| # taz.de -- Literaturfestival „open mike“ in Berlin: Schutz alleinlaufender… | |
| > Begeistert zuhören und versunken rumstehen konnte man auf dem „open | |
| > mike“. Der Wettbewerb gilt als wichtigste Bühne für deutschsprachige | |
| > Nachwuchsautoren. | |
| Bild: Das Publikum bestand zu großen Teilen aus Leuten, die selber gern schrei… | |
| Wer vor 20 Jahren am Majakowskiring in Berlin-Pankow in eine Zeitmaschine | |
| eingesteigen wäre, um am Heimathafen im Ortsteil Neukölln im Heute | |
| auszusteigen, wäre schockiert darüber, wie artig die 21 teilnehmenden | |
| Schiftsteller so wirken, wie professionell und ohne sich je zu verhaspeln | |
| sie ihre Texte vortragen. | |
| Etwas verwirrt wäre der Zeitreisende vielleicht auch über das große | |
| Publikumsinteresse: Am Samstagnachmittag waren etwa 400 meist junge Leute | |
| im Saal; 50 standen traurig davor und kamen nicht rein. Am Sonntag war’s | |
| dann wieder entspannter. | |
| Das Publikum bestand zu großen Teilen aus Leuten, die selber gern | |
| schreiben, teils an den Literaturschreibinstituten in Leipzig oder | |
| Hildesheim studieren und somit den Schriftstellern, die dort lehren, auch | |
| wieder Lohn und Brot geben. | |
| Ich dachte an Gespräche mit einer befreundeten Sachbuchlektorin, die | |
| überzeugt ist, dass sei alles Tinnef, weil literarisches Schreiben nicht | |
| lernbar sei. Als Beleg dafür führte sie mich an. Ich war dagegen etwas | |
| neidisch auf die schönen Lernmöglichkeiten junger Leute. | |
| ## 634 Bewerbungen | |
| Egal. Der open mike gilt als wichtigster Literaturnachwuchswettbewerb im | |
| deutschsprachigen Raum. Teilnahmeberechtigt sind Menschen bis 35, die noch | |
| kein Buch veröffentlicht haben. Von 21 Startplätzen sind 7 für Gedichte | |
| reserviert. Sechs Lektoren bestimmen die Teilnehmer. Drei Preise teilen | |
| sich 7.500 Euro. Einer der Preise muss für Lyrik vergeben werden. In diesem | |
| Jahr gab es 634 Bewerbungen, davon 46 Lyrikeinsendungen. | |
| Der Hintergrund der Teilnehmer ist ähnlich: Die Autoren sind akademisch | |
| gebildet, die Hälfte hat schon verschiedene Preise gewonnen, ein Drittel | |
| studiert literarisches Schreiben, und ein Drittel hat in verschiedenen | |
| Ländern gelebt. Bevor sie lesen, werden die Autoren von den Lektoren als | |
| Mentoren vorgestellt. Dass die zu lesenden Texte zuvor auch schon | |
| interpretiert werden, irritierte etwas – lustig allerdings, dass die | |
| Mentoren die zu lesenden Texte oft mit ähnlichen Worten charakterisierten. | |
| Es macht Spaß, zum open mike zu gehen, sich die jeweils 15-minütigen Texte | |
| anzuhören, in den Pausen herumzustehen und über das Gehörte nachzudenken, | |
| in dieser Umgebung auf andere Gedanken zu kommen, zu überlegen, wieso einem | |
| etwas gut oder nicht so gut gefällt. | |
| Oder auch, was für einen Einfluss zum Beispiel der jeweilige Sitzplatz auf | |
| die Wahrnehmung der Texte hatte – die ersten Autoren hörte ich weit | |
| entfernt von der Bühne, auf dem Boden sitzend, die nächsten ganz nah in der | |
| ersten Reihe und am Sonntag im Rang wie Ägyptens König auf alles | |
| snobistisch herabblickend. Das war am angenehmsten. | |
| ## Zwischen queer und Grufti | |
| Komischerweise beeinflusste der Sitzplatz zwar das Wohlbefinden, aber nicht | |
| unbedingt das Urteil über die Texte: Viele, die man etwas bedrängt direkt | |
| vor der Bühne gehört hatte, fand man trotzdem toll, wie etwa die seltsame, | |
| äußerst präzise Matrosenlyrik des 1989 in der Ukraine geborenen Autors | |
| Yevgeniy Breyger, den Auftritt des späteren Preisträgers Martin Piekar, des | |
| einzigen Autors, der popkulturelle Zeichen zwischen queer und Grufti trug | |
| und ein wenig an den Sänger Antony Hegarty erinnerte. | |
| Oder auch die sehr schöne Primzahlengeschichte „17, 23, 17, 23“ von Kerstin | |
| Schubert, die aus der Perspektive eines autistischen Mädchens erzählt war. | |
| Die aus Zittau stammende Autorin gehörte zu den ganz wenigen, die kein | |
| geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben. | |
| Rückblickend fällt mir auf, dass alle Preisträgerinnen am Samstag gelesen | |
| hatten: Sandra Gugic hatte in „Junge Frau, undatiert“ von einer jungen Frau | |
| erzählt, die, vom Internet angeregt, in verschiedenen Wohnungen wohnt; Juan | |
| S. Guses ins unheimlich Surrealistische driftender Text „Pelusa“ spielt in | |
| der Nähe der Anden. | |
| Joey Juschkas ausnahmsweise humorvolle Kreuzberger Geschichte „SCHAF e. V.“ | |
| – die mich teils an den Tiger von Kreuzberg, teils an Jochen Schmidt | |
| erinnerte – wurde mit dem taz-Publikumspreis ausgezeichnet und handelt von | |
| den Jungs-Gang-mäßigen Mitarbeitern des Vereins zum Schutz alleinlaufender | |
| Frauen. | |
| ## „Ich kann mich nicht erinnern“ | |
| Auffällig ist ebenfalls, dass ich mich auch sehr gut von den Texten | |
| unterhalten gefühlt habe, die ich nicht ganz so gut fand, und dass ich auch | |
| Texte toll fand, wie die Gedichte von Friederike Scheffler, an deren Inhalt | |
| ich mich gar nicht mehr erinnern kann – nur daran, dass der Sound etwas | |
| angenehm Beiläufiges hatte. | |
| Der diesjährige open mike hat viel Spaß gemacht, auch wenn vielen Texten | |
| die Dringlichkeit fehlte. Sehr gut gefallen hat mir außerdem, dass der open | |
| mike in diesem Jahr erstmals von einem von Teilnehmern [1][bestrittenen | |
| Blog] begleitet wurde, der auch angenehm hämische Kurzkritiken enthält. | |
| 12 Nov 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://openmikederblog.wordpress.com/ | |
| ## AUTOREN | |
| Detlef Kuhlbrodt | |
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