# taz.de -- Ein Buch zum Sterben: Überleben in der Möglichkeitsform | |
> Neuer Erfahrunshorizont: Jenny Erpenbeck begleitet in „Aller Tage Abend“ | |
> eine Frau durch fünf mögliche Todesschicksale. Aber nicht in epischer | |
> Prosa. | |
Bild: Das Leben und das Schicksal: kann überraschend sein. | |
„Aller Tage Abend“ – das ist im Grunde eher ein Gedicht- als ein | |
Romantitel. Noch weniger als bei Jenny Erpenbecks letztem Roman | |
„Heimsuchung“ lässt bei diesem neuen der Titel auf den Inhalt des Buchs | |
schließen, das er ziert. Vielmehr ist er in seiner Vieldeutigkeit bereits | |
eine Einladung zur Interpretation. Und so wie der Titel über den narrativen | |
Gehalt des Romans hinausweist auf etwas weit Allgemeingültigeres, so ist | |
auch die Prosa, die Jenny Erpenbeck schreibt, nicht wirklich eine epische | |
Prosa. | |
Als narrativ in der äußeren Anlage, doch poetisch in der Grundmotivation | |
ließe sich auch dieser neue Roman grob charakterisieren. Poetisch insofern, | |
als auch die geschichtlichen Ereignisse, die hier verhandelt werden – und | |
die 1967 geborene Autorin macht es wieder nicht unter einem Rundumschlag | |
über das gesamte letzte Jahrhundert –, nicht nur als sie selbst auftreten, | |
sondern in Erpenbecks überaus genau gesetzter Sprache gleichsam | |
zeichenhafte Gestalt annehmen. | |
„Aller Tage Abend“ ist auch eine Umschreibung für das Ende eines | |
menschlichen Daseins. Der erste Tod springt uns in diesem Buch fast | |
gewaltsam von der ersten Seite an. Ein Kind ist gestorben, ein Baby noch, | |
und „auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten | |
und sollte unter die Erde“. | |
Es ist die junge Mutter des Säuglings, aus deren Perspektive hier erzählt | |
wird. Sie imaginiert das Schulkind, das aus ihrem Baby hätte werden können, | |
das junge Mädchen, die junge, die alte Frau. Dann geht sie nach Hause und | |
setzt sich auf einen Schemel, um zu trauern. Ihr Mann verlässt derweil sie | |
und die galizische Stadt Brody (eine kleine Hommage an Joseph Roth), in der | |
sie bisher gelebt haben, und lässt sich von einem Schlepper zur Überfahrt | |
nach Amerika überreden. Die kinderlose junge Mutter aber, die noch von | |
einem weiteren Mann verraten werden wird, endet als Prostituierte in Wien. | |
Was für ein furchtbares Elend! Doch da überrascht der Roman mit einer | |
anderen möglichen Erzählvariante. Er spinnt die Geschichte an jener Stelle | |
neu fort, die alle beteiligten Schicksale entscheidend beeinflusst hat, und | |
macht den Tod des Säuglings rückwirkend ungeschehen. Denn: Was wäre | |
gewesen, wenn die Mutter, einer plötzlichen Eingebung folgend, eine | |
Handvoll Schnee genommen und das Kind damit eingerieben hätte? Vielleicht | |
hätte es überlebt, und alles wäre anders gekommen. Die Familie wäre nach | |
Wien gezogen – und die als Baby so wundersam gerettete älteste Tochter | |
hätte sich dann vielleicht mit achtzehn Jahren aus unglücklicher Liebe das | |
Leben genommen. | |
Es sind fünf Erzählungen über fünf mögliche Todesschicksale ein und | |
derselben Person, die zusammengenommen diesen Roman ergeben. Zum Schluss | |
wird er einen langen Lebenslauf nachvollzogen haben: das Leben einer Frau, | |
die, zu Beginn des Jahrhunderts in Galizien als Tochter einer Jüdin und | |
eines Christen geboren, in der DDR zur hoch geehrten Staatskünstlerin wird | |
und schließlich, als demente 91-Jährige vergessen, in einem Pflegeheim | |
stirbt. Sie hätte ihr Leben jedoch nicht dort beenden müssen, wenn sie | |
vorher, auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, unglücklich eine Treppe | |
hinuntergestürzt wäre. Oder: Sie wäre nie eine berühmte Schriftstellerin | |
geworden, wenn sie in den 40er Jahren in einem sowjetischen Straflager | |
gestorben wäre. | |
Das alles ist, zum einen, ein existenzphilosophisches Gedankenexperiment, | |
das der Annahme folgt, dass der einzelne Mensch zwar aufgrund individueller | |
Veranlagung geneigt sein mag, den einen Weg eher einzuschlagen als einen | |
