# taz.de -- Bürgerkrieg spaltet Syrien: Gefährlicher Kontrollverlust | |
> Präsident Assad verliert die Kontrolle über das Land. Das macht sein | |
> Regime umso unberechenbarer. Es betreibt die Spaltung der Bevölkerung. | |
Bild: Auf der Flucht: Der Krieg in Syrien hat das Leben der Menschen und das La… | |
BERLIN taz | Die Spirale der Gewalt dreht sich immer schneller; in fast | |
allen Provinzen Syriens wird erbittert gekämpft. Vorort um Vorort, Straße | |
um Straße. Im August spitzte sich die Lage noch einmal dramatisch zu: 4.000 | |
Tote hat die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London | |
allein in diesem Monat gezählt. | |
Aus dem Aufstand, der im Frühjahr 2011 als friedlicher Protest gegen | |
Willkür und Unterdrückung begann, ist ein Bürgerkrieg geworden. | |
Jede neue Eskalation der Gewalt wirft die Frage auf: Wie lange zieht sich | |
dieser Konflikt noch hin? Als der Aufstand Mitte Juli auch die Großstädte | |
Damaskus und Aleppo erfasste, sprachen viele Beobachter davon, dass jetzt | |
die Entscheidungsschlacht begonnen habe. Sie haben sich getäuscht. | |
Das Assad-Regime ist längst nicht am Ende, meint Joshua Landis, Direktor | |
des Zentrums für Nahost-Studien an der Universität Oklahoma und Betreiber | |
des vielbeachteten Blogs Syria Comment: „Zwar können die Rebellen die Armee | |
aus bestimmten Vierteln zurückschlagen, doch ich sehe nicht, wie sie sie | |
besiegen können.“ | |
Der syrische Sicherheitsapparat hat sich als erstaunlich widerstandsfähig | |
erwiesen. Noch immer gibt es keine Anzeichen für eine Spaltung des | |
Militärs. Allerdings gelingt es den Streitkräften auch nicht mehr, in allen | |
Regionen die Autorität des Staates zu sichern. Weite Teile Nordsyriens sind | |
inzwischen in der Hand der Freien Armee Syriens (FSA). „Das Regime verliert | |
die Kontrolle“, stellt Landis fest. „Es kann zerstören, aber es kann die | |
Ordnung nicht wiederherstellen.“ | |
Mit den Kämpfen breitet sich Chaos über das Land aus; zugleich lädt sich | |
der Konflikt mit religiösen Spannungen auf. Die Gründe dafür sind in den | |
Strukturen des Regimes angelegt: Der alawitische Assad-Clan hat zu seinem | |
Schutz einen gewaltigen Sicherheitsapparat errichtet und die Führungsebenen | |
ebenfalls vorrangig mit Alawiten besetzt. Die Opposition dagegen ist | |
überwiegend sunnitisch. Angesichts der ständig zunehmenden Regierungsgewalt | |
zeichnet sich auch eine Radikalisierung der Rebellen ab und islamistische | |
Strömungen gewinnen an Einfluss. | |
Außerdem mehren sich die Berichte, dass das Regime Gewehre in den | |
christlichen und drusischen Siedlungen von Damaskus und Aleppo verteilen | |
lässt. Nour, eine christliche Aktivistin in Dscharamana, einem Vorort von | |
Damaskus, sagt dazu: „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich | |
Angst. Die Leute haben vergessen, warum wir überhaupt auf die Straße | |
gegangen sind. Wenn man die Rebellen jetzt fragt, warum sie kämpfen, dann | |
sagen sie: Dschihad. Sie reden offen davon, Alawiten töten zu wollen. | |
Vielleicht sind wir Christen als Nächstes dran.“ | |
## Das Regime hat sich verändert | |
Doch auch das Regime ist nicht mehr dasselbe wie zu Beginn des Konflikts, | |
sagt ein führender Syrienexperte. Er recherchiert noch immer vor Ort und | |
will zu seinem Schutz anonym bleiben. Seiner Einschätzung nach ist die | |
Führung in Damaskus dabei, sich in eine mächtige und extrem gut bewaffnete | |
Miliz zu verwandeln: „Der Staatskörper verfällt bereits seit mehr als einem | |
Jahr, und der Sicherheitsapparat tritt zunehmend an die Stelle von dem, was | |
von den politischen Strukturen übrig geblieben ist.“ | |
Voraussichtlich werde die FSA als Nächstes versuchen, ins Hinterland der | |
Regime-Hochburgen im Landesinneren vorzustoßen, wo sich die alawitische | |
Gemeinde konzentriert. Diese Gegenden erstrecken sich in der ländlichen | |
Region Westsyriens nahe der Küste. Inzwischen sind auch Kriegsverbrechen | |
