehrheit im | |
Bundestag. Aber das könne schon bei der nächsten Wahl anders aussehen, | |
warnte Oppermann. Es werde eine „Staatskrise“ geben, wenn sich dadurch | |
Mehrheit und Opposition vertauschen würden. | |
Bisher sind Klagen gegen die Überhangmandate immer gescheitert. Zuletzt | |
lehnte Karlsruhe 1997 eine entsprechende Klage aber denkbar knapp, mit vier | |
zu vier Richterstimmen, ab. Das Ergebnis kann diesmal also anders | |
ausfallen, zumal die Zahl der Überhangmandate im Fünf- oder | |
Sechsparteiensystem immer weiter zunimmt. | |
Doch auch diesmal war die Stimmung auf der Richterbank geteilt: Manche | |
Richter sehen in den Überhangmandaten keine Verzerrung des Wahlergebnisses. | |
Diese seien vielmehr eine logische Folge davon, dass das Bundeswahlrecht | |
auch Elemente der Mehrheitswahl enthält – weil in jedem Wahlkreis mit der | |
Erststimme ein bestimmter Abgeordneter gewählt wird. | |
Falls Karlsruhe das Wahlrecht beanstandet, müsste es für die nächsten | |
Wahlen, die schon im Herbst 2013 anstehen, wohl gleich ein | |
Übergangswahlrecht vorgeben. Das dürfte aber die Lust der Richter, das | |
Wahlrecht zu kippen, nicht erhöhen. Denn dann müssten sie sich erst einmal | |
selbst auf ein neues System einigen. | |
## Was tun, mit den Überhangmandaten? | |
Gegen den Vorschlag der SPD, die die Überhangmandate ausgleichen will, | |
spricht, dass dies den Bundestag stark aufblähen könnte – von regulär 598 | |
Abgeordneten auf bis zu rund 900 Abgeordnete, warnte CDU-Fraktionsvize | |
Günter Krings. Auch der Vorschlag der Grünen, die die Überhangmandate in | |
anderen Bundesländern ausgleichen wollen, birgt Probleme. „Dann würden zum | |
Beispiel der CDU in Bremen alle Abgeordneten weggenommen, obwohl sie doch | |
zweitstärkste Partei ist“, unkte Krings. | |
2008 waren die Richter noch mutig. Damals beanstandeten sie ein bis dahin | |
fast unbekanntes Wahlproblem, das „negative Stimmgewicht“. Es bedeutet, | |
dass jemand durch die Stimmabgabe für seine Partei dieser sogar schadet. | |
Ursache ist das Zusammenspiel von Überhangmandaten und Verbindung der | |
Landeslisten. | |
Nach langen Verhandlungen haben CDU/CSU und FDP den Fehler letztes Jahr | |
beseitigt und ein neues Wahlrecht beschlossen. Anders als von der | |
Opposition erhofft, verzichtete Schwarz-Gelb aber nicht auf die | |
Überhangmandate, sondern auf die Listenverbindung. „Wir haben den Auftrag | |
des Gerichts erfüllt“, betonte CDU-Mann Krings. Nach Berechnungen von | |
Wahlforschern entstanden dabei aber neue negative Stimmgewichte an anderer | |
Stelle. Auch das machen die Kläger nun geltend. Entscheidend aber ist, wie | |
sich das Gericht zu den Überhangmandaten positioniert. Das Urteil soll | |
schon in den kommenden Wochen verkündet werden. | |
5 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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Bremen | |
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