# taz.de -- Zivilgesellschaft in Tunesien: „Der Hass auf Frauen ist Sozialnei… | |
> Die tunesische Anwältin Bochra Belhaj Hmida spricht über den Kampf der | |
> Religiösen gegen die gebildete Elite und die politische Kraft der | |
> Zivilgesellschaft. | |
Bild: Rückschrittliche Politik: Journalisten streiken aus Protest gegen die Ü… | |
taz: Am Mittwoch haben 90 Prozent der tunesischen Journalisten gestreikt, | |
damit der unter der Übergangsregierung erarbeitete Medienkodex endlich | |
umgesetzt wird. Der sieht einen Informantenschutz vor; außerdem, dass die | |
Regierung keinen direkten Zugriff mehr auf die Besetzung der Chefsessel der | |
Zeitungen hat. Die Journalisten haben erreicht, dass der von der | |
islamischen Partei Ennahda eingesetzte Generaldirektor der Zeitungsgruppe | |
Dar Assabah abberufen wird. Betrachten Sie den Streik als Erfolg? | |
Bochra Belhaja Hmida: Er kann zumindest Hoffnung geben. Die Intervention | |
der Zivilgesellschaft, die gerade in Tunesien stattfindet, ist sehr | |
wichtig. Die regierende Troika – also die stärkste Partei, die islamische | |
Ennahda, sowie die säkularen Parteien CPR und Ettakatol – hat ihr Wort | |
nicht gehalten, was die Umsetzung der Ziele der Revolution betrifft. Weder | |
in den Medien noch der Justiz oder der inneren Sicherheit wurden bislang | |
Demokratisierungsprozesse in Angriff genommen. | |
Bilden CPR und Ettakatol kein Gegengewicht zu den Religiösen? | |
Man hat nicht das Gefühl, dass sie irgendeinen Einfluss in der Regierung | |
haben. Leider. Dort agiert nur die Ennahda, die in der Wirtschaftspolitik | |
einen ultraliberalen Kurs fährt. Oder schauen Sie sich die streikenden | |
Journalisten der Zeitung Dar Assabah an: Denen wurde einfach ein völlig | |
inkompetenter Ennahda-Mann vor die Nase gesetzt. Tunesien braucht dringend | |
eine sozialdemokratische Partei, wie es Ettakatol sein wollte. Aber die | |
haben keine Chance mehr. | |
Warum? | |
Alles, was sie wollten, war das Regieren. Und deshalb treten die Leute nun | |
massenweise aus. | |
Der demokratische Prozess stagniert also? | |
Nur die Wachsamkeit der Zivilgesellschaft verhindert den Rückschritt, die | |
Regression in unserem Land. Sie hat nicht nur einmal mit Protesten und | |
Demonstrationen die Dinge in Richtung Demokratie vorwärtsgetrieben. Nehmen | |
Sie das Beispiel der von Polizisten vergewaltigten Frau, die daraufhin des | |
unsittlichen Verhaltens angeklagt wurde. Über so etwas hätte man in | |
Tunesien früher niemals gesprochen. Und nun erfährt diese Frau landesweit | |
tausendfach lautstark Unterstützung. | |
Sind das die Mittelschichtfrauen aus La Marsa, dem wohlhabenden Vorort von | |
Tunis? | |
So argumentiert die Ennahda. Aber das stimmt nicht. Es gibt verschleierte | |
Frauen, traditionelle Frauen, aber auch Männer, die sich gegen das Vorgehen | |
der Justiz wehren. Es hat mich wirklich sehr erstaunt, dass bei dem Prozess | |
gegen die vergewaltigte Frau, die ich verteidige, einfache Familienväter zu | |
mir kamen und sagten: Ich bin Islamist, aber in keiner Weise mit dem | |
Rückschritt, den Ennahda einleitet, einverstanden. Aber abgesehen davon: Es | |
ist doch in allen Ländern so, dass die Elite auch die Avantgarde ist. | |
Es gibt also keine Spaltung zwischen den modernen Mittelschichtfrauen und | |
ländlichen, traditionellen Frauen? | |
Alle Frauen, die in Schwierigkeiten sind, befinden sich in der gleichen | |
Situation. Und ich weiß aus meiner Arbeit als Anwältin, dass die | |
Bedürfnisse bei allen gleich sind. Sie brauchen Sicherheit, was ihre Rechte | |
angeht: gegenüber ihren Kindern, bezüglich der Versorgung. Es ist für mich | |
eine Respektlosigkeit, wenn man sagt, die ländlichen Frauen sind anders. Es | |
gibt nur einen Unterschied: Wir Mittelschichtfrauen hatten Glück, Erfolg zu | |
haben, sie nicht. Die sogenannten ländlichen Frauen sind nicht | |
unterwürfiger als andere. Sie revoltieren und sie kämpfen. Ich ertrage | |
diese soziale Unterscheidung zwischen Mittelschicht- und ländlichen Frauen | |
nicht. | |
Hat Ennahda die modernen Frauen zur Zielscheibe? | |
Absolut. Man greift die Elite an, schürt den Hass auf sie, um seine | |
rückschrittlichen Vorstellungen umzusetzen. Und mit dem Hass auf die | |
sogenannte gebildete Elite schürt man auch den Hass auf die modernen, | |
aufgeschlossenen Frauen. Übergriffe auf Frauen sind in diesem Kontext | |
normal. Das weiß ich aus meiner Arbeit. Sie werden belästigt, wenn sie | |
alleine unterwegs sind, sie werden angemacht, entwertet. Der Hass auf | |
moderne Frauen ist auch eine Form des Sozialneids. | |
Und welche Alternative gibt es für Sie? | |
Ich bin aktuell engagiert bei Nida Tunis, einem Sammelbecken von säkularen | |
Kräften. Ich weiß nicht, ob es wirklich eine Alternative ist. Aber was mich | |
im Moment interessiert: Ich will keine neue Diktatur. Wenn bei den nächsten | |
Wahlen wieder nur eine Partei die Mehrheit hat, schlittern wir aber genau | |
dort hinein. | |
Meinen Sie eine islamistische Diktatur? | |
Was auch immer. Unter Ennahda jedenfalls gibt es keine wirkliche Freiheit. | |
Und was die Justiz betrifft, ist ihre Politik ein Skandal. | |
Warum? | |
Weil sie Richter beispielsweise nach eigenem Gutdünken von Verfahren | |
ausschließen. Wenn man fragt, warum sie solche Fälle nicht vor einem | |
Disziplinargericht verhandeln, sagt der Justizminister, ein Ennahda-Mann: | |
Weil diese Institution unter dem Exdiktator Ben Ali gewählt wurde und damit | |
keinerlei Vertrauen genießt. Und so nimmt sich Ennahda das Recht, zu | |
machen, was sie will. In der verfassunggebenden Versammlung hat sie sich | |
gegen die Bezeichnung „unabhängig“ für den Obersten Gerichtshof | |
ausgesprochen. Ich sehe keinen wirklichen Willen in der jetzigen Regierung, | |
eine Justizreform durchzuführen. | |
Gibt es für Sie einen moderaten Islam? | |
Unser Islam war immer moderat. Für mich ist das Problem nicht der Islam. | |
Ennahda ist eine rechte Partei, es sind antidemokratische Konservative. | |
Aber sie haben kein Programm. Ihr Argument ist der Angriff. Sie stehen für | |
einen wilden Kapitalismus in einem Land mit großen sozialen Problemen. Was | |
sollen sie den Leuten anderes anbieten als die Religion? | |
21 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
E. Kresta | |
R. Fisseler-Skandrani | |
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