| # taz.de -- Bürgermeisterwahl in Stuttgart: Der große Fritz | |
| > Wenn der Grüne Fritz Kuhn in Stuttgart Bürgermeister wird dann ist das | |
| > von langer Hand vorbereitet. Sein Wahlkampf begann bereits in den 80ern. | |
| Bild: „I bin halt vom Fach“, sagt Fritz Kuhn | |
| STUTTGART taz | Dann stand Manfred Rommel auf, damals CDU-Oberbürgermeister | |
| von Stuttgart. Das Präsidium der Staatspartei hatte stundenlang gegrübelt, | |
| wo nur die Leute herkämen, die plötzlich diese langhaarigen Grünen wählten. | |
| Ergebnislos. Da sagte Rommel: „Schaut in eure eigenen Familien. Und ihr | |
| werdet einen Grünen-Wähler finden.“ Das war in den 80ern, und im Grunde ist | |
| damit das Baden-Württemberg von heute schon halb erklärt. | |
| Damals hatten vier Männer – unrechtmäßig unquotiert, aber unter | |
| Berücksichtigung der Realität – angefangen, die neue Partei in | |
| Baden-Württemberg strategisch auf Mehrheitsfähigkeit auszurichten oder | |
| zumindest weit über linke Langhaar-Studierende mit Sozialismusfaible | |
| hinaus: Wolf-Dieter Hasenclever, Rezzo Schlauch, der heutige | |
| Ministerpräsident Winfried Kretschmann – und Fritz Kuhn, der an diesem | |
| Sonntag der erste grüne Oberbürgermeister einer deutschen Landeshauptstadt | |
| werden könnte. | |
| Die eben nicht zufällig Stuttgart heißt. Gerade betritt ein älteres Ehepaar | |
| ein Caféhaus im Osten Stuttgarts und geht schnurstracks auf den Tisch zu, | |
| an dem der Kandidat Kuhn sitzt. Ach, Grüß Gott, Herr Kuhn, sagt die Frau, | |
| und dass sie ja keine Grünen seien: „Aber Sie wählen wir.“ | |
| Kuhn, 57, strahlt sie an, zumindest für seine Verhältnisse. Als sie wieder | |
| abgezogen sind, sieht er sehr zufrieden aus. Weil, erstens: Wer sagt, dass | |
| er spröde ist und ihm die Herzen nicht zufliegen? Zweitens: Genau darum | |
| geht es und genau darauf hat er seine Strategie aufgebaut, als er sich im | |
| Frühjahr zur Kandidatur entschloss: auch ins altbürgerliche Lager | |
| einzudringen, um eine Mehrheit realisieren zu können. | |
| ## Marginalisierte Sozialdemokratie | |
| Das kann man gut an seiner Position zum umstrittenen Verkehrs- und | |
| Immobilienprojekt Stuttgart 21 erkennen, die so breit angelegt ist, dass | |
| sie im Grunde nur die harten S-21-Gegner vergrätzt. Die haben im ersten | |
| Wahlgang ihren Widerstandshelden Hannes Rockenbauch gewählt (10,4 Prozent), | |
| der danach genauso zurückgezogen hat wie Bettina Wilhelm, die Kandidatin | |
| der zunehmend marginalisierten Sozialdemokratie (15,1 Prozent). Womit es zu | |
| jenem Showdown kommt, der das neue Baden-Württemberg definiert. | |
| Neues Bürgertum gegen altes Bürgertum: Kuhn, der im ersten Wahlgang 36,5 | |
| Prozent hatte, gegen den früheren Werber Sebastian Turner (34,5 Prozent), | |
| den offiziell CDU, FDP und Freie Wähler unterstützen. Inoffiziell waren | |
| Teile der örtlichen CDU nie begeistert von dem Kandidaten, den man ihnen | |
| aus Berlin anschleppte. Turner hat sich aber auch wirklich an einem ganz | |
| großen Pitch versucht: Einerseits soll er die Stadt und die Macht für die | |
| CDU und gegen die Grünen verteidigen. | |
| Andererseits soll er Unabhängigkeit von der Landespartei symbolisieren, die | |
| nicht nur wegen ihres letzten Ministerpräsidenten Stefan Mappus in einem | |
| beträchtlichen Teil der Gesellschaft als moralisch und personell ruiniert | |
| gilt. Wenn nur noch Parteilose für die CDU kandidieren dürften, grummelte | |
