# taz.de -- New York, der Hurrikan und die Wahl: Essen mit der Knarre besorgen | |
> Viele New Yorker Viertel haben wieder Strom. In anderen werden Leute für | |
> Taschenlampen abgestochen, erzählt man sich. | |
Bild: Schlange stehen: Staten Island nach dem Sturm. | |
NEW YORK taz | Es gibt wieder Strom in der Lower East Side. Und die | |
Brotpreise fallen. 7 Dollar sollte Nicasie Jones in einem Laden für einen | |
Laib zahlen, als die ganze Gegend noch ohne Elektrizität und fließendes | |
Wasser war. 7 Dollar. „Ich nehme nur vier Scheiben“, hat die 32-jährige | |
Mutter von drei Söhnen gesagt. Vier Scheiben Brot für 3 Dollar. Sie lacht. | |
Das ist erst mal vorbei. Brot kostet wieder so viel wie vor dem Sturm. | |
Jones kann wieder mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock fahren, in ihre | |
Wohnung in einem der Hochhäuser in der Nähe des East River. Und muss sich | |
nachts nicht mehr durchs dunkle Treppenhaus tasten. | |
Sie wird sich auch wieder im Dunkeln auf die Straße trauen, weil die Zahl | |
der Überfälle mit dem Brotpreis sinken dürfte. Manche haben sich ihr Essen | |
mit Waffen besorgt, erzählen sie hier. Jones hat auch von einer | |
Vergewaltigung gehört, da vorne irgendwo. | |
Sie führt diese Szene, wie sie im Laden Brot kaufen will, noch mal vor. 7 | |
Dollar. Wie sie dasteht, riesige Augen. Sie schüttelt den Kopf, lacht. | |
Absurdes Theater. „Man merkt, wie gierig manche Leute werden können“, sagt | |
Jones. Dem Wasser aus dem Hahn, dreckig wie die Wolken am Himmel, traut sie | |
noch nicht ganz. Aber es läuft wieder. | |
## Vier Tage ohne Strom | |
New York erholt sich von dem Schlag, den Sandy der Stadt versetzt hat. Nur | |
erholen sich die Stadtviertel mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Im | |
Block von Nicasie Jones hat es vier Tage gedauert, bis es wieder Strom gab, | |
Geschäfte wieder öffneten, Kreditkartenlesegeräte wieder Daten | |
verschickten, Straßenlaternen wieder leuchteten, Heizungen wieder | |
funktionierten. Bis sich langsam wieder alles anfühlte wie ein armes | |
Viertel einer zivilisierten Metropole. | |
Am Times Square, wo der Strom gar nicht ausgefallen war, drängten sich | |
schon einen Tag nach dem Hurrikan wieder Touristen. Im Financial District | |
war es da noch sehr ruhig. Kein Strom, Generatoren röhrten, Pumpen gossen | |
Wasser auf die Straße. Ein Waffelstand, nicht weit von der Wall Street, | |
verschenkte seine Waffeln. Daneben stand eine Reporterin des Fernsehsenders | |
ABC in Gummistiefeln auf einer Campingkühlbox und sagte sehr ernst ins | |
Mikrofon, dass die Leute langsam wirklich ärgerlich würden. | |
Im Block von Nicasie Jones waren kaum Kamerateams unterwegs. Manche | |
Nachbarn haben den Eindruck, dass mehr Helfer hätten kommen müssen. Am | |
Freitagvormittag noch läuft Ricky Williams in seiner weiten Jacke wütend an | |
den chinesischen Geschäften vorbei. Williams, 50 Jahre alt, drei Kinder, | |
arbeitet normalerweise auf Lebensmittellastwagen, die Obst oder Gemüse | |
ausliefern, aber wenn alle Supermärkte geschlossen sind, braucht ihn | |
keiner. Williams fehlt Geld. Und er muss zusehen, wie die Preise steigen. | |
## LKWs laden Mobiltelefone auf | |
Ein Packen Wasserflaschen hat neulich noch 6 Dollar gekostet. Das war schon | |
recht teuer – aber am Freitag kostet er 8 Dollar, ein paar Straßenecken | |
weiter gar 12. Manche der chinesischen Geschäftsleute haben sich | |
Generatoren gekauft und lassen die Leute gegen Geld ihre Smartphones und | |
Handys aufladen. 3 Dollar für eine halbe Stunde. „Die profitierten von der | |
Katastrophe“, schimpft Williams. | |
Gerade noch hing er beim Truck der Federal Emergeny Management Agency | |
(Fema) herum. Dem republikanischen Präsidentschaftsbewerber Mitt Romney hat | |
„Sandy“ die Bedeutung der nationalen Katastrophenschutzbehörde erst bewusst | |
gemacht. Der Lkw liefert Strom für Mobiltelefone. Dann fährt er wieder. Die | |
Freiwilligen, die in einer Schule und an einer Straßenecke Wasser und Essen | |
verteilen, schaffen es nicht bis zu Ricky Williams. „Bei uns seid ihr | |
nicht“, ruft er ihnen zu. | |
Dafür steht dort ein schwules Pärchen aus dem wesentlich wohlhabenderen | |
Teil von Manhattan. Einer macht Haferbrei auf einem Grill warm, der andere | |
verteilt ihn in Plastikbechern. „Es fühlt sich großartig an, hier zu | |
