# taz.de -- Benjamin Biolays Album „Vengeance“: Lieber stirbt der überzeug… | |
> Der unnahbare französische Popstar Benjamin Biolay hegt eine Hassliebe zu | |
> seinen Landsleuten. Sein neues Album „Vengeance“ klingt versöhnlich. | |
Bild: Ob Benjamin Biolay wenigstens einmal lächeln könnte? Nix da. | |
„Hallo? Steht auf meiner Stirn etwa Benjamin Biolay?“, fragte der | |
französische Rapper Joey Starr in einem Film von 2008 ironisch. Und alle | |
Franzosen verstanden sofort, was damit gemeint war: Biolay, der als Serge | |
Gainsbourgs legitimer Erbe gehandelt wurde, gilt als abgehobener, elitärer | |
und eitler Snob. Mit so jemand will niemand gerne gemein gemacht werden. | |
Es handelt sich hier immerhin um den Mentor der Nouvelle chanson française, | |
der dank seiner Mischung aus erlesenem Pop, eindringlichen Songtexten und | |
einer Prise Elektro das französische Liederwesen vor einer schäbigen | |
Zukunft in Pariser Eckkneipen bewahrt hat. | |
Biolays Debütalbum „Rose Kennedy“ erhielt 2002 den begehrten Preis als | |
Beste Neuentdeckung der Victoires de la Musique. Mit der Bezeichnung | |
Nouvelle chanson française, „diesem Dreck à la Jacques Brel“, könne er | |
jedoch nichts anfangen, bekannte Biolay mürrisch in Interviews. Ganz zu | |
Beginn seiner Karriere fragte ihn ein TV-Moderator auch, ob Biolay nicht | |
wenigstens einmal lächeln könne. Die Antwort fiel so knapp aus, wie der | |
Abstand zwischen seinen Mundwinkeln: Nix da. | |
Es dauerte nicht lange, bis Biolays teils schüchterne, teils respektlose | |
Haltung als unhaltbar prätentiös umgedeutet wurde und er verschrien war. | |
2002, kurz nach seiner Hochzeit mit Chiara Mastroianni (dem viel beachteten | |
Nachwuchs von Mastroianni und Deneuve), stürzte sich die Regenbogenpresse | |
auf seine Person. | |
Ein gefundenes Boulevard-Fressen: Alkoholexzesse, Seitensprünge und rüde | |
Sprüche eigneten sich prima für Schlagzeilen. Irgendwann wurde sogar | |
ernsthaft über ihn als Juryvorstand der „Star Academy“ (der französischen | |
Pendanz zu „DSDS“) nachgedacht. | |
So ging es weiter, bis ihm sein medialer Ruf zum Verhängnis wurde: Auf | |
offener Straße schrien ihm Unbekannte ihren Hass entgegen. Plötzlich wurde | |
ihm sogar eine Affäre mit Präsidentengattin Carla Bruni angedichtet. Dabei | |
habe er die Bruni seit der Zusammenarbeit an ihrem letzten Album aus den | |
Augen verloren, verteidigte sich Biolay – angeblich genau seit dem | |
Überraschungsbesuch ihres neuen Lovers Nicolas Sarkozy im Aufnahmestudio: | |
„Plötzlich stürmte dieser Kerl herein, aufdringlich parfümiert, im rosa | |
Hemd, samt Leibwächterhorde. Und dann duzte er mich auch noch!“ | |
Auf die unvermeidliche Dinner-Einladung in den Elysee-Palast reagierte | |
Biolay, der überzeugte Sozialist, wie gewohnt ohne Umschweife: „Lieber | |
sterbe ich.“ Keiner schien Biolay mehr ertragen zu können, letztlich war | |
sogar seine Plattenfirma EMI der Meinung, man müsse sich von dem Enfant | |
terrible trennen. Aber, wer beharrt, wird selig: 2010 kam etwas | |
überraschend die lang ersehnte Anerkennung der Öffentlichkeit: Bei den | |
Victoires de la musique wurde Biolay zum besten Interpreten gekürt, und | |
sein neuestes, ohne das Zutun des Plattenmultis produziertes Werk zum Album | |
des Jahres 2010 deklariert. | |
## Kein Lächeln | |
Diesmal ist Benjamin Biolay kein elitärer Geheimtipp mehr. Er wird mit | |
Kritikerlob regelrecht überhäuft: „La Superbe“, so der Titel des Albums, | |
ließ seinen privaten Absturz musikalisch-düster, aber menschlich | |
nachvollziehbar Revue passieren: Auffällig viele Songs widmen sich der | |
Tochter aus der inzwischen geschiedenen Ehe mit Chiara Mastroianni, um in | |
anderen Liedern zuzugestehen: „Von halb neun an habe ich kein Herz mehr, | |
nur noch meinen Schwanz“. | |
Benjamin Biolays neues Album „Vengeance“ (Rache) klingt nun hingegen | |