| der frühere Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder unter Parteifreunden, | |
| dann müssten sie ja alle aus der CDU austreten. | |
| Turner hat zudem noch versucht, einen Anti-Politiker-Wahlkampf („Ein Bürger | |
| als Oberbürgermeister“) zu führen und Kuhn zunehmend agressiv als | |
| abgehalfterten Berufspolitiker zu entlarven, der daherschwätzen könne, aber | |
| nichts geschafft habe. Letzte Woche fing er in einem Streitgespräch bei der | |
| Stuttgarter Zeitung wieder damit an, dass er sich nichts von jemand sagen | |
| lasse, der immer von Diäten gelebt habe. Worauf Kuhn antwortete: „Sagen Sie | |
| das mal Frau Merkel.“ | |
| ## Apokalypse einer autofreien Innenstadt | |
| Seit letzter Woche warnt Turner die Stuttgarter nun auch noch vor der | |
| Apokalypse einer autofreien Innenstadt, die Kuhn angeblich wolle, und dass | |
| der den Bahnhof mit grünem Gezicke noch teurer mache. Oder gar verhindere. | |
| Davor zu warnen, übernahm CDU-Landesparteichef Thomas Strobl. Damit sollen | |
| bisherige Nichtwähler und bahnhofsbegeisterte SPD-Wähler gewonnen werden. | |
| Wer Turner aus Berlin kennt, kennt ihn als schnellen und smarten Geist mit | |
| exzellentem Gespür für die mentale Verortung der jeweiligen Zuhörerschaft. | |
| Falls er nicht schlecht beraten sein sollte, muss man also davon ausgehen, | |
| dass er die Stuttgarter so einschätzt, wie er den Wahlkampf angelegt hat. | |
| Simpel. | |
| Kuhn weiß zwar, dass man Wähler nicht überschätzen darf, aber er glaubt | |
| auch nicht, dass Turner richtig liegt. Er glaubt, dass die S-21-Gegner | |
| jetzt lieber ihn wählen und die meisten SPDler auch, und das reicht dann. | |
| Auch der mittlerweile sehr Grünen-kritische Rockenbauch geht davon aus, | |
| dass Kuhn weniger an die Wirtschaft angeschlossen sein wird, als es Usus | |
| war. | |
| Eine Emnid-Umfrage im Auftrag der Wochenzeitung kontext sagt Kuhn in der | |
| Stichwahl einen klaren Sieg voraus. Es läuft im Grunde genau, wie Kuhn das | |
| schon bei einem taz-Gespräch im März in seinem Berliner Bundestagsbüro | |
| skizziert hat. Damals sagte er sehr entschlossen, er sei ein | |
| „Wertkonservativer“ – und da war schon klar, was er vorhatte. | |
| ## Fachlich kompetenter Stuttgarter | |
| Kuhn kann auch austeilen, durchaus auch populistisch, etwa wenn er sagt: „I | |
| bin halt vom Fach – und der isch net vom Fach.“ Grundsätzlich will er sich | |
| als seriöser, bodenständiger, fachlich kompententer Stuttgarter verkaufen. | |
| So einer schreit nicht herum. Was den Bahnhof angeht, so hat ein – für Kuhn | |
| – zum richtigen Zeitpunkt aufgetauchtes Gutachten, das auf den fehlenden | |
| Brandschutz des Tiefbahnhofs hinweist, den Part des Kostentreibers an die | |
| Bahn zurückgespielt. Und Kuhn glaubt auch nicht, dass die „Grüne sind | |
| Autohasser“-Botschaft Turners verfangen wird. | |
| Einfach, weil sich die Gesellschaft in den baden-württembergischen Städten | |
| grundsätzlich verändert hat. Da braucht es keinen Politologen, da reichen | |
| Zahlen: Nicht die CDU hat, sondern die Grünen haben die Mehrheit im | |
| Stuttgarter Gemeinderat, drei von vier direkt gewählten | |
| Landtagsabgeordneten sind Grüne, der Ministerpräsident sowieso. Im Grunde, | |
| und das ist das Frappante, lässt Kuhn Turner angreifen und führt damit | |
| einen klassischen Titelverteidigerwahlkampf. Obwohl er ja nicht | |