helfen“, sagt er, enge Jeans, Mitte zwanzig. Sie seien froh gewesen, dass | |
„Sandy“ sie selbst nicht getroffen hat. Darum haben sie den Grill gekauft, | |
die Kohle, die Haferflocken, haben alles ins Taxi gepackt und sind | |
hergefahren. | |
## Skurrile Momente | |
Beide haben nicht damit gerechnet, wie sehr sie gebraucht werden. „Will | |
noch jemand?“, ruft der eine. Es klingt ein bisschen, als wäre das hier | |
eine Fashion-Show – kein Krisengebiet. Die Leute, denen er die Becher | |
reicht, Schwarze, Latinos, eher alt, eher in Jogginghosen als in | |
Designerjeans, wirken dankbar. „Alle schätzen, was wir hier machen“, ruft | |
er. „Hach, herrlich.“ | |
Es ist ein wunderbar skurriler Moment zwischen diesen hohen Klinkerbauten. | |
Und Ricky Williams, der die meiste Zeit geflucht hat, ist ganz still | |
geworden. | |
Ein paar Frauen kommen vorbei. Eine hat Diabetes, braucht gekühltes | |
Insulin. Ihre Vorräte sind ohne Strom im Kühlschrank warm geworden. Sie | |
sucht einen Arzt, ein Krankenhaus. Aber keine U-Bahn fährt, kaum ein Bus, | |
vor fast allen Schaufensterscheiben sind Rollläden. Sie fängt an zu weinen. | |
Erst am Samstag werden die Bahnen wieder den Betrieb aufnehmen. An den | |
wenigen offenen Tankstellen bilden sich lange Schlangen. In New Jersey wird | |
Benzin schon rationiert. | |
Ein Veteran mit langen, grauen Haaren läuft vorbei und ruft, dass das hier | |
nichts gegen Krieg sei. „Solange nicht geschossen wird, ist alles harmlos.“ | |
## Nationalgarde schützt Wasserpaletten | |
Gestern sei einer ausgeraubt worden, sagt Ricky Williams. Mit einer Knarre. | |
Es ging um Essen. Er habe auch schon darüber nachgedacht, sagt Williams. Er | |
muss um Geld betteln, weil er keines verdienen kann. „Nur nachgedacht“, | |
sagt er. „Nachdenken ist noch kein Verbrechen.“ | |
Am Freitagabend kommt für die meisten im Viertel der Strom zurück. Wasser | |
tröpfelt aus den Hähnen. Am Samstagmorgen sind deutlich mehr der | |
Metallrollläden vor den Schaufensterscheiben hochgezogen. Die Regale der | |
Supermärkte allerdings bleiben oft noch leer. „Die müssen ihre Vorräte | |
auffüllen, die Kühlregale gingen ja nicht ohne Strom“, sagt ein Soldat der | |
Nationalgarde, der neben Paletten von Wasserflaschen steht. An anderen | |
Orten verteilen die Gardisten Essen. Sie werden wohl noch einige Tage | |
bleiben müssen. | |
Bei Nicasie Jones, Ricky Williams und ihren Nachbarn in der Lower East Side | |
wird es langsam besser. Sie müssen nicht mehr frieren, nicht mehr mit | |
Kanistern vor Hydranten kauern. Auf der anderen Seite des Flusses, in Red | |
Hook, ist der Strom dagegen noch immer nicht zurück. Die Elektrizitätswerke | |
sagen, dass es noch einige Tage dauern kann. Dort frieren die Leute. Und | |
Ratten sammeln sich in den Müllhaufen, die die Flut herangespült hat. | |
Nachts dürfte es dort so gefährlich sein wie vor wenigen Tagen bei Nicasie | |
Jones. | |
## Möbel als Heizmaterial | |
Einige Occupy-Aktivisten sind nach Red Hook gegangen, um dort Hilfe zu | |
organisieren. Die Leute scheinen sich ähnlich vernachlässigt zu fühlen wie | |
Ricky Williams, bevor er wieder Strom hatte. „Es ist wie in der Dritten | |
Welt“, sagt ein Mediziner, der in Red Hook hilft, im New York Magazine. | |
Ricky Williams erzählt von Nachbarn, die Müll angezündet haben, um sich | |
warm zu halten. An den zerstörten Küstenstreifen verbrennen manche ihre | |
Wohnzimmereinrichtung. Wer friere, solle in eine Notunterkunft gehen, sagt | |
Bürgermeister Bloomberg. | |
Der hatte noch versucht, den jährlichen New York Marathon trotz „Sandy“ | |
stattfinden zu lassen. Aber dann musste er ihn doch absagen. Wie hätte das | |
ausgesehen: ein Wettrennen in einer Stadt, in der Tausende ohne Strom sind, | |
in der sich die Hipster ironisch mit „Happy Hurricane“ begrüßen, während | |
die Skyline von Manhattan nachts wieder fast ohne schwarze Stellen | |
leuchtet, während die Bewohner von Red Hook immer mehr Angst vor den immer | |
weiter sinkenden Temperaturen bekommen, vor den steigenden Preisen – und | |
vor Nachbarn, die man in der Dunkelheit nicht genau erkennen kann. | |
Schließlich kursieren diese Geschichten. Von Menschen, die für eine | |
Taschenlampe abgestochen werden. | |
4 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Johannes Gernert | |
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