beinahe versöhnlich. Eine Sehnsucht nach Ruhe, Frieden und einfachem Genuss | |
schwingt zwischen allen Zeilen, wie die Hoffnung auf eine zweite Chance | |
oder einen Neuanfang, als er noch ein unbeschriebenes Blatt war. | |
Das Etikett des Snobs wurde ihm erst angehaftet, als er berühmt wurde. | |
Seine eigene Kindheit in Villefranche-sur-Saône, unweit von Lyon, | |
bezeichnet der 1973 geborene Benjamin als sterbenslangweilig. Der Vater | |
spielt im städtischen Orchester Klarinette, Biolay widmet sich eifrig der | |
Geige und Tuba. Er entwickelt Talent und wird mit 15 ans Lyoner | |
Konservatorium aufgenommen. Dort studiert er Posaune und übt nebenher beim | |
MTV-Schauen Gitarre. Mit 18 zieht es ihn nach Paris. Nach fünf langen | |
Jahren hartnäckiger Arbeit und etlicher Fehltritte schafft er es, sich | |
allmählich einen Namen als Arrangeur und Songwriter zu machen. | |
2000 verhilft er als Produzent dem vergessenen Sänger Henri Salvador zu | |
einem veritablen Comeback. Seitdem gilt Biolay als Karriere-Aufpepper par | |
excellence: von Juliette Gréco, über Françoise Hardy bis hin zu Vanessa | |
Paradis, alle klopften an seine Tür – und jedes Mal lohnt es sich für alle | |
Beteiligten. Als Gegenleistung singt die inzwischen Johnny-Depp-lose | |
Paradis auch ein Duo auf Biolays neuem Album. „Profite“ hauchen sie sich | |
gegenseitig ins Mikrofon: „Genieße! Das Leben – scheiße – ist zu kurz.�… | |
Auch der momentane Liebling der australischen Folkszene, Julia Stone, hat | |
einen Gastauftritt bei Biolay. Wie ein Vögelchen und betont niedlich summt | |
sie in dem Lied „Confettis“ vor sich hin, wobei die Silben „Con-“ und | |
„-fettis“ derart betont getrennt werden, dass alle FranzösInnen nur noch | |
„Con“ (Idiot, Möse) hören. | |
## Sehnsüchtiges Mixtape | |
Das erinnert unweigerlich an das Duett „Les sucettes“ (die Lutscher) von | |
Serge Gainsbourg und France Gall von 1966, bei dem die naive Gall | |
vermutlich die Einzige war, der die Fellatio-Metapher entging. Biolay | |
selbst hat stets sämtliche Gainsbourg-Vergleiche strikt von sich gewiesen. | |
Auch wenn „Vengeance“ erneut Erinnerungen an den kontroversen Chansonier | |
weckt, so ergibt sich bei Biolay doch ein ganz eigenes, sehnsüchtiges | |
Mixtape durch alle Pop- und Chansonepochen, dessen wahre Wucht sich erst | |
beim nächsten Liebeskummer voll entfaltet. | |
Den Schlüssel zum Verständnis des Albums liefert der Track „Ne regrette | |
rien“, für den sich Biolay unerwartete Verstärkung mit ins Boot geholt hat: | |
den in der Normandie geborenen Nachwuchs-Rapper Orelsan, der seine | |
derzeitige Bekanntheit dem Internet verdankt. Mit derben Reimen besingt er | |
die allgemeine Verstimmung seiner Generation, ihren tristen Alltag und die | |
Freuden der Masturbation – oft jenseits der Grenzen von Frauenfeindlichkeit | |
und Homophobie. | |
Sein Song über den Geisteszustand eines von seiner Freundin betrogenen | |
Jungen „Sale pute“ (dreckige Hure) wurde 2009 zur Staatsaffäre und als | |
gewaltverherrlichend angeprangert. Das habe er damals nicht so gemeint, | |
gestand Orelsan später ein, und versprach, das Stück nie wieder zu singen. | |
Einen Nachsatz konnte er sich nicht verkneifen: „So viel Gewalt wie in den | |
Filmen, die zur Primetime im öffentlich-rechtlichen TV laufen, wird sich in | |
meiner Musik nie finden.“ | |
Biolay, fast versöhnt also mit sich und der Achterbahnfahrt seiner eigenen | |
Biografie, scheint nun das Erbe des Enfant terrible weiterreichen zu | |
wollen: „Unsere Schritte folgen aneinander im Schnee / Auf dem Riesenrad / | |
Im Karussell“, singt er, während Orelsan, noch ein relativ unbeschriebenes | |
Blatt, voller Inbrunst seine Worte als Rap aus der Ferne wiederholt. | |
2 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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