| Titelverteidiger ist, sondern die Stadt seit 1974 mit Rommel und Wolfgang | |
| Schuster (seit 1997) in CDU-Hand ist. | |
| Das ist nahe an jener kulturellen Hegemonie, die Kuhn und Schlauch in den | |
| 80ern vorbereitet haben, als sie – anders als Grüne anderswo – das | |
| Wertkonservative und den ländlichen Raum als Politikfelder besetzten; Kuhn | |
| entwickelte mit Hilfe von Ernst Bloch die Strategie, den Heimatbegriff grün | |
| zu besetzen. Und Schlauch lebte sie authentisch vor – und wäre damit schon | |
| 1996 fast OB von Stuttgart geworden. Schlauch ging dann nach Bonn und | |
| Berlin, Kuhn war Grünen-Chef im Land, 2000 kam er nach, um in den | |
| rot-grünen Jahren Partei und Fraktion zu führen. | |
| Jetzt ist er nach langer Zeit wieder die Nummer eins und managt seinen | |
| eigenen Wahlkampf. Er hat ein kleines Wahlkampfteam, die meisten sind um | |
| die 30, dann bespricht er sich mit seiner Frau, mit Kretschmanns | |
| Regierungssprecher Rudi Hoogvliet und seinem Staatskanzleichef Klaus-Peter | |
| Murawski, mit Werner Wölfle, Stuttgarts grünem Verwaltungsbürgermeister und | |
| auch mit Leuten jenseits der Partei. | |
| ## Germanist Kuhn spricht hartes Schwäbisch | |
| Und dann macht er sein Ding oder wie er sagt: „Ich spinn dann so einen | |
| Faden, wo man gar nicht mehr weiß, wer was beigetragen hat.“ Aber | |
| selbstverständlich sei er „schon der Strengste in den Überlegungen“. Kuhn, | |
| der Germanistik studiert hat, ist im bayerisch-schwäbischen Memmingen | |
| aufgewachsen und spricht immer noch ein Hochdeutsch, in dem das harte | |
| Schwäbisch dieser Region sehr präsent ist. | |
| Er sagt nicht nur „des isch“ für „das ist“, er sagt auch „Samsdigg�… | |
| Samstag. Wenn er ins Erzählen gerät, benutzt er selbstverständlich das | |
| Perfekt – und für den Wahlkampf die Straßenbahn. Und wenn am Ende die | |
| Rechnung 4,80 Euro beträgt? Dann sagt er: „Fünf.“ Ja, was denn sonst? Geld | |
| zusammenhalten ist nicht knickrig, sondern für einen Stuttgarter | |
| Oberbürgermeister eine essentielle Tugend. Grade auch im 21. Jahrhundert. | |
| Und vor allem, was den Bahnhof angeht. | |
| Was immer CDU und SPD verbockt haben: Wenn Fritz Kuhn die Wahl am Sonntag | |
| gewinnt, dann ist das sein Sieg und sein ganz großes Ding. Die Rundung | |
| einer politischen Laufbahn? Er wird sich hüten, das zu überhöhen. „Es wäre | |
| eine runde Sache“, sagt er vorsichtig. Bloß nicht Wähler verleiten, zu | |
| Hause zu bleiben, weil sie denken, es sei alles klar. Aber einen Lauf hat | |
| er schon. | |
| ## „Immer an der Front“ | |
| Und eine Leiche im Keller, die man noch ausgegraben könnte? „Leiche isch | |
| bei mir voll nix“, sagt Kuhn. Im Gegensatz zu anderen Grünen hatte er die | |
| ganze Zeit noch nie was an der Hacke. Er sei „die Integrität in persona“, | |
| sagt Weggefährte Schlauch, und das durchaus bewundernd: „Obwohl er immer an | |
| der Front war.“ | |
| Am Freitag vorvergangener Woche kam in größter Not dann sogar die Kanzlerin | |
| nach Stuttgart, um den unabhängigen Anti-Establishment-Kandidaten Turner | |
| als ihren Mann zu segnen. 15 Uhr auf dem Schlossplatz. Fünf vor drei schaut | |
| Kuhn im Café auf seine Uhr. „Für 15 Uhr isch Regen angesagt“, sagt er. | |
| Regen ist schlecht für Turner. Und gut für Kuhn. Drei nach drei gießt es | |
| wie aus Kübeln. | |
| 20 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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