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# taz.de -- Islamisten in Tunesien: Kulturkampf auf der Straße
> Ein Jahr nach den Wahlen geht die laizistische Opposition auf
> Konfrontationskurs. Der islamistischen Ennahda-Partei trauen sie den Weg
> in die Demokratie nicht mehr zu.
Bild: Die Tunesier gehen wieder für ihr Recht auf Freiheit und Demokratie auf …
MADRID taz | Feierstimmung sieht anders aus. Zum Jahrestag der ersten
freien Wahlen in Tunesien am 23. Oktober 2011 gingen die Gegner der
Übergangsregierung zu Tausenden auf die Straße, während nur ein paar
Hundert fähnchenschwingende Islamisten Grund zur Freude sahen. Einer
Feierstunde im Parlament blieben die meisten Oppositionspolitiker fern.
Tunesien ist tief gespalten. Die Regierung aus der islamistischen Ennahda
und zwei kleineren, weltlichen Parteien ist am Tiefpunkt ihrer Popularität
angelangt.
„Das Volk will den Sturz des Regimes“ skandierten die Demonstranten am 23.
Oktober 2012 die Parole, mit der sie im Januar 2011 den Sturz des Diktators
Ben Ali eingeleitet hatten. Für die Opposition ist die Regierung seit dem
Jahrestag „unrechtmäßig“. Denn die Dreiparteienkoalition hatte eigentlich
versprochen, nur ein Jahr lang nach den Wahlen von 2011 im Amt zu bleiben.
Jetzt wollen Premierminister Hamadi Jebali (Ennahda), Staatspräsident
Moncef Marzouki (Kongress für die Republik) und Parlamentspräsident
Mustapha Ben Jaafar (Ettakatol) davon nichts mehr wissen. Der Termin für
Neuwahlen wurde auf den 27. Juni 2013 festgelegt.
Die Verfassungsgebende Versammlung habe ihre Arbeit noch nicht beendet,
lautet die Begründung. Die wichtigste offene Frage ist die nach der
Staatsform: Ennahda hätte gerne ein rein parlamentarisches System, bei der
die stärkste Partei den Regierungschef und den Staatschef stellt. Die
anderen wollen eine Direktwahl des Präsidenten.
## Angst vor neuem totalitärem Regime
Die Opposition befürchtet, dass die Islamisten die Zeit nutzen werden, um
alle wichtigen Institutionen fest in ihre Hände zu bekommen. Ennahda hat
bereits die Führungsposten der Staatsbetriebe sowie der staatlichen Medien
mit Getreuen besetzt. Kritische Journalisten werden zunehmend zensiert. Die
Opposition fürchtet ein neues totalitäres Regime und verlangt für die Zeit
bis zur Verabschiedung der Verfassung eine Regierung der nationalen
Einheit. Die mächtige Gewerkschaft UGTT und will einen Urnengang noch vor
Jahresende.
Mittlerweile vergeht kaum ein Tag ohne Sit-Ins, Straßenblockaden oder
Streiks. Immer wieder wird über einzelne Regionen der Ausnahmezustand
verhängt, zuletzt im Urlaubsparadies Djerba und der Chemiestadt Gabès.
Amnesty International beklagt Menschenrechtsverletzungen und Folter seitens
der Polizei.
Die Unruhe hängt auch damit zusammen, dass sich die Wirtschaft nicht
erholt. „Die immer wieder aufflammenden Revolten im Landesinneren beweisen,
dass die Beschäftigungssituation vor allem für junge Menschen und die
regionalen Unterschiede weiterhin ein echtes Problem sind“, erklärt ein
Sprecher der Afrikanischen Entwicklungsbank. Das Wachstum sei weit
niedriger als angegeben.
Radikale Salafisten nutzen die Unzufriedenheit und machen mit gewalttätigen
Übergriffe auf Kneipen, Kunstausstellungen, Universitäten und zuletzt auf
die US-Botschaft in Tunis von sich reden. Ennahda distanziert sich von
ihnen nur zögerlich. Vor wenigen Tagen wurden Filmaufnahmen von einem
Treffen von Parteichef Ghannouchi mit führenden Salafisten bekannt.
Ghannouchi mahnt sie darin zur „Geduld beim Erreichen eurer Ziele“. Er rät
ihnen, eigene TV- und Radiosender zu gründen, um „den weltlichen
Journalisten, die noch immer die Medien bestimmen“, die Stirn zu bieten. 75
der 217 Abgeordneten der Verfassunggebenden Versammlung forderten daraufhin
den Rücktritt der Regierung und das Verbot von Ennahda.
26 Oct 2012
## AUTOREN
Reiner Wandler
Reiner Wandler
## TAGS
Islamismus
Tunesien
Ennahda-Partei
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