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# taz.de -- Debatte Äthiopien nach Zenawi: Kafka kam bis Addis Abeba
> Nach dem Tod von Staatschef Meles Zenawi ist Kontinuität angesagt. Das
> Vorbild heißt China: Entwicklung ohne westliche Demokratie.
Bild: Trauer um den verstorbenen Premier Meles Zenawi.
Nach dem überraschenden Tod des äthiopischen Premierministers Meles Zenawi
sind die Erwartungen ebenso groß wie die Befürchtungen. Die vor wenigen
Tagen erfolgte Wahl des weitgehend unbekannten jungen Hailemariam Desalegn
zum Nachfolger hat die Spannung eher noch erhöht. Bestehen neue Chancen für
eine Demokratisierung? Oder droht mittelfristig das Auseinanderbrechen des
Vielvölkerstaates?
Die einen sehen die Probleme des Landes darin, dass es von einer kleinen,
geschlossenen Machtelite kontrolliert wird – seit über zwanzig Jahren
herrscht die aus Rebellengruppen hervorgegangene Parteienkoalition EPRDF.
Andere halten es einfach für einen pragmatischen und vergleichsweise
aufgeklärten Partner des Westens. So ist es Stützpunkt für den Einsatz
amerikanischer Drohnen gegen islamistische Terroristen (oder was die USA
dafür halten).
Äthiopien ist jedoch komplexer, als man meist denkt. Während es offiziell
ein Verbündeter ist, geht es eigene Wege. Und obwohl es zu Recht für
Repression getadelt wird, findet im Innern dennoch eine langsame Reform und
Öffnung statt. Es gibt gleichzeitig, je nach Region und Umständen, die
Erstickung jeglicher Opposition und die Förderung vielversprechender
Entwicklungs- und Reformideen.
## Kriege und Hungersnöte
Im öffentlichen Bewusstsein ist Äthiopien weiterhin mit kriegerischen
Konflikten und Hungersnöten verbunden. Nach wie vor bittet die Regierung
die internationale Gemeinschaft immer wieder um Hilfe. Andererseits gibt es
Erfolgsgeschichten: Ein nie da gewesenes rasantes Wirtschaftswachstum,
gefördert durch Kleinstkredite auf dem Land und internationale
Großinvestitionen, hat das Land verändert.
Ein kurzer Blick auf einige oft übersehene, aber fest etablierte Strukturen
im Staat ist notwendig, um die kommenden Entwicklungen besser einschätzen
zu können. Die äthiopischen Staatsstrukturen sind trotz einer gewissen
inneren Unsicherheit fest etabliert. Wer in äthiopischen Institutionen
arbeitet, erlebt oft eine Staatsbürokratie mit kafkaesk-byzantinischen
Zügen, die manchmal aber auch überaus effizient und rational arbeitet.
Diese Bürokratie ist zudem von Elementen der Anarchie, willkürlicher
Selbstherrschaft und einem verbreiteten Drang nach egalitären
Teilhaberechten geprägt – all dies vermischt mit äußeren Respektbezeigungen
für Hierarchie. Jede gute Idee kann in einer endlosen, formal korrekten,
inhaltlich aber sinnentleerten Verwaltungsprozedur verenden oder auch durch
(geschickt in persönliche Beziehungen eingebundene) Eigeninitiative schnell
zu Erfolgen führen.
## Dorf und Demokratie
Neben der Bürokratie eines undurchsichtigen Staatsapparats steht die aus
den alten Volkstraditionen stammende „Dorfdemokratie“: Nicht selten werden
im Dorf, einer Universität oder Parteigruppierung in endlosen Versammlungen
mit größtem Engagement und ungeachtet jeder Zuständigkeit oder
Sachkompetenz die kleinsten Entscheidungen besprochen, auch von Teilnehmern
ohne jegliches Amt. Damit wird der Zusammenhalt der Gemeinschaft gewahrt.
Ein geübter Politiker behält dabei die Fäden in der Hand, indem er zentrale
Themen auswählt, die die Versammlung (oder wahlweise: die gesamte
äthiopische Öffentlichkeit) zu beschäftigen haben, während andere
Entscheidungen in größter Geheimhaltung hinter verschlossenen Türen
durchgeboxt werden. So wurde die Nachfolge von Meles Zenawi geregelt, wobei
mit Hailemariam ein vorsichtig liberaler Reformer „einstimmig“ gewählt
wurde. Auch die Geheimhaltung von Meles’ Sterben steht für dieses System.
Ein Teil der Kritik an Äthiopien machte sich in der Vergangenheit etwas
kurzsichtig nur an Meles selbst fest. Eigentliches Problem waren aber diese
Staatsstrukturen, die er weder geschaffen hatte noch radikal veränderte,
aber zu nutzen und zu manipulieren verstand. Weder die nun geäußerten
Hoffnung auf einen radikalen Wandel noch die Befürchtung eines solchen
erscheint daher besonders berechtigt. Jede der kommenden Regierungen wird
weiter mit diesem Apparat arbeiten.
Es ist wahr: Meles hatte es mit großer Geschicklichkeit und in Kenntnis
aller Beziehungsnetzwerke geschafft, die staatlichen Institutionen stark
mit seiner Person zu verbinden. Doch er war Moderator und Navigator, der
die vorhandenen Wellen und Strömungen nutzte. Er führte den Krieg mit
Eritrea, als Friedenspolitik ihn politisch umgebracht hätte – und er
beendete ihn, als er die Hardliner in seiner Führung gefahrlos beseitigen
konnte. Dadurch schuf er ein System der Machtbalance zwischen verschiedenen
Gruppen, nutzte dieses aber auch zum allmählichen Ausbau staatlicher
Institutionen. Auch wenn sein Nachfolger nur ein Kompromisskandidat ist,
wird er sich auf ebendiese Institutionalisierung stützen können.
## Offener Dissens verboten
Meles’ Partei und Bündnispartner haben das alte bürokratische System für
sich genutzt und ein komplexes System von Abhängigkeiten und
Staatsinstitutionen hinzugefügt, die nun für den Status quo arbeiten
werden. Wahrscheinlich werden sie den bereits begonnenen langsamen Wechsel
fortführen, allerdings eher im Sinne einer an China orientierten
Entwicklungsideologie, die offenen politischen Dissens nicht zulässt.
Kurzfristig werden sich Bürokratie und der starke Sicherheitsapparat eher
verhärten. Die Tendenz, dass ethnische und kulturelle Gruppen ihre Rechte
einfordern, wird sich aber auch verstärken und wahrscheinlich in
Randgebieten Äthiopiens zu mehr Unruhen führen.
Demokratisierung im westlichen Sinne ist momentan keine Option. Das ist
teilweise allerdings auch der Opposition zuzuschreiben: Sie hat sich in
inneren Kämpfen selbst konsequent geschwächt. Opposition und Regierung eint
der Mangel an Verständnis für die Denkansätze und Interessen des jeweils
anderen – nur dass die Regierung über den Apparat verfügt.
Der innere Wandel geht jedoch zügig weiter. Beispielsweise investiert der
Staat ein Viertel seines Haushalts in Ausbildung und schafft so eine
Dynamik, die noch lange viele Kräfte binden, anziehen und schaffen wird.
Eine Generation später wird sich Äthiopien völlig verändert haben. Jetzt
noch nicht.
24 Sep 2012
## AUTOREN
Wolbert G. C. Smidt
## TAGS
Science-Fiction
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