anderen, dass aber ein entscheidender Moment oder eine Verkettung von | |
Zufällen in der Lage sind, ein Schicksal grundlegend zu verändern – oder zu | |
beenden. Und indem Jenny Erpenbeck erzählend den möglichen Todesschicksalen | |
nachspürt, die ein Menschenleben in sich trägt, demonstriert sie | |
gleichzeitig die Macht der Literatur. Denn durch ihr Erzählen wird jede | |
dieser Varianten wirklich. Zwischen den einzelnen „Büchern“, wie die fünf | |
Fortsetzungsmöglichkeiten bezeichnet werden, stehen überleitende | |
Abschnitte, Passagen im eigentlichen Wortsinne, die im Möglichkeitsmodus | |
des „Was wäre, wenn …“ gehalten sind. Und so folgt, obwohl in der | |
wirklichen Wirklichkeit immer nur eine Variante gelten kann, in Erpenbecks | |
literarischer Wirklichkeit eine mögliche Welt aus einer anderen. Und jeder | |
Tod birgt, rückblickend, die nicht vollzogene Möglichkeit eines früheren | |
Todes in sich. | |
Jenny Erpenbecks wachsame, im Erzähl-Augenblick so genau beobachtende Prosa | |
vergegenwärtigt jedes dieser literarisch möglichen Leben so intensiv, dass | |
sich niemals das Gefühl eines bloß spielerischen „Als ob“ einstellt. Jedes | |
mögliche Leben ist in dem Moment wahr, da es erzählt wird. Und dennoch: | |
Diese Form des literarischen Gedankenexperiments hält einen recht | |
eigenartigen Trost bereit, den das nichtmodale lineare Erzählen nicht | |
kennt. Beim Lesen tendiert man unweigerlich dazu, die tragischen Wendungen, | |
die jeweils zum Tod der Hauptfigur führen, als nicht so schwerwiegend | |
aufzufassen, da man früh begreift, dass es wohl auch nach dem gerade | |
aktuellen Tod noch ein weiteres Leben geben wird. | |
## Philosophie des Erzählens | |
Wenn es also eine der Aufgaben der Literatur sein sollte, einen geschützten | |
virtuellen Raum zu bieten, in dem Grenzerfahrungen gleichsam probeweise | |
emotional durchlebt werden können, so ist dies jedenfalls ein Roman, der | |
über weite Strecken darauf verzichtet, in dieser Rolle Eindruck zu machen. | |
Die emotive Kraft von Erpenbecks eindringlicher Sprache ist ungebrochen da, | |
wird jedoch zum Teil aufgehoben durch den dominierenden gedanklichen | |
Überbau. Es ist ein für einen Roman recht ungewöhnliches | |
Spannungsverhältnis zwischen Narration und Reflexion, in dem nicht der | |
philosophische Anteil aus dem Erzählten erwächst, sondern es eher umgekehrt | |
zu sein scheint. Auch dadurch rückt dieses Buch in die Nähe zur Lyrik. | |
Im Gegenzug scheint ihm manches zu fehlen, das es zweifelsfrei zum Roman | |
machen würde. Aber was? Eine Krise, eine Pointe, eine Erkenntnis? | |
Sicherlich eine todernst gemeinte individuelle Entwicklung im schicksalhaft | |
entscheidenden Sinne. Denn, wie gesagt, wo das Schicksal so oft im | |
Möglichkeitsmodus angeführt wird, verliert es an epischem Gewicht. | |
Das alles spricht nicht gegen dieses Buch; eigentlich eher im Gegenteil. | |
Wie ein Haus mit vielen aufeinanderfolgenden Geheimtüren, die normalerweise | |
undurchdringlich wären, öffnet das Buch immer neue narrative Räume. Sich | |
darin jeweils aufzuhalten ist durchaus anregend; das eigentliche Erlebnis | |
aber ist das Hindurchgehen. Dieser Roman transzendiert die Beschränkungen | |
einer einzelnen Existenz, einer einzelnen Erzählung, an die wir, im Leben | |
wie im Lesen, gewöhnt sind, und erweitert die Wahrnehmung des menschlichen | |
Daseins um den Möglichkeitsmodus. Die Figuren tragen, ganz nach | |
Erpenbeck’scher Art, keine Namen, denn sie sind keine Individuen, sondern | |
Schicksalsträger. | |
Der unbedingte literarische Existenzialismus, der Jenny Erpenbecks Werk | |
durchzieht, mag vielleicht nicht jedermanns Sache sein. In „Aller Tage | |
Abend“ aber hat er auf jeden Fall eine vollendete äußere Form gefunden. | |
Erzählen und Denken sind hier eins. Wie selten das ist. | |
Jenny Erpenbeck: „Aller Tage Abend“. Knaus Verlag, München 2012, 283 | |
Seiten, 19,99 Euro | |
11 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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