der FSA belegt, vor allem Entführungen und Hinrichtungen. „Demnächst | |
dürften wir Massaker an Alawiten sehen“, sagt der Experte. „Das wird die | |
Dynamik und Wahrnehmung des Konflikts erheblich verändern.“ | |
Dass der gesellschaftliche Umbruch mit anschließendem Aufbau eines neuen, | |
demokratischen Syrien gelingen kann, ist unter diesen Vorzeichen kaum noch | |
vorstellbar. „In dieser Revolution ging es zunächst um Menschen, die es | |
satt hatten, sich vom Geheimdienst schikanieren zu lassen“, sagt Ahmed, ein | |
syrischer Aktivist in Jordanien. „Jetzt ist nicht mehr die Frage, ob Syrien | |
auf einen Bürgerkrieg zusteuert, sondern nur noch, wie schlimm es kommen | |
wird.“ | |
Doch es gibt auch ermutigende Anzeichen: In den Regionen, aus denen die | |
Armee abgerückt ist, regieren sich die Menschen zum Teil seit vielen | |
Monaten selbst. Neue, zivilgesellschaftliche Strukturen sind entstanden, | |
Gemeindeverwaltungen, Revolutionsräte, eigene Gerichte. | |
Dennoch greift die Gewalt immer stärker um sich. Alle diplomatischen | |
Versuche, die Krise zu lösen, sind gescheitert. Zugleich hat sich der | |
innere Kreis der Macht in Damaskus seit Beginn des Aufstands drastisch | |
verengt. Der Führungszirkel beschränkt sich inzwischen auf Angehörige des | |
Assad-Clans und einige wenige Vertraute. Damit fehlen innerhalb des Regimes | |
einflussreiche Figuren, die einen Putsch anführen oder Assad zum | |
Machtverzicht zwingen könnten. | |
## Keine Kompromisse mehr | |
„Die Zeit für Kompromisse ist vorbei“, sagt Asher Berman, politischer | |
Analyst am Institute for the Study of War (IWS). „Selbst wenn Präsident | |
Assad morgen getötet werden sollte: Der Kampf würde weitergehen.“ Der | |
unabhängige Thinktank konnte dokumentieren, dass sich die FSA-Kämpfer noch | |
Mitte Mai in einem Radius von 7 bis 10 Kilometern von ihren Wohnorten | |
bewegten. Inzwischen sind es 45 bis 50 Kilometer. „Ihr Horizont wächst, | |
auch die Koordinierung zwischen den vielen Gruppen wird immer besser“, sagt | |
Berman. „Das Regime dagegen wird schwächer. Reguläre Militäreinheiten | |
spielen eine immer geringere Rolle. Stattdessen stützt es sich mehr und | |
mehr auf alawitische Milizionäre.“ | |
Als vorläufige Bilanz lässt sich also festhalten: Beide Seiten nähern sich | |
aneinander an. Ein großer Unterschied bleibt allerdings: Die syrische Armee | |
verfügt über Panzer, Kampfhubschrauber und Jadgflieger, denen die FSA wenig | |
entgegenzusetzen hat. | |
Auf eine Flugverbotszone wie in Libyen können die syrischen Rebellen nicht | |
zählen: Eine militärische Intervention kommt für die internationale | |
Gemeinschaft zumal vor den US-Wahlen im November nach wie vor nicht | |
infrage. Das könnte sich allerdings ändern, sofern Assad Chemiewaffen gegen | |
die eigene Bevölkerung einsetzt. Allerdings ist fraglich, ob Assad so weit | |
wirklich gehen würde. | |
Derzeit bleibt unklar, welche Strategie das Regime verfolgt. Viele | |
Syrienkenner sind mittlerweile überzeugt, dass Damaskus gezielt daran | |
arbeitet, die territoriale Einheit des Landes aufzubrechen. Es ist nicht | |
mehr in der Lage, das ganze Land zu beherrschen. Ihr Ziel: Ein Staat für | |
die Alawiten entlang der Küste. | |
„Das ist tatsächlich eine Möglichkeit“, sagt David Schenker vom | |
Washington-Institut für Nahoststudien. Als Hinweise wertet er die Massaker | |
in den vergangenen Monaten, die sich vor allem dort ereignen, wo | |
sunnitische Dörfer an alawitisch dominierte Regionen grenzen. Es handele | |
sich um einen gezielten Versuch, die Sunniten zu vertreiben, so glaubt | |
Schenker. „Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungen fortsetzen und das | |
soziale Gewebe Syriens weiter Schaden nimmt, denke ich nicht, dass der | |
Zerfall des Landes zu verhindern sein wird.“ | |
1 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Gabriela M. Keller